„Indonesien besteht aus Inseln“
13. Oktober 2019 von Thomas Hartung
Seine rhetorischen Entgleisungen waren legendär, vor allem die beim 44. Liebesmahl des Ostasiatischen Vereins im Hamburger Atlantic-Hotel am 13. März 1964. „Herr Schah, Sie verstehen nichts von Wirtschaft“, verlautbarte er da in Richtung Iran, oder „Indonesien besteht aus Inseln, die liegen teils nördlich, teils südlich vom Äquator, und dazwischen ist eine Menge Wasser“, erteilte er Geographie-Unterricht. Seine legendärste, die Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“ bei einem Staatsbesuch in Liberia, war dagegen eine Erfindung des SPIEGEL. Die Rede ist von Bundespräsident Heinrich Lübke, der 14. Oktober 1894 im sauerländischen Enkhausen geboren wurde.
Belegt ist, dass Lübke in Tananarive, der Hauptstadt Madagaskars, den Präsidenten Philibert Tsiranana und seine Frau Justine mit den Worten „Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Tananarive“ grüßte. Die echten und vermeintlichen Fehlleistungen begeisterten die deutsche Kabarett-Szene. Aufgrund des dem Bundespräsidenten entgegenschlagenden Spotts entschied der Bayerische Rundfunk, die Vorstellungen der Münchner Lach- und Schießgesellschaft nicht weiterhin live zu übertragen. Ausschnitte von Lübke-Reden wurden von der Zeitschrift „pardon“ auf der erfolgreichen Langspielplatte „Heinrich Lübke redet für Deutschland“ verarbeitet.
Dass er gern von den für ihn vorbereiteten Manuskripten abwich und improvisierte, war sowohl bekannt als auch Kündigungsgrund für manche Redenschreiber. An die Presse verteilt wurden immer nur die Textentwürfe, nie die tatsächlich gehaltenen Reden. Als weiterer Grund aber ist heute auch seine Krankheit anerkannt: Lübke litt schon seit den frühen 1960er Jahren an schweren Durchblutungsstörungen des Gehirns, die auf Arterienverkalkung beruhten und immer unerbittlicher voran schritten. Am Ende seiner Präsidentschaft war Heinrich Lübke ein schwer kranker Mann.
„Verantwortung für andere tragen“
Der Sohn eines Schumachers, der sich nebenberuflich landwirtschaftlich betätigte, war das zweitjüngste von acht Geschwistern – „kleine Verhältnisse“, auf die Lübke zeitlebens rekurrierte. In der Schule half ihm der katholische Ortsgeistliche. Sein Abitur 1913 am Gymnasium Petrinum in Brilon ließ keine sonderlichen Begabungen erkennen – „genügend“ hieß es in den meisten Fächern. Er begann ein Studium der Geodäsie, Landwirtschaft und Kulturbautechnik an der Landwirtschaftlichen Akademie in Bonn und meldete sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger.
Überliefert ist, dass er keiner Gefahr aus dem Weg ging, was seine Kameraden beeindruckte, und mit einer Gasvergiftung im Lazarett lag. Ausgezeichnet mit dem EK I und II, war sein letzter Dienstgrad 1918 Leutnant der Reserve. Er war Zeuge des Sterbens bei Langemarck und sagte später, er habe gelernt, „Verantwortung für Leben und Gesundheit anderer zu tragen“. Seine Treffen mit den alten Kameraden schilderte er als fröhliche Veranstaltungen.
Nach Kriegsende nahm er sein Studium wieder auf, beendete es 1921 als Vermessungs- und Kulturingenieur und begann im selben Jahr Nationalökonomie in Münster und Berlin zu studieren. Seit 1923 war Lübke in Berlin im kleinbäuerlichen Organisations- und Siedlungswesen tätig und 1925 an der Gründung des Reichsverbandes landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe beteiligt, den er als Geschäftsführer betreute. Daraus entstand, durch Zusammenschluss mit einer Reihe anderer mittelbäuerlicher Verbände, 1927 die Deutsche Bauernschaft. Neben deren Geschäftsführung leitete Lübke die im selben Jahr gegründete Siedlungsgesellschaft Bauernland. Durch weitere Mitgliedschaften in Vorständen und Aufsichtsräten landwirtschaftlicher Organisationen und Kreditinstitute wurde der vielbeschäftigte Verbandspolitiker zu einem erfolgreichen Agrar- und Siedlungsexperten. Die großbäuerlichen Interessenvertreter bekämpften ihn als „Bodenreformer“ und „roten Lübke“.
