„Ich wollte den Krieg verhindern“
7. November 2019 von Thomas Hartung
Georg Elser umgibt bis heute etwas Anarchisches, Einsames, ja Unwirkliches. Obwohl seine Verhörprotokolle seit 1964 bekannt sind und damit das misslungene Hitler-Attentat vom 8. November 1939 minutiös rekonstruiert werden konnte, dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis sich die Geschichtsschreibung ernsthaft mit ihm zu befassen begann. Erst 1989 erschien die erste Elser-Biographie, erst in der zweiten zehn Jahre später wurden die Namen aller Beteiligten genannt. Und noch 2003 kam es gegen die Benennung der Schule seines langjährigen Wohnorts Königsbronn zu Einwänden, war der Ort im „Dritten Reich“ doch als „Attentatshausen“ verunglimpft worden.
Das liegt zum einen an Elsers Person: Ein freiheitsliebender Frauenheld aus schwierigen Familienverhältnissen, der zwar talentierter, dennoch einfacher Arbeiter war, als Katholik dem Kommunismus nahestand und Volksmusik pflegte. Er gehörte nicht zu den „Offizieren, Adeligen und Studenten aus gutem Hause, legitimiert durch Herkunft, Familie und gesellschaftliche Stellung“, meint der Theologe Hartwig Grubel im SPIEGEL. Daher konnte der Verfemte, der selbst in seiner Familie lange ein Tabu sein musste, von keiner Seite als „Widerstandskämpfer“ vereinnahmt werden.
Das liegt zum anderen aber auch an der – überdies ethisch fragwürdigen – Spiegelfunktion seiner Tat, die weder in Ost- und erst recht nicht in Westdeutschland auf Gefallen stieß. Denn er war der Beweis, dass auch der „kleine Mann“, wenn er denn wollte, schon früh das Unrecht des Nazi-Regimes durchschauen und auch als Einzelner etwas dagegen unternehmen konnte – die oft bemühte Floskel vom Nichts-gewusst-haben führte er ad absurdum: „Ich wollte den Krieg verhindern“, begründete Elser schlicht sein Tun. Er habe schon „1938 den Mut und die Weitsicht gehabt, die sich bei anderen erst eingestellt hatte, als der Krieg schon verloren“ war, erklärt Grubel.
Dazu mussten Elsers Ansicht nach Hitler, Göring und Goebbels verschwinden, gab er im Verhör zu Protokoll: „Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser drei Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“ Eine selbstgebaute Bombe schien ihm das geeignete Mittel dazu.
Prompt stellt sich seit Jahren die Frage, ob die deutsche Geschichte im Falle des Gelingens seines tödlichen Plans tatsächlich anders verlaufen wäre, und wenn ja, wie. „Deutschland wäre bei einem gelungenen Attentat vermutlich keine Demokratie geworden, sondern ein autoritärer Staat geblieben“, glaubt Johannes Tuchel, Elser-Biograph und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. „Doch die Grundzüge der NS-Politik hätten sich mit Sicherheit verändert.“
„die Löhne niedriger und die Abzüge höher“
Der älteste Sohn einer Bauerstochter wird am 4. Januar 1903 in Hermaringen bei Heidenheim unehelich geboren. Im Jahr darauf zieht die Familie zum Vater, ebenfalls Bauer, nach Königsbronn um, wo Elser bis 1925 wohnt. Er hat noch 5 Geschwister, gilt als mittelmäßiger Schüler mit überdurchschnittlichen Leistungen in Rechnen, Zeichnen und Schönschreiben und beendet nach einem halben Jahr Landwirtschaftsgehilfe bei den Eltern und einer aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen Ausbildung zum Eisendreher 1922 eine Schreinerlehre.
Nach wechselnden Tätigkeiten in verschiedenen Schreinereien zieht Elser 1925 nach Konstanz, wo er vor allem in Uhrenfabriken beschäftigt ist. Er tritt in verschiedene Trachtenvereine ein, wird Mitglied im Zitherclub Konstanz sowie 1928/1929 auch des Roten Frontkämpferbundes sowie der Holzarbeitergewerkschaft. Seit dieser Zeit sind wechselnde Liebschaften nachgewiesen, zuerst mit der Zuschneiderin Hilde Lang, dann mit der Kellnerin Mathilde Niedermann, die 1930 den nichtehelichen (und nachgewiesenermaßen einzigen) Sohn Manfred zur Welt bringt. Bis Frühjahr 1932 bei der Uhrenfabrik Rothmund in Meersburg angestellt, erhält er bei deren Konkurs anstelle ausstehenden Lohns mehrere Uhrwerke. Zwei davon wird er für seine Zeitbombe im Bürgerbräukeller verwenden.
