„als Kläranlage gewissermaßen“
29. Oktober 2019 von Thomas Hartung
Es war kein so großer Aufreger wie erwartet: Marta Rafael, Witwe des Journalisten Karl Eduard von Schnitzler, gestattete dem vormaligen FDJ-Kampfblatt Junge Welt, unter dem Titel der einstigen Fernsehsendung „die Tradition aufklärerischer Medienkritik im Geiste ihres Mannes fortzusetzen“. Die sozialistische Tageszeitung stellt seit August zunächst monatlich einen Video- und Audio-Podcast mit medienkritischen Inhalten online bereit; später soll das Format wöchentlich laufen. „In Berlin ersteht die DDR wieder auf“, titelte Bild prompt.
„Der Schwarze Kanal“, den das DDR-Fernsehen ab 21. März 1960 jeden Abend nach dem Montagsfilm 1519 Mal für rund 20 Minuten ausstrahlte, wurde zum Inbegriff der SED-Propaganda. Er zeigte Sendeausschnitte aus dem Westfernsehen, die Schnitzler anschließend sarkastisch im Sinne des DDR-Regimes kommentierte: für die Junge Welt „Aufklärung über die westliche antikommunistische Propaganda“. Schnitzlers erste Worte waren:
„Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müßte, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen.“
Die Sendung war über fast dreißig Jahre hinweg nicht nur fester Bestandteil des ostdeutschen Fernsehprogramms, sondern ein agitatorisches und politisches Instrument der SED-Machthaber. Der Name Schnitzlers, der die Sendung 1322 Mal moderierte, und der Titel „Der Schwarz Kanal“ sind untrennbar miteinander verbunden, ebenso wie mit der gesamtdeutschen Geschichte, denn die wöchentlich ausgestrahlte Sendung hatte mindestens ebenso viele Zuschauer im Westen (wenn nicht noch mehr) als im eigenen Land. Am 30. Oktober 1989 verabschiedete er sich:
„Ich werde meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen. Als Waffe im Klassenkampf (…) Auf Wiederschauen“.
Die Sendung war schon einmal im Internet lebendig geworden: Zum 40. Jahrestag des Mauerbaus hatte das Deutsche Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg Sendemanuskripte und Unterlagen unter www.sk.dra.de zugänglich gemacht, wo sie bis heute abrufbar sind. Der Berliner Historiker Clemens Escher hält die aktuelle Wiederbelebung für wenig originell. Das „geraunt Verschwörerische“ von Moderator Schnitzler habe dessen Sendung überlebt – „ebenso das Misstrauen gegen westliche Medien und das Establishment“, so Escher in der NWZ. „Der Antikapitalismus ging und geht dabei eine Melange ein mit dem als Antizionismus nur notdürftig getarnten Antisemitismus.“ Um diese Hintergründe solle jeder wissen, der den „Schwarzen Kanal“ reanimiere.
„Entlarvung der politischen Manipulation“
Die Sendung galt als Antwort auf die zwischen 1958 und 1960 quartalsweise ausgestrahlte ARD-Sendung „Die rote Optik“, in der der Westberliner NDR-Studioleiter Thilo Koch anhand von Sendungsausschnitten die DDR-Fernsehpropaganda analysierte: Der Titel war eine Anspielung darauf. Später galt das zwischen 1969 und 1988 ausgestrahlte ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal wegen seiner ähnlich polarisierenden Wirkung als Pendant. Intention der Sendung war, Multiplikatoren wie Offizieren der NVA, denen der Konsum westlicher Fernsehsendungen untersagt war, Lehrern, Journalisten und interessierten Bürgern ausgewählte westliche Nachrichten nebst ideologischer Interpretation zu präsentieren: Statt Zahn um Zahn Propaganda um Propaganda.
Torsten Hampel spricht im Tagesspiegel von wortmächtigen Monologen, „unterfüttert mit einem historischen Wissen, von Preußen, Kaiserreich, den beiden Weltkriegen und Umständen der beiden deutschen Staatsgründungen – überhaupt einer Informiertheit über nahezu alles und jeden –, das aus dem heutigen Fernsehen nahezu unbekannt ist. Eingewebt aber auch in eine Einschüchterung: Wer so viel weiß, muss recht haben.“ So sollte die „systematische Enthüllung des menschen- und fortschrittsfeindlichen Charakters der imperialistischen Klassenherrschaft” durch eine „scheinbare Entlarvung der politischen Manipulation seitens des Westfernsehens” geschehen.
