„Ich hab‘ das Patent – und damit basta!“
5. September 2019 von Thomas Hartung
Rund 800 Millionen Stück gehen hierzulande pro Jahr über die Theke, und so viele wie noch nie waren im Februar auch beim Neuwieder Currywurst-Festival am Start: mehr als 150 Wurstsorten und gut 300 Soßen – darunter gar eine asiatische Variante mit Erdnusssoße – wurden von den 44 Imbiss-Ständen offeriert. Den Fastfood-Klassiker selbst gab es auch in ungewöhnlichen Variationen, etwa als Lamm-, Wildschwein- und Heckrindwurst – oder vegan. Vor 70 Jahren, am 9. September 1949 wurde die Ur-Currywurst in Berlin erfunden.
Wenn andere Quellen auch vom 4. oder 7. September sprechen, ist das meteorologisch aber eher unwahrscheinlich: So lachte am 4. die Sonne über Berlin. Denn glaubt man Hertha Heuwer, hat es am Nachmittag des Erfindungstags junge Hunde geregnet. Sprich: die resolute Imbissbudenbesitzerin konnte nach dem Reinemachen von ihrem Stand an der Ecke Kant-/Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg in Ermangelung eines Schirms nicht unbeschadet weg.
Also nutzte sie die Zeit, mit den wenigen Zutaten zu experimentieren, die sie ihren Kunden als Beilage zu ihren Würsten anbieten konnte, da ihr der Senf ausgegangen war: Tomatenmark, Worcestershiresoße, Currypulver und andere, strengstens geheim gehaltene Gewürze. Heraus kam eine Soße, die Heuwer zehn Jahre später unter dem Namen „Chillup“, ein Kofferwort aus Chilli und Ketchup, beim Patentamt in München anmeldete (Nr. 721319) und deren Rezept sie 1999 leider mit ins Grab nahm.
Einen Tag später begann sie ihre Kreation über gebratene, kleingeschnittene Brühwürste zu gießen. Auf die Idee kam sie durch ihren Mann, der damals für die Amerikaner arbeitete. Die pflegten auf ihre riesigen T-Bone Steaks, aber auch ihre kleinen Hot Dogs Unmengen von Ketchup zu gießen, was offensichtlich gut schmeckte. Da T-Bone Steaks für die Nachkriegsberliner schlichtweg zu teuer waren, machte sie aus der Not eine Tugend, badete ihre Würste in der selbstgemachten Soße, und fertig war das „Steak des kleinen Mannes“, das sie mit Holzspießchen anbot.
„Currywurst“ oder „Bratwurst mit Curry“
Das zieht sofort die Frage nach sich, welche Wurst es denn sein musste. Beantwortet wird sie durch den Erfindungsreichtum eines Sachsen. Der Fleischer Max Brückner aus Johanngeorgenstadt experimentierte an einer Wurst ohne Darm, da Naturdarm damals knapp und teuer war. Normalerweise wird die Fleisch-Fettmasse, das Brät, in den Darm gespritzt und dann fest. Brückner nun fand eine Methode, das Brät direkt ins 80 Grad heiße Wasser aus einer Wurstbrätspritze zu geben und dabei in Form zu halten. Dieses Geheimnis brachte er mit nach Berlin, wo er sich 1949 unter dem Namen „Maximilian“ selbstständig machte, die Herstellung mit seinem ebenfalls sächsischen Partner Frank Friedrich perfektionierte und den Verkauf dieser Wurst als „Spandauer ohne Pelle“ startete. Heuwer zählte als enge Familienfreundin von Frank Friedrich zu den ersten Kunden von „Maximilian“.
Später wurde die Darmfrage ein Politikum: die Westberliner Currywurst wie überhaupt alle westdeutschen war überwiegend eine mit Pelle, die Ostberliner aus Mangel an Naturdärmen eine ohne – Scherzbolde deuten das als Hinweis auf die hüllenlose FKK-Kultur der DDR. Dem Kultimbiss „Konnopke“ auf der Schönhauser Allee, der 1960 die Ost-Wurst eingeführt hatte, widmete die Kultband „Silly“ um Tamara Danz 1983 den sexuell doppelbödigen Song „Heiße Würstchen“.