1929 heiratete er die Lehrerin Wilhelmine Keuthen, die Ehe blieb kinderlos. Im April 1932 in den Preußischen Landtag gewählt (Zentrum), und am 5. März 1933 wiedergewählt, verlor Lübke nach Hitlers Machtübernahme alle Ämter und wurde 1934 unter dem Vorwand der „Korruption“ verhaftet. Nach 20 Monaten kommt er frei und erholt sich, zunächst arbeitslos, bei Flensburg auf dem Bauernhof seines älteren Bruders Friedrich Wilhelm Lübke, des späteren Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins. Nach Wehrübungen zum Hauptmann d.R. befördert, wurde er nicht zum Kriegsdienst einberufen, sondern dienstverpflichtet und als Vermessungsingenieur dem Ingenieurbüro Walter Schlempp in Berlin zugewiesen.
Das unterstand als Baugruppe der Verfügung des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Albert Speer, war mit dem Bau von zivilen und militärischen Anlagen in Peenemünde, später in Sachsen-Anhalt beschäftigt und errichtete auch Unterkünfte für ausländische Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Lübkes Unterschrift findet sich nicht nur unter Papieren, die ihn als Leiter der Baugruppe Schlempp ausweisen, der in eigener Regie ein KZ-Häftlings-Kommando dirigierte, sondern auch unter Bauzeichnungen eines Lagers – ein weiterer Grund für die vorzeitige Aufgabe seines Amts. Heute weiß man, dass die entsprechenden Pausen für jede Art von Baracke geeignet gewesen wären.
„Sie sind ganz einfach kleinkariert“
Seit 1945 CDU-Mitglied und bis 1946 mit einem eigenen Baubüro in Höxter selbständig, gehörte er von Anbeginn dem Landtag von Nordrhein-Westfalen an und amtierte als Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Von 1949 bis 1959 war er mit einer Unterbrechung CDU-Bundestagsabgeordneter und wurde am 20. Oktober 1953 als Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in die Adenauer-Regierung berufen.
Auf der Grundlage jährlich entwickelter „Grüner Pläne“ gelang es ihm seit 1955, die Landwirtschaft zu modernisieren und ihren strukturellen Anpassungsprozess ohne soziale Erschütterungen vorzunehmen. Sein Mitarbeiterstab beschrieb ihn als tüchtigen Experten, gründlich, gewissenhaft, korrekt, allerdings ohne jegliches rhetorisches Talent. Wo andere unterhielten, da wollte Lübke belehren, was eine Datenflut nach sich zog, die kein Zuhörer nachvollziehen konnte.
Nach dem überraschenden Rückzug Adenauers von der Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten Anfang Juni 1959 wurde Lübke am 15. Juni in Bonn als „Ersatzmann“ der Unionsparteien nominiert und am 1. Juli 1959 als Nachfolger von Theodor Heuss gewählt. Er setzte sich im zweiten Wahlgang gegen Carlo Schmid von der SPD und Max Becker von der FDP durch.
Die Presse verfuhr ungnädig mit ihm, lobte allerdings seine Frau Wilhelmine dafür, dass sie sechs Fremdsprachen beherrschte, und ein Staatssekretär namens Sonnemann gab zu Protokoll, Lübke sei doch eine gute Wahl für Frauen, „weil er in einer unauffälligen Eleganz immer wie aus dem Ei gepellt“ daherkomme. Er war bis zur Wahl von Christian Wulff 2010 der einzige römisch-katholische Bundespräsident.
„Viel intellektuell Neues präsentierte er nicht, er war stramm antikommunistisch, als alter Reserveoffizier nah bei der Bundeswehr und mochte die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen“, bilanzierte Philip Cassier in der WELT. Lübke glaubte unbeirrbar an die Wiedervereinigung des getrennten Deutschland. 1963 proklamierte er den 17. Juni, den „Tag der deutschen Einheit“, zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“.
Zudem verstand er sich in der Rolle des „nationalen Hüters historischer Bildung“. Er gehörte zu den Bundespräsidenten, die nicht alle Gesetze des Bundestags unterzeichneten, so das Gesetz gegen den Betriebs- und Belegschaftshandel, da es seiner Ansicht nach gegen die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Berufswahl und der Berufsausbildung verstoße.
Lübke machte von Anfang an die Entwicklungshilfe zu einem Hauptanliegen seiner Präsidentschaft. Schon in seiner Antrittsrede von 1959 konstatierte er die dringende Notwendigkeit internationaler Hilfe und Verantwortlichkeit in Anbetracht weltweiten Hungers. 1962 initiierte er die Gründung der Welthungerhilfe als erster deutscher konfessionell nicht gebundener Entwicklungshilfeorganisation.
Den Kampf gegen „Hunger, Krankheit und Unwissenheit“ sah er als größte Herausforderung überhaupt an. So bereiste er 37-mal das Ausland, Afrika zumal, war da aber gezwungen, Englisch zu sprechen, was furchtbar schiefging, und wurde den Habitus des weißen Mannes, der armen Schwarzen milde Gaben zukommen ließ, nie ganz los. In Niamey, der Hauptstadt des Niger, ist eine Hauptstraße nach ihm benannt.