Nach außen hin begründete Schnitzler die aggressive Form der Auseinandersetzung mit dem sich „objektiv verändernden Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus” und der „subjektiv organisierten psychologischen Kriegsführung des Imperialismus“. Allein diese Begründung entblößt sich bei genauerem Hinsehen als eine Anti-Begründung. Denn wenn sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus entwickelt hätte, wäre wohl kaum eine solch propagandistische Form der medialen Nachrichtenaufbereitung vonnöten gewesen.
Die beeinflussende Wirkung seiner Hetztiraden gegen den Westen war Schnitzler nicht nur bewusst, sondern sogar Ziel seiner Agitation. Noch 1985 erklärte er anlässlich der Verleihung des Ehrentitels „Held der Arbeit“, „der Adressat des ‚Schwarzen Kanals‘ ist der DDR-Bürger. Und die Zuschauer sind Multiplikatoren, die das Gesehene und Gehörte auf vielfältige Weise weitertragen – in Schulen und Versammlungen, in die Zirkel des Partei- und FDJ-Lehrjahres, die es nutzen in persönlichen Gesprächen“.
Wie dieser Nutzen auszusehen hatte, war eindeutig: Die Bürger der DDR sollten gegen den Westen aufgestachelt und aggressiv gestimmt werden. Schnitzler betrachtete, das schrieb er später auf, „den Journalismus als ein Mittel der Machtausübung“. Ein Schelm, der heute Arges dabei denkt… Es verwundert nicht, dass bei Facebook seit geraumer Zeit sein Bild mit der Überschrift „Meckert nicht, ich habe euch jeden Montag gewarnt“ kursiert und auf Zustimmung stößt.
Die Sendung wurde zeitweise, vor allem Mitte der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre, in einigen sozialen Bereichen als eine Art Pflichtveranstaltung betrachtet, so im Politunterricht bei der Armee oder, lehrerabhängig, im Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule. Vor allem im DDR-Bezirk Dresden (umgangssprachlich „Tal der Ahnungslosen“) bot „Der schwarze Kanal“ zwar die Möglichkeit, Ausschnitte aus Nachrichten von ARD und ZDF zu sehen, doch taugten die natürlich nicht als neutrale Informationsquelle, da sie stark gekürzt und aus dem Zusammenhang gerissen waren. Das Deutsche Rundfunkarchiv wirft Schnitzler vor, durch sinnentstellende Kürzungen von Szenen und speziell geordnete Abfolgen von Ausschnitten Aussagen manipuliert zu haben.
„verschmilzt die Privatperson mit dem Moderator“
Damit ist klar, dass Sendung und Moderator auch politisch nicht zu trennen waren: „Niemals wird im demokratischen Rundfunk ein Volksfeind, ein Friedensfeind Gelegenheit haben, die Redefreiheit zu missbrauchen. (…) Und darum können wir auch nicht objektiv sein, sondern wir sind parteiisch”, sagte Schnitzler zur Feier des zehnjährigen Bestehens des DDR-Rundfunks. Den Vorwurf, er sei ein parteikonfomer Journalist gewesen, der im Grunde genommen immer auf der Regierungslinie gelegen habe, kontert er lapidar mit der Tatsache, dass sich seine Auffassung lediglich mit der Linie seiner Partei und Regierung gedeckt habe. Allerdings deckte Regina Mönch in der FAZ auf, dass Schnitzler abhängig von der jeweiligen politischen Großwetterlage weisungsgebunden agieren musste: So war er zur Zeit der Anbahnung des Milliardenkredits 1983 gehalten, sich wegen der Darstellung des bisherigen Lieblingsfeindes Franz Josef Strauß (CSU) als „Kommunistenfresser“ zurückzuhalten.
