„eine Gestalt, die nicht menschlich ist“
10. August 2019 von Thomas Hartung
„Er verrenkt seinen Körper mit der Kontrolle eines Fakirs – in eine Gestalt, die nicht menschlich ist. Sein Skelett scheint wie aus Gummi zu sein, unzerbrechlich; verblüffend. Die kleinen Hände, die dünnen länglichen Finger mit langen, rechteckig abgefeilten Nägeln, quetschen sich plötzlich ineinander. Die Augäpfel sehen aus wie nach innen gesaugt, und genau da sind auch die sehr eindringlichen Konturen seines Schädels. Man ist schockiert. Er ist ein Monster.“
Das gerade 1,57 Meter kleine „Monster“, das John Gilmore und Ron Kenner 1995 so beschrieben, hieß Charles Manson und wurde am 12. Oktober 1969 verhaftet, dem Geburtstag von Aleister Crowley, zu dessen Wiedergeburt er sich erklärt hatte. Acht Wochen zuvor hatten Mitglieder seiner Hippie-Kommune sieben Menschen bestialisch getötet und Amerika in Aufruhr versetzt. Im Laufe der Ermittlungen wurden zwei weitere Morde bekannt; bei bis zu sechs noch heute ungeklärten Morden gelten die Hippie-Killer weiter als verdächtig.
Der 34jährige, der damals schon fast ebenso lange im Gefängnis gesessen wie er in Freiheit verbracht hatte, wird sein Leben lang jede Tatbeteiligung oder auch nur Mitschuld leugnen und keinerlei Reue für die grausamen Morde seiner Anhänger zeigen. Drei junge Frauen, entlaufen aus bürgerlichen Familien, hatten sich, neben einem Mann, bei den Tötungen nach Folterungen durch Schüsse und Messerstiche hervorgetan, sie wohnten selig und arrogant lächelnd ihrem Prozess bei. Eine starb im Gefängnis, die anderen sitzen bis heute.
Geboren als uneheliches Kind in Cincinnati, Ohio, wächst Manson bei seiner Mutter auf, die bei seiner Geburt sechzehn Jahre alt war. Sein Vater war ihm nie bekannt, seine Mutter vermutlich Alkoholikerin. Auch sie verlässt ihren Sohn im Alter von fünf Jahren, weil sie für fünf Jahre ins Gefängnis muss, und versucht ihn danach – er verbrachte diese Jahre bei seinem Onkel und seiner Tante – vergeblich in Pflegefamilien abzuschieben.
Letztendlich landete der Junge auf Gerichtsanordnung in einem Internat, doch nach nur wenigen Wochen floh er und beginnt eine Karriere als Kleinkrimineller: mit Überfällen auf Tankstellen und Gemüseläden, Autodiebstählen und Scheckfälschungen, später als Zuhälter eines 16-jährigen Mädchens. Da war jemand am Werk, „der dem Leben mehr abtrotzen wollte, als es ihm zu geben bereit war. Und, dass es ihm egal war, ob andere dabei zu Schaden kamen“, meint Benjamin Maack im SPIEGEL.
die perfekte Ordnung errichten
Im März 1967 wurde Manson mit 35 Dollar Handgeld auf Bewährung entlassen und gründete in der Hippie-Hochburg San Francisco seine eigene Kommune „The Family“ mit einem Kern von rund 20 meist sehr jungen, schlanken, oft rothaarigen Mädchen, viele davon mit problematischem familiären Hintergrund. Etwa Linda Kasabian, 21, verheiratet, Mutter von zwei Kindern, von denen das zweite im Gefängnis zur Welt kam. Auch zur Family gehörte Nachwuchs, darunter Mansons 1968 geborener eigener Sohn Charles Jr. Der änderte seinen Namen zu Charley Jay White und nahm sich später das Leben. Dessen Sohn Jason Freeman wird 2018 zum Alleinerben seines Großvaters erklärt.