1967 wurden dann die schon 16 Jahre zuvor zwischen Behörden und Fleischerinnung abgesprochenen Anforderungen zur Beschaffenheit der Berliner Currywurst festgeschrieben: eine feine, nicht gepökelte und nicht geräucherte Bratwurst mittlerer Qualität mit einem maximalen Fremdwasserzusatz von fünf Prozent. Einfache Qualitäten oder andere Würste dürfen daher nicht als „Currywurst“ angeboten werden, sondern beispielsweise als „Bratwurst mit Curry“ oder „Dampfwurst mit Curry“.
Der Erfolg der Wurst ließ nicht so lange auf sich warten: Hertha Heuwers Imbiss zog in ein Ladenlokal mit Garküche in der Kaiser-Friedrich-Straße 59 in der Nähe des Busbahnhofs im Rotlichtviertel des Stuttgarter Platzes „Stutti“ um und entwickelte sich dort zu einer Institution: Sie hatte Tag und Nacht geöffnet und beschäftigte in ihren besten Zeiten bis zu 19 Verkäuferinnen. Die Firma Kraft bemühte sich um das Rezept und das Markenrecht, was Heuwer allerdings ablehnte. Seit 2003 befindet sich am ehemaligen Standort (heute: Kantstraße 101) eine Gedenktafel. Auf Anregung der Nichte Hertha Heuwers mixte Frank Friedrich aus diesem Anlass die Soße nach und produziert und vertreibt sie unter dem Namen „Chil-MAX“ bis heute.
„aus meiner Schlossküche“
Allerdings ist diese historische Version, der auch das nicht mehr existente Berliner Currywurstmuseum folgte, nicht die einzige. So beharrt der Erzähler Uwe Timm felsenfest darauf, seine erste Currywurst bereits 1947 in Hamburg gegessen zu haben. In seiner Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ erzählt er 1993, wie die Hamburgerin Lena Brücker zwei Jahre nach Kriegsende zufällig die herzhafte Würzwurst schuf. Als sie – in der einen Hand Curry, in der anderen Ketchup – auf einer Treppe stolperte, geschah das Wunder: Beide Zutaten vermengten sich zu jener Soße, die die Currywurst erst zur Currywurst macht. Von da an verkaufte die Romanheldin das Zufallsprodukt auf dem Hamburger Großneumarkt, und von dort aus begann dann die Brutzelspezialität ihren Siegeszug: mindestens zehn Minuten in 150 Grad heißem Öl im Ganzen gebraten und jede Minute gewendet.
Diese Version wurde auch als Comic, Hörspiel und 2008 als Film bekannt gemacht, von Gert Rüdiger in seinem Buch „Currywurst. Ein anderer Führer durch Berlin“ allerdings rundweg abgelehnt, nicht zuletzt mit Berufung auf Heuwers Zitat: „Ich hab‘ das Patent – und damit basta!“ Trotzdem hängt auch in Hamburg mittlerweile eine Gedenktafel für die Erfinderin. Der Streit flammte im November 2009 neu auf, als die „Curry Queen“ in der Erikastraße in Hamburg-Eppendorf von der Restaurantbibel Gault Millau zur besten Currywurst-Destination Deutschlands erklärt wurde. Berlin war sauer.
Eine dritte Version kam im Herbst 2018 auf. Danach könnte die Currywurst bereits 1946 im niedersächsischen Bückeburger Schloss an der Grenze zur Nordrhein-Westfalen NRW kreiert worden sein. Alexander Fürst zu Schaumburg-Lippe behauptete in BILD: „Die Currywurst kommt aus meiner Schlossküche.“ Der bereits verstorbene Sauerländer Küchenmeister Ludwig Dinslage soll die Currywurst im September 1946 erstmals im Speisesaal des Schlosses serviert haben – und zwar britischen Offizieren. Der Sohn des Küchenmeisters führt als Beleg auch einen Zeitungsbericht vom 12. September 1984 an, in dem Ludwig Dinslage rückblickend über seine neue Kreation von 1946 berichtet.
