„Vermittler des Humanismus“
3. Oktober 2019 von Thomas Hartung
Kein anderes Land in Europa hat im 17. Jahrhundert eine so lang andauernde wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit durchlebt wie die Niederlande. In rund einhundert Jahren arbeiteten hier mehr als 700 Maler, die – inspiriert vom Alltag und von Seemännern mitgebrachten Exotika aus aller Welt – mehr Gemälde fertigstellten als im Italien der Renaissance und in Frankreich zur Zeit des Impressionismus. Rembrandt Harmenszoon van Rjin ist der wohl bedeutendste Vertreter dieses „Goldenen Zeitalters“. Am 4. Oktober vor 350 Jahren starb er in Amsterdam – das Land hat 2019 aus diesem Anlass kurzerhand zum Rembrandt-Jahr erklärt.
Geboren am 15. Juli 1606 in Leiden als achtes von neun Kindern eines Müllers und einer Bäckerstochter, besuchte er erst vier Jahre die Grundschule und dann weitere vier die calvinistische Lateinschule, wo er u.a. in Biblischer Geschichte unterrichtet wurde. Für das Studium der Philosophie in seiner Heimatstadt hat er sich vermutlich nur eingeschrieben, um wie alle Studenten steuerfrei Bier verköstigen zu dürfen, vermuten manche Biographen. Denn seine wahre Leidenschaft gilt schon damals der Malerei. Von 1620 bis 1624 war er Schüler von Swanenburgh, im Anschluss volontierte er bei dem Historienmaler Pieter Lastman. 1625 eröffnete er mit seinem Freund Jan Lievens in Leiden eine eigene Werkstatt und begann drei Jahre später, Schüler aufzunehmen. Erste Erfolge stellen sich auf Vermittlung des Diplomaten Constantijn Huygens ein: Er kann zwei Bilder nach England verkaufen.
1631 verlässt er seine Heimat und kauft sich beim Amsterdamer Kunsthändler Hendrik Uylenburgh ein. Amsterdam ist im 17.Jahrhundert die Handels- und Finanzmetropole Europas: Uylenburgh kennt den Markt und besorgt ihm Aufträge. Die wohlhabenden Kaufleute der Stadt lassen sich ein Porträt aus der Hand Rembrandts einiges kosten, erzählt die Amsterdamer Kunsthistorikerin Bregtje Viergever im DLF. „Da haben die Leute bis zu 500 Gulden pro Stück für bezahlt. Das war sehr viel. Gute Handwerker verdienten damals 200 Gulden im Jahr. Und eigentlich hatte Rembrandt gar keinen Spaß daran, das zu machen. Das war nicht das, was er wollte.“ 1632 wird sein bislang erfolgreichstes Jahr: Er stellte 30 Gemälde fertig, darunter „Die Anatomie des Dr. Tulp“.
Nach seiner Heirat mit Uylenburghs Nichte Saskia 1634 kauft Rembrandt 1639 in der Breestraat ein repräsentatives Stadthaus, das bis heute als Rembrandthuis zu besichtigen ist. Fortan hat er es nicht mehr nötig, vermögende Amsterdamer zu porträtieren. Er widmet sich endlich den Motiven, die er malen möchte: das sind dramatische Historienbilder, Bibelszenen und Alltagsdarstellungen. Doch das Schicksal meint es keinesfalls nur gut mit ihm. Drei der vier Kinder, die Saskia zur Welt bringt, sterben schon als Säuglinge. Nur Sohn Titus überlebt. Nach dem plötzlichen Tod Saskias 1642 kümmert sich die Haushälterin Geertje Dircx um Titus und um den jungen Witwer.
„die vernünftige Ausbildung in den Akademien bekämpft“
Seine Produktivität lässt nach dem Tod seiner geliebten Frau deutlich nach, er identifizierte sich stark mit seiner Vaterrolle, kümmerte sich in besonderem Maße um seinen Sohn und griff seine familiäre Situation auch in Kunstwerken auf. Trotz der guten Auftragslage, den Erlösen aus dem Verkauf von Radierungen und den Honoraren aus seiner Lehrtätigkeit konnte er seine Schulden nicht abtragen und musste sich weiterhin Geld leihen. Zwar hatte er in dem Dienstmädchen Hendrikje Stoffels eine neue Liebe und Muse gefunden, doch die wurde 1654 vor den Amsterdamer Kirchenrat geladen, der sie wegen unzüchtigen Zusammenlebens mit Rembrandt rügte. Sie gebar die Tochter Cornelia.
Da ihm Geertje bei der Beziehung zu Hendrickje im Weg stand, lässt er sie auf juristisch fragwürdige Weise in eine Besserungsanstalt in Gouda stecken. Er wird mitunter als unangenehmer Mensch empfunden, als Egoist, Streithammel, ja richtiger Stinkstiefel: beleidigend, verletzend, unnachgiebig. 25 Rechtsstreitigkeiten hat er in seinem Leben geführt, von vielen Amsterdamern wurde er für seine Starrköpfigkeit und Unverschämtheit verachtet. Der so einfühlsame Bilder malen konnte, war auch ein skrupelloser Mensch, der nur für seine Kunst lebte und mit der Bewältigung des Alltags oft überfordert war, so sein Biograph Christoph Driessen.