Der am 28. April 1918 in Berlin geborene Sohn eines preußischen Legationsrats erzählte gern, dass er das Adelsprädikat bei Gründung der DDR ablegen wollte, aber von Walter Ulbricht hierzu mit den Worten überredet worden ist: „Du bist wohl verrückt, die Leute sollen wissen, woher man überall zu uns kommt.“ Schnitzlers Großmutter war eine außereheliche Tochter des „99-Tage-Kaisers“ Friedrich III., er selbst mithin ein Urenkel des Kaisers. Welchen Stellenwert diese Verwandten im Dritten Reich innehatten, schilderte von Schnitzler in einem Interview:
„Mein Vetter, Dr. Georg von Schnitzler, war Verkaufsdirektor des IG-Farbenkonzerns. Seine Unterschrift steht unter den Lieferverträgen Zyklon-B, des Giftgases für die Konzentrationslager; und ich habe noch ein paar von der Sorte.“
Bereits mit 14 trat Schnitzler in die Sozialistische Arbeiter-Jugend ein und begann sich entgegen seiner familiär gutsituierten Ausgangslage mit dem Kommunismus zu beschäftigen. Er brach 1937 nach zwei Semestern ein Medizinstudium ab, lernte in Köln Kaufmann und wurde 1939 einberufen. Zweimal verwundet und einmal wegen antinazistischer Propaganda mit dem Strafbataillon 999 im Afrikafeldzug eingesetzt, kam er 1944 in britische Kriegsgefangenschaft, wo er als verantwortlicher Redakteur für die tägliche BBC-Sendung „Hier sprechen deutsche Kriegsgefangene zur Heimat” ab 10. Juni Propagandaarbeit für die Briten leistete. „Von diesem Tag an verschmilzt die Privatperson mit dem Moderator bzw. Kommentator von Schnitzler“, erklärt sein Biograph Horst Rörig.
Im Juni 1945 schickten ihn die Engländer zum damaligen NWDR. Dort zuerst als Kommentator tätig, wurde der überzeugte Kommunist am 1. Januar 1946 als erster amtierender Intendant und Leiter der politischen Abteilung in Köln eingesetzt. Am Anfang wegen seiner Arbeit in London und seiner „sauberen“ Denkweise als Journalist geschätzt, urteilte der britische Chief Controller des NWDR, Hugh Carleton Greene, rückblickend über ihn: „…er war ein guter Rundfunkpublizist und ein gescheiter Kopf, den ich nicht unbedingt verlieren wollte.“ Als er mit der britischen Besatzungsmacht auf Grund seiner extrem linken Denk- und Arbeitsweise in unlösbaren Konflikt geriet, wurde Schnitzler im Frühjahr 1947 fristlos entlassen. Logische Folge war seine Emigration nach Ost-Berlin, wo er von Michael Storm, dem journalistischen Pseudonym des späteren Auslands-Spionagechefs Markus Wolf, beim Berliner Rundfunk empfangen wurde. Wahrscheinlich über diese Beziehungen wurde Schnitzler nach eigenen Angaben sofort Festangestellter.
Zunächst leitete er neben seiner Kommentatorentätigkeit die Diskussionsrunde „Treffpunkt Berlin“ mit westlichen Journalisten und dreht Dokumentarfilme, bevor er mit dem „Schwarzen Kanal“ auf Sendung geht. Rasch zum Chefkommentator berufen, bezeichnete er später den 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter, der bei einem unbewaffneten Fluchtversuch am Checkpoint Charlie vor laufender Kamera verblutete, als „einen angeschossenen Kriminellen“. Nicht allein der kommunistische Gedanke war richtungsweisend für seinen agitativen „Journalismus“, sondern auch seine Verachtung der westlichen – seiner Meinung nach imperialistischen und kapitalistischen – Gesellschaftsformen, im Besonderen der Westdeutschlands.
So gab er kurz nach der Einstellung seiner Sendung als Anspruch an seine Arbeit in der Stuttgarter Zeitung, an, „er habe immer nur zur ‚Hygiene im Äther‘ beitragen wollen, um der ‚Hetze‘ der westlichen Medien gegen den Sozialismus und speziell den auf deutschem Boden etwas entgegenzusetzen“. Rörig nannte das eine „überzeugte Verblendung“. Die AfD Niedersachsen hat inzwischen vorgeschlagen, einen „Karl-Eduard-von-Schnitzler-Preis“ an Redaktionen zu verleihen, in denen gegen journalistische Prinzipien verstoßen, das Trennungsprinzip von Sachberichterstattung und Meinung nicht realisiert wird.