Seine Wiederwahl war wegen seines Gesundheitszustands, der inzwischen auffällig und selbst in der CDU diskutiert wurde, umstritten. 1968 begann seine Demontage. Schon 1964 und 1966 hatte der oberste SED-Propagandist Albert Norden versucht, eine öffentliche Kampagne gegen Lübke vom Zaun zu brechen mit Vorwürfen, der Bundespräsident sei im Zweiten Weltkrieg ein Günstling der Gestapo gewesen und habe an der Errichtung von KZ mitgewirkt. Die Lage änderte sich erst, als die auflagenstärkste Illustrierte Europas Stern Anfang 1968 ein „Gutachten“ eines US-Schriftexperten veröffentlichte, der einige stasiverfälschte Dokumente für echt erklärte.
Stern-Chef Henri Nannen ließ nun eine Reihe von Artikeln und selbst verfasste Editorials folgen, in denen er die Tonlage verschärfte, und bemitleidete den Bundespräsidenten schließlich für die „bedauernswerte Figur, die Sie in Ihrem Amt bieten. Sie sind ganz einfach kleinkariert.“ Die Süddeutsche diagnostizierte der Bundesrepublik ein „Leiden an Lübke“, die Neue Rhein-Zeitung legte ihm den Rücktritt nahe. Der SPIEGEL attackierte Lübke nicht ganz so scharf, doch auch Rudolf Augstein konstatierte auf seiner Titelseite die „Präsidenten-Krise“ und zeigte bitter-böse Lübke-Karikaturen.
Schließlich entschied sich Lübke für eine Fernsehansprache – und tat sich damit als ungelenker Redner keinen Gefallen, so dass seine Argumentation in der Öffentlichkeit als teilweises Schuldeingeständnis ankam. Ende März 1968 versetzte ein SPD-Bundestagsabgeordneter dem Präsidenten den finalen Schlag: Franz Marx weigerte sich, das ihm verliehene Bundesverdienstkreuz anzunehmen. Er hatte im Dritten Reich im KZ Dachau gelitten und gab als Begründung für das Ausschlagen des Ordens an, Lübkes „Beteiligung an KZ-Bauten“ sei nicht geklärt.
„redlich und gewissenhaft“
Mit der Begründung, das Amt aus dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten, kündigte Lübke am 14. Oktober 1968 seinen Amtsverzicht zum 30. Juni 1969 an, sodass die Wahl eines Nachfolgers zweieinhalb Monate früher als turnusmäßig erforderlich bereits im März 1969 stattfinden konnte. Er wich dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann, die Große Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger wich dann dem sozialliberalen Bündnis unter Willy Brandt.
Heinrich Lübke hat zweimal eine Genehmigung zur Strafverfolgung wegen Verunglimpfung des Bundespräsidenten erteilt. Ein 45jähriger Redner der „Deutschen Reichspartei“ hatte 1960 vor fünfzig Zuhörern erklärt, der Bundespräsident sei gewählt worden „wie der Vorsitzende eines Kaninchenzucht-Vereins“, und die rhetorische Frage angeschlossen, welcher Charakter dazu gehöre, ein derart entwertetes Amt anzunehmen. Die Strafkammer Dortmund sprach den Angeklagten frei. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil aufgehoben, weil Kritik zwar hart sein dürfe, aber vor herabsetzenden Äußerungen über den Bundespräsidenten haltzumachen habe. Im zweiten Fall, gegen den Simplicissimus wegen einer Lübke-Karikatur mit Ulbricht-Spitzbart, lehnte das zuständige Landgericht München die Eröffnung des Verfahrens ab.
Ihm verblieb keine Aufgabe, und neue Pflichten konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr übernehmen. Seine Parteifreunde ignorierten ihn, wenn sie ihn nicht gar mieden; Heinemann hielt jedoch Kontakt zu ihm. Neben der fortschreitenden Zerebralsklerose wurde 1972 auch ein weit fortgeschrittener Magenkrebs festgestellt. Am 6. April 1972 starb Lübke im Alter von 77 Jahren in Bonn und wurde in seinem Heimatdorf begraben. Seine Frau überlebte ihn um neun Jahre.
Lübke habe andere Bevölkerungskreise als sein Amtsvorgänger Heuss angesprochen und das Amt des Staatsoberhaupts „redlich und gewissenhaft, aber ohne Glanz und Ausstrahlung“ geführt, meint sein Biograph Rudolf Morsey, der den Begriff des „vergessenen Präsidenten“ prägte. Die „Modernität“ des mehrfachen Ehrenbürgers und Ehrendoktors sei erst im Nachhinein deutlich geworden. Dazu gehörten seine hohe Einschätzung der Wissenschaft und sein frühes Eintreten zugunsten von Umweltschutz und Entwicklungshilfe, aber auch sein Bekenntnis zum „einfachen Leben“ in überschaubaren Verhältnissen. Das Gerücht, Lübke sei ein „KZ-Baumeister“ gewesen, hält sich dank der einst massiven SED-Propaganda zum Teil bis heute.