Kurz bevor er 1656 für zahlungsunfähig erklärt wurde, überschrieb Rembrandt sein Haus auf seinen Sohn Titus. Als mit dem Erlös aus der Versteigerung seines Hauses und seiner Sammlung die Schulden nicht vollständig beglichen werden konnten, musste der Meister in ein sozial schwaches Viertel umziehen und führte dort ein abgeschiedenes Leben. Vier Jahre später stellten ihn Titus und Hendrickje in ihrer Kunsthandlung an, wodurch er Geschäftskontakte aufrecht halten, Aufträge annehmen und Schüler unterrichteten konnte. 1663 verstarb Hendrickje, 1668 Titus, kurz nachdem er geheiratet hatte. Rembrandt zog zu seiner schwangeren Schwiegertochter. Sie gebar ihm seinen Enkel, dem er im März 1669 Pate wurde.
Ein halbes Jahr später stirbt er krank und mittellos. Da war seine Kunst schon aus der inzwischen klassizistisch geprägten Mode: Zu dunkel, zu realistisch, zu hässlich. Doch Kompromisse hätte der eigensinnige und rebellische Meister nie gemacht. In der 1675 erschienen „Teutschen Akademie“ warf ihm der deutsche Maler Joachim von Sandrart vor, „die Regeln der Kunst – Anatomie, Proportion, Perspektive, die Norm der Antike und die Zeichenkunst Raffaels – nicht beachtet und die vernünftige Ausbildung in den Akademien bekämpft“ zu haben.
Der Kunstschriftsteller Arnold Houbraken ging in „Groote Schouburgh“ 1718 noch weiter, indem er angebliche Zitate Rembrandts und unzutreffende biographische Informationen erfand sowie Legenden verbreitete. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fakten über Rembrandts Leben zu großen Teilen in Vergessenheit geraten. Deshalb schloss man aus seinen Bildern auf einen niedrigen sozialen Stand und einen schlechten Charakter. Dies wurde auf seine künstlerische Auffassung übertragen.
Als sich aber die Flamen und Wallonen 1830 abgespaltet hatten, zu einem eigenen Staat namens Belgien wurden und Rubens als Nationalmaler behielten, besannen sich die Niederländer, entdeckten Rembrandt wieder und enthüllten 1853 ein Denkmal für ihn in Amsterdam. Seither gilt er als künstlerisches Nationalheiligtum.
„Ausgezeichnet fotografiert und gespielt“
Rembrandt wurde in mehreren Romanen und Filmen gewürdigt, unter anderem von Charles Laughton und Klaus Maria Brandauer verkörpert. 1942 filmt Hans Steinhoff für die „Terra“ in Anlehnung an den Roman „Zwischen Hell und Dunkel“ von Valerian Tornius „Ewiger Rembrandt“ mit Ewald Balser in der Titelrolle. Darin wurde die Entstehung des Gemäldes „Die Nachtwache“ erzählt, von Richard Angst („Die Geierwally“) gedreht und von Walter Röhrig ausgestattet, der schon für „Das Kabinett des Dr. Caligari“ verantwortlich zeichnete. Damals mit dem Prädikat „künstlerisch wertvoll“ versehen, erkennt das „Lexikon des internationalen Films“ 2017 zwar „Einflüsse der nationalsozialistischen Kulturlenkung“, muss aber selbst mit 75 Jahren Abstand zugeben: „Ausgezeichnet fotografiert und gespielt“.
„Rembrandts Motive des Alltags, der präzise Einsatz von Licht und Schatten und die Vielfalt seiner Selbstporträts haben ihn zum Geschichtenerzähler und Vermittler des Humanismus gemacht“, so Moritz Gauditz im DLF. Er war auch ein Chronist seiner Zeit, sagt der Amsterdamer Konservator Erik Hinterding RTL, „Schnappschüsse wie heute auf Instagram“, lacht er und spricht gar von über 80 „Selfies“. Schönheit interessierte den Maler nicht, sondern die Wirklichkeit. Gerade das Unvollkommene faszinierte ihn, Spuren in Gesichtern und auf Körpern. Malte er eine nackte junge Frau, dann zeigte er auch noch die Abdrücke ihrer Strümpfe an den Waden.
Seit 1968 nimmt eine im Rembrandt Research Project zusammengefasste Expertengruppe die Bewertung der Bilder vor, die ihm zugeschrieben werden: Mit technische Hilfsmitteln wie Farbanalysen, Röntgenverfahren und einer dendrochronologische Datenbank mit allen Eichenholzbrettern, auf denen Rembrandt gemalt hat. Heute gilt er als Urheber von rund 350 Gemälden, 300 Radierungen und 1000 Zeichnungen; letztere waren vor allem Etüden für seine ca. 50 Schüler, von denen einige nach dem Ende ihrer Lehrzeit als Assistenten in Rembrandts Werkstatt blieben und viele Werke gestalteten, die eigentlich ihm zugeschrieben wurden. Gerard Douw als Begründer der Leidener Feinmalerei wurde von seinen Eleven am bedeutendsten.
Das bei Christie’s in London versteigerte Porträt „Ein Mann mit den Armen in der Hüfte“ von 1658 erzielte 2009 mit über 33 Millionen Dollar den bisher höchsten jemals für ein Werk Rembrandts gezahlten Preis. Im Juli diesen Jahres begann das Rijksmuseum Amsterdam in einem international bislang einmaligen Schritt die Weltöffentlichkeit live an der Restaurierung der „Nachtwache“ teilhaben zu lassen: In Echtzeit im Internet.