„Nervensäge der Nation“
Die Resonanz in der Bevölkerung gab Schnitzler zu Anfang mit 50% und mehr Einschaltquote an, die wegen schwindendem Interesse sich dann bei rund 30% eingependelt habe. Dabei fällt zusätzlich ins Gewicht, dass in den ersten Jahren lediglich ein bzw. zwei Programme zur Verfügung standen und die Einschaltquoten in der DDR niemals offiziell bekannt waren. Eine objektive Bewertung dieser Zahlen ist also nicht möglich. Auch die Aussage von Schnitzlers, er „habe nie 3% gehabt wie Herr Höfer in seinem ‚Frühschoppen‘ mittags um zwölf. Mit 3% Prozent gibt es bei uns keine Sendung, die wäre abgesetzt worden”, ist vorsichtig zu betrachten. In jedem Fall nahm die Sehbeteiligung rapide ab: Ende der 1970er Jahre waren es kaum noch zweistellige Werte, die kontinuierlich mit durchschnittlichen Quoten um drei bis fünf Prozent bis zur Einstellung sanken.
Zuletzt gehörte der in der Bevölkerung „Sudel-Ede“ titulierte zu den meistgehassten Systemvertretern. So wurde auf Demonstrationen 1989 gefordert: „Schnitzler weg von Bild und Ton, der besudelt die Nation!“, oder „Versetzt die alte Lügensau schnellstens in den Tagebau“, oder „Schnitzler weg – Lügendreck“. Der Spiegel nannte ihn „Nervensäge der Nation“ und kommentierte: „Neben dem Unterangebot an Südfrüchten war es das Überangebot an Schnitzler-Kommentaren, das die Leute 1989 auf die Straßen trieb.“ Denn noch im Frühherbst polemisierte er in gewohnt ungehobelter, arroganter und überlegenheitsschwangerer Art gegen die westliche Welt, ohne auch nur im geringsten die Zeichen der Zeit im eigenen Land zu erkennen.
Für ihn war die Bürgerbewegung in der DDR vom Westfernsehen organisiert, um die Struktur des ostdeutschen Staates von innen auszuhöhlen. Nachdem bei den Montagsdemonstrationen seine Absetzung gefordert worden war und ihn das SED-Blatt Neues Deutschland als „Nessie-ähnliches Fossil“ geschmäht hatte, war die Absetzung der Sendung folgerichtig. Einem Parteiausschlussverfahren kam er mit seinem Austritt zuvor und ging in die DKP.
Nach dem Ende der DDR war Schnitzler Kolumnist, darunter der Satirezeitschrift Titanic, und Autor. 1994 veröffentlicht er die Schrift „Provokation“, die mit dem Satz beginnt: „Die Deutsche Demokratische Republik war das Beste, was in der Geschichte den Deutschen, den Völkern Europas und der Welt aus Deutschland begegnet ist“. Der in der DDR vielfach geehrte, viermal verheiratete kalte Krieger – aus seiner zweiten Ehe ging die Schauspielerin Barbara Schnitzler hervor – erlag am 20. September 2001 in Zeuthen einer Lungenentzündung. Als ein „Phänomen“ bezeichnet ihn Rörig:
„Die teilweise Unmöglichkeit, seiner Gedankenführung rationales Verständnis entgegenzubringen, mindert dabei nicht die Faszination seiner Person.“
Dieser Faszination erlagen etwa vier Hamburger Punkrocker namens „Der Schwarze Kanal“. Daraus ging die Intellektuellenband „Blumfeld“ hervor, die sich 2004 in einem „Manifest“ von jedem Künstler distanzierte, der „es billigend in Kauf nimmt, die in deutschem Namen begangenen Verbrechen und (Un-) Taten der Vergangenheit und Gegenwart zu ignorieren und vergessen zu machen, um seine Zielgruppe zu erreichen.“ Und ihr erlag auch der Journalist Jan Fleischhauer, der achteinhalb Jahre lang „unter unzähligen Aufforderungen an die Chefredaktion, dem Autor zu kündigen“, 438 konservative Spiegel-Kolumnen namens „Der schwarze Kanal“ schrieb. Sowohl die Kolumne als auch die Ergüsse des Namensgebers gibt’s heute wieder: erstere neuerdings im Focus, zweitere im Onlineshop des RBB. Hier kann der geneigte Kunde eine 6er-DVD-Box „Der schwarze Kanal“ erwerben und sich an den messianischen Tiraden ergötzen. Oder erschrecken, je nach Perspektive.