Die Mitglieder seiner „Familie“ sollten ausschließlich weiß sein, durften keine Brillen tragen und Manson in einer Mischung aus Gott, Vater und Liebhaber akzeptieren. Mit Hilfe von Drogen und Sex machte er sich seine Anhänger gefügig. Dianne Lake etwa berichtet in ihrer Autobiographie, dass sie sich als 14jährige bei Manson „wie eine echte Frau“ fühlen konnte und er dafür sorgte, wie Lake es in eigenen Worten beschreibt, dass sie „schnurrte“ wie ein Kätzchen. Aber Manson propagierte in langen Predigten auch, dass Frauen lediglich die Dienerinnen des Mannes seien.
Außerdem verkündete er, dass die „schwarze Rasse“ die „weiße“ auslöschen wolle, wodurch er von dem Beatles-Song „Helter Skelter“ („Holterdipolter“, „Tohuwabohu“) inspiriert worden sein soll. Die vier Pilzköpfe hielt er wahlweise für die Apokalyptischen Reiter – oder für Engel. Da aber nach dem Rassenkrieg die Schwarzen unfähig wären, eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen, käme die Reihe an seine Familie: Sie sollte die perfekte Ordnung errichten – an der Spitze Charles Manson.
Manson soll aber nicht nur Charisma, sondern auch den Willen gehabt haben, eine musikalische Berühmtheit zu werden: Ein Mitinsasse hatte ihm im Gefängnis das Gitarrespielen beigebracht. Anfangs als Straßenmusiker und zur zweifelhaften Erbauung seiner Kommune aktiv, machte er die Bekanntschaft von „Beach Boy“ Dennis Wilson, schrieb mit ihm Songs und wohnte zeitweise samt Family auf dessen Anwesen. Das Lied „Cease to Exist“ schaffte es 1969 stark bearbeitet als „Never Learn Not to Love“ als B-Seite auf eine Beach-Boys-Single.
Neil Young soll begeistert von ihm gewesen sein: Diese „wirklich grandiose, zugleich völlig irre Figur“ mache „Musik, wie ich sie noch niemals gehört hatte“. Produzent Terry Melcher wollte außer der B-Seite aber nichts weiter veröffentlichen. Freunde berichten von Sexorgien und geklauten Kreditkarten. Nach wenigen Wochen wurde die Kommune bei Wilson rausgeschmissen und bezog Quartier auf der Spahn Movie Ranch, auf der „Bonanza“ gedreht worden war, später auf der Barker Ranch im Death-Valley-Nationalpark.
Als weder seine Kriegsprophezeiung wahr noch er selbst ein berühmter Rockstar wird, sandte Manson seine Anhänger aus, um „zu zeigen, wie man Weiße tötet“, und dem Rassenkrieg nachzuhelfen. Der Plan: einige Morde an reichen Weißen in Los Angeles, die die Gesellschaft den Schwarzen anlasten würde. Am Abend des 9. August 1969 schickte er mit Linda Kasabian als Fahrerin Susan Atkins, die bei einem Beach-Boy Babysitterin war, Patricia Krenwinkel und den jungen Texaner Charles Watson in Richtung Los Angeles zum Haus von Musikproduzent Melcher.
Was Manson nicht wusste: darin lebten inzwischen die junge Schauspielerin Sharon Tate und ihr Ehemann, der polnische Regisseur Roman Polanski, der mit seinem Spielfilm „Tanz der Vampire“ kurz zuvor Weltberühmtheit erlangt hatte. Sharon spielte darin die weibliche Hauptrolle und war nun hochschwanger, Polanski weilte zu Dreharbeiten in London. Außerdem im Haus: Tates Ex-Verlobter Jay Sebring, Hollywood-Stylist und Friseur von Steve McQueen, Abigail Folger, Erbin eines Kaffee-Imperiums, und deren Partner Voitek Frykowski, ein Freund Polanskis, sowie ein unbeteiligter Fahrer, der sofort erschossen wurde.
Was in den folgenden Minuten geschah, konnte nie eindeutig geklärt werden. Sicher ist jedoch, dass Sebring, Frykowski, Folger und Sharon Tate durch insgesamt über hundert Messerstiche starben – Atkins bezichtigte sich Jahrzehnte danach, 19 mal auf die Schwangere eingestochen und mit ihrem Blut „Pig“, Schwein, auf die weiße Eingangstür geschrieben zu haben.