Diese Version wiederum könnte die Verbreitung der Wurst im niedersächsischen Wolfsburg erklären – sowohl im VW-Werk als auch dem VfL-Stadion. 6,3 Millionen Curry-Würste produzierten die Mitarbeiter der Werksfleischerei 2015 – übrigens nur mit Schweinebacke, -speck und -bauch von deutschen Bauern – und übertrafen damit die Autoproduktion bei weitem. Das Besondere: Die Wurst hat gerade 20 Prozent Fettanteil, enthält weder Phosphate, Glutamat oder Milcheiweiß, was sie schön bissfest macht, und wird bereits während der Herstellung mit Curry gewürzt. Die Normalversion ist 22 Zentimeter lang, die kürzere, die bei Heimspielen des VfL Wolfsburg und bei VW als Lady-Version offeriert wird, 12,5. Auch der Handel (Edeka) und Drittkunden wie Porsche in Leipzig bieten sie an.
„Curry mit Pommes Schranke“
Und diese Version könnte erst recht die Verbreitung im benachbarten NRW erklären, von der keine eigene überliefert ist. Im Ruhrpott gilt sie inzwischen als heimisches Produkt, besungen von Herbert Grönemeyer nach einem Text von Diether Krebs, -zigfach verspeist in den „Tatort“-Folgen mit Götz „Schimanski“ George und geadelt mit Wortschöpfungen wie „Schimanski-Teller“, „Mantaplatte“ oder „Assischale“. Bestellt wird mit der Ansage: Curry mit Pommes Schranke. Was so viel heißt wie Currywurst mit Pommes frites, Ketchup und Mayonnaise. Inzwischen spießen sie auch die neuen Kölner Kommissare Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk (Dietmar Bär) regelmäßig an der Deutzer Rheinbrücke auf die Plastikgabel.
Die Landes-SPD war übrigens in den Landtagswahlkampf 2012 mit dem Slogan „Currywurst ist NRW“ gestartet – gerade im Ruhrpott ein Symbol für besondere Volksnähe. Der Slogan ging als Sieger aus einem Wettbewerb hervor, zu dem die Partei im Internet aufgerufen hatte. In der Parteizentrale gab es damals Currywurst für alle. Gratis, versteht sich. Resultat: Hannelore Kraft gewann, und zwar haushoch. Auf dem politischen Parkett outete sich auch Alt-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gern als Currywurst-Liebhaber: Beim Staatsbesuch des US-Präsidenten George W. Bush im Mai 2002 standen Eintopf aus Flusskrebsen, Apfelstrudel und Currywurst auf dem Speiseplan.
Weiter südlich hat der Snack bis heute kaum Chancen. Nach den Frankfurter Würstchen im Rhein-Main-Gebiet als erstem Bollwerk wirkt der Weißwurst-Äquator als natürliche Grenze. Der Osten setzt die echten Thüringer Rostbratwürste und die Halberstädter Würstchen dagegen. Noch weiter südlich ist man aufgeschlossener: Inzwischen wird die Wurst sogar in Kundus, Afghanistan, serviert, zubereitet von einem ehemaligen Bundeswehr-Koch.
Chili statt Curry
Doch in Berlin genießt sie nach wie vor Kultstatus. Sogar im Luxushotel Adlon steht sie manchmal auf der Speisekarte – mit Champagner. In der Probierstube des Currywurstmuseums nahe dem Checkpoint Charlie wurde sie gar mit Blattgold kredenzt. Bei Berlinale-Partys gilt sie als „hippes“ Fingerfood, und beim Bundespresseball ist sie ein Nachmitternachtsritus.
Letzter Schrei der Wurstkultur: Chili statt Curry. Imbissbuden in Berlin, aber auch Hamburg, Frankfurt und im Ruhrpott haben es durch höllische Soßen zu deutschlandweiter Prominenz gebracht und werben damit, die schärfste Currywurst der Welt zu kredenzen. So auch Gerd Herzogs Imbiss „Die Currywurst“ in Wanne-Eickel, der zehn Schärfegrade anbietet, gemessen in der chemischen Einheit „Scoville“.
Während Tabasco mit 3000 Scoville zu Buche schlägt, brennt Herzogs Stufe neun mit 20.000 Scoville. Stufe zehn mit 310.000 Scoville oder gar zehn plus isst der Kunde auf eigenes Risiko – gegen Unterschrift. Bei den „German-Scoville-Masters“, die Herzog jährlich ausrichtet, verdrückte der Gewinner 2011 ein Stückchen Wurst, das in einem Esslöffel purer Höllensoße schwamm: 7,1 Millionen Scoville. Das taten zwar noch zwei andere Wagemutige, allein: Beim späteren Sieger wurde nach dem Verzehr der niedrigste Blutdruck gemessen.