Am Abend darauf fuhr Manson selbst mit Krenwinkel, Watson und der blutjungen Leslie Van Houten zum Anwesen des italienischen Supermarktbesitzers Leno LaBianca und dessen Frau, fesselte beide, ging dann nach draußen und überließ das schmutzige Geschäft den anderen, die wiederum mit Blut „Death to pigs“ und weitere Black Panther-Kraftausdrücke an die Wände schrieben. Die Reichen und Schönen verließen fluchtartig und in Scharen ihre Anwesen, die Polizei stand vor einem Rätsel.
Zwei Anschläge überlebt
Die ersten Festnahmen von Manson und mehreren Family-Mitgliedern wegen des Verdachts auf Autodiebstahl und, später, Brandstiftung im Herbst passierten eher zufällig. Erst als sich Atkins im Gefängnis verplapperte, merkten die Beamten, wer ihnen da ins Netz gegangen war. Am 24. Juli 1970 begann der Tate-LaBianca-Mordprozess gegen Manson, Atkins, Krenwinkel und Van Houten in Los Angeles. Kasabian war als Kronzeugin immun, Watson erhielt einen separaten Prozess. Es wurde das bis dahin längste und teuerste sowie medial am stärksten beachtete Strafverfahren der US-Geschichte, die Geschworenen mussten 225 Tage isoliert verbringen.
Der Prozess glich zum Teil einem bizarren Schauspiel: Die Frauen flirteten laut dem Gerichtsreporter des SPIEGEL mit „allem im Gerichtssaal, was nach Mann aussieht“ und befolgten daneben alle Anweisungen Mansons. Auf seinen Augenaufschlag hin standen sie während der Verhandlung auf, um wie im Wahn zu kreischen; als Manson sich den Schädel rasierte, taten sie es ihm gleich, und nachdem er sich ein Kreuz auf die Stirn geritzt hatte, fanden sich kurz darauf auch bei den Frauen gekreuzte Narben auf der Stirn. Manson erweiterte sein Kreuz wenig später zu einem Hakenkreuz. Gegen Ende des Verfahrens hatten die Richter keine Zweifel mehr daran, dass Charles Manson der Urheber der grausamen Mordtaten war, obwohl er daran nachweislich nicht teilgenommen hatte. Er wurde ebenso wie die jungen Frauen und Charles Watson zum Tode in der Gaskammer verurteilt.
Doch die Verurteilten hatten Glück: Im Februar 1972 erklärte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Todesstrafe für verfassungswidrig, entsprechende Urteile wurden in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Gnadengesuche wurden unzählige Male abgelehnt. In der Haft wandten sich sämtliche Anhänger Mansons von ihrem einstigen Guru ab, den Hans Schmid auf Telepolis „Elvis des Massenmords“ nannte. Atkins und Watson wurden so genannte Wiedergeborene Christen und widmeten ihr Leben dem Gottesdienst.
Auf Manson wurde 1973 mit Strychnin ein Giftanschlag verübt und 1984 ein Brandanschlag; er überlebte beide. Bis zuletzt erhielt er bis zu 60.000 Briefe, E-Mails und Autogrammanfragen jährlich und durfte zudem nach draußen telefonieren, was er weidlich nutzte, um seinen zahlreichen Anhängern zu predigen. 2014 erhielt er eine Heiratsgenehmigung für eine 26-jährige, die er verfallen ließ: seine Verlobte sei nur darauf aus, nach seinem Tod in den Besitz seines Leichnams zu kommen, um diesen auszustellen und damit Geld zu verdienen. Manson selbst starb 83jährig als Strafgefangener B-33920 im November 2017 nach 48 Jahren Haft im kalifornischen Corcoran State Prison an Darmkrebs.
„wie krank ist die Welt da draußen“
Seine Verklärung begann bereits Anfang 1970, als Teile der Underground-Presse in Manson allen Ernstes eine Jesusfigur erkannten: Die Zeitung Tuesday’s Child wählte den Kultführer zum „Man of the Year“. „Allein durch die Beatles-Referenz schreibt sich Manson gewissermaßen als Pop-Figur in eine Tradition ein“, sagte der Literaturwissenschaftler Niels Penke im DLF. Immerhin drei Alben hatte Manson bei Indie-Labeln selbst veröffentlicht, darunter Jam-Sessions mit seinen Anhängern.
Seitdem wollen Künstler am Mythos Manson verdienen. Der Schockrocker und ehemalige Musikjournalist Brian Hugh Warner trieb die Ehrerbietung auf die Spitze, als er sich nach dem Mörder und einer anderen, liebenswürdigeren Ikone benannte: Marilyn Manson, was die Unzertrennlichkeit von Gut und Böse symbolisieren soll. Er veröffentlichte Mansons „My Monkey“ auf seinem Album „Portrait of an American Family“.
Auch „System of a Down“ zeigten sich von Manson inspiriert, etwa mit dem Song „ATWA“ auf dem Album „Toxicity“. Ihr Gitarrist Daron Malakian zeigte sich auf Facebook „sehr traurig“ über den Tod Mansons, von dem er stark beeinflusst worden sei, und rechtfertigte sich zugleich: „Mein Interesse galt der Art und Weise, wie er seine Gedanken und Ansichten über die Gesellschaft artikulierte, nicht den Morden.“ Auch Guns N’ Roses kassierten mit dem Manson-Mythos ab: Die Rocker veröffentlichten 1993 auf ihrem Album „The Spaghetti Incident?“ den Manson-Song „Look at Your Game Girl“. Lead-Sänger Axl Rose trug schon 1991/92 auf der Guns-N’-Roses-Welttournee ein Shirt mit dem Porträt von Charles.
Die Lemonheads und Devendra Banhart coverten Songs von ihm, und auf andere Art gar U2: Sie coverten „Helter Skelter“ auf „Rattle and hum“; was Sänger Bono so kommentierte: „Diesen Song hat Charles Manson von den Beatles geklaut. Wir klauen ihn zurück.“ Zurückgeklaut hat ihn jüngst gar Quentin Tarantino: Im Los Angeles der 1960er Jahre versuchen ein abgehalfterter TV-Westernstar und dessen Stuntdouble in der Filmbranche Fuß zu fassen, während die Morde der Anhänger von Sektenführer Charles Manson die Stadt erschüttern, so die Story von „Once Upon a Time in Hollywood“ (engl. „Es war einmal in Hollywood“). In ihrer Kritik bei Spiegel Online sieht Hannah Pilarczyk in dem Film einen „großen, sinnentleerten Spaß“, da sie meint, dass der Film so pointenarm sei, merke man aber die längste Zeit nicht, weil er so pointenreich daherkäme.
„Wir töten die Schweine, die uns im Fernsehen das Töten beigebracht haben.“ In dieser Kulturkritik eines Manson-Mädchens, als sie bereits vor dem Polanski-Anwesen am Cielo Drive stehen, sei „die Saat für Tarantinos jüngsten Revisionismus gelegt“, meint Andreas Busch im Tagesspiegel. Er meint , dass der Film Sharon Tate ein Denkmal setzt „Es geht vielmehr um die symbolische Ermordung jenes Kinos, mit dem Quentin Tarantino aufgewachsen ist.“
Mansons Konterfei ist daneben auf diversen Merchandising-Artikeln wie T-Shirts, Tassen und Poster zu sehen, deren Verkauf allein im Zeitraum von 1970 bis 1986 Einnahmen von mehreren Millionen US-Dollar erzeugte, an denen er mit verdiente. Über 30 Bücher und diverse Filme entstanden, daneben Musicals und Zeichentrickadaptionen. „Es kommen Mädchen zu mir in den Knast“, sagte er 1988, „die haben ihr Baby auf dem Arm und sagen: ‚Charlie, ich würde alles für dich tun! Ich erziehe mein Baby in deinem Namen!‘ Solche Besuche machen mir Spaß, und ich weiß, dass das krank ist; ich weiß, dass ich krank bin. Aber wie krank ist die Welt da draußen?“