Anschließend geht Elser zurück nach Königsbronn, wo er in den Zitherclub eintritt und ein Verhältnis mit der verheirateten Elsa Härlen unterhält, die ihm möglicherweise einen unehelichen Sohn, eventuell gar zwei Kinder geboren haben könnte. Von 1936 bis 1939 arbeitet er als Hilfsarbeiter in der Armaturenfabrik Waldenmaier und erhält Kenntnis von einer geheimen Sonderabteilung für Rüstungsproduktion. Nach dem Abschluss des Münchner Abkommens und einer ersten Reise 1938 nach München mit dem Besuch der Gedenkveranstaltung zum gescheiterten Hitler-Putsch von 1923 im Bürgerbräukeller reift in ihm der Entschluss, ein Jahr später dort ein Attentat auf Hitler zu begehen.
In den Verhörprotokollen wird er sich als früher Gegner des Nationalsozialismus bezeichnen, der nach 1933 den Hitlergruß verweigerte und nach Augenzeugenberichten den Raum verließ, wenn Hitler-Reden im Rundfunk übertragen wurden. Der Hauptgrund seiner Abneigung war zunächst die Verschlechterung der Lebensbedingungen: „So z. B. habe ich festgestellt, dass die Löhne niedriger und die Abzüge höher wurden. […] Der Stundenlohn eines Schreiners hat im Jahr 1929 eine Reichsmark betragen, heute wird nur noch ein Stundenlohn von 68 Pfennigen bezahlt. […] Der Arbeiter kann z. B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln, wie er will; er ist heute durch die HJ nicht mehr Herr seiner Kinder, und auch in religiöser Hinsicht kann er sich nicht mehr so frei betätigen.“
Er entwendet bei Waldenmaier Pulver und Zünder, erwirbt im Frühjahr 1939 als Hilfsarbeiter in einem Steinbruch Kenntnisse in der Sprengtechnik und stiehlt hier 105 Dynamit-Sprengpatronen und 125 Sprengkapseln. Nach seinem Umzug nach München im August ging Elser 30 Abende in den Bürgerbräukeller, bestellte immer das einfachste Gericht für 60 Pfennige und wartete, bis er unbemerkt in der Besenkammer verschwinden konnte. Dort harrte er aus, bis das Lokal schloss, stieg auf die Empore und kniete sich vor die tragende Säule direkt hinter dem Rednerpult.
Minutengenau und doch zu spät explodiert
Die höhlte Elser Stück für Stück aus, um Platz für die Bombe zu schaffen. Um nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen, musste er jeweils für zehn Minuten seine Arbeit unterbrechen, bis die automatische Toilettenspülung des Bürgerbräukellers einsetzte. Den anfallenden Schutt versteckte er in einem selbstgefertigten Sack, den er unter den Augen der Kellnerinnen tagsüber hinaustrug und in der Isar entleerte. Parallel arbeitete er tagsüber am Zeitzünder.
Anfang November baute er mit inzwischen zerschundenen Knien seine „Höllenmaschine“ samt Dynamitpatronen, Sprengkapseln und Schwarzpulver ein. Am 6. November stellte er bei seiner Schwester Maria in Stuttgart seine Habe unter, am 7. prüfte er durch Horchen das Ticken des Uhrwerks. Danach fährt er über Friedrichshafen nach Konstanz und wird 20.45 Uhr durch eine Zollstreife wenige Meter vor der Grenze zur Schweiz gestoppt. Bei seiner Festnahme trug er unter anderem eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers sowie Teile des Zeitzünders bei sich. Der damals 26jährige deutsche Grenzschützer Waldemar Zipperer, der ihn festnahm, erhielt noch 1978 das Bundesverdienstkreuz.
Explodieren sollte die Bombe um 21.20 Uhr – während Hitlers Rede. Und minutengenau tat sie das auch. Doch der Zufall namens Wetter verhinderte, dass die NS-Führungsspitze an diesem Abend ausgelöscht wurde: wegen Nebels konnte Hitler nicht wie geplant mit dem Flugzeug zurück nach Berlin reisen, sondern musste den Zug nehmen. Deshalb sprach er viel kürzer als sonst und verließ die Veranstaltung schon um 21.07 Uhr. 13 Minuten später wären er und seine Gefolgsleute entweder direkt durch die Explosion oder durch die herabstürzende Decke getötet worden. Acht Menschen starben, darunter sieben Altnazis und eine Serviererin, 63 wurden verletzt. Elser wird derweil in der Konstanzer Gestapo-Zentrale bis in den frühen Morgen verhört und tags darauf nach München verlegt.
Als „Vergeltungsmaßnahme“ ließ der Kommandant des KZ Buchenwald Karl Otto Koch bereits am Tag nach dem Attentat 21 jüdische Häftlinge erschießen. Am 11. November drückte die sowjetische Regierung dem deutschen Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg „ihr Bedauern und ihre Entrüstung über den ruchlosen Anschlag von München, ihre Freude über die glückliche Errettung Adolf Hitlers aus der Lebensgefahr und ihr Beileid für die Opfer des Attentats“ aus.
„in absolut unauffälliger Weise zu liquidieren“
Nach tagelangen Verhören mit Misshandlungen legt Elser ein Geständnis ab und wird ab 22. November offiziell als Attentäter präsentiert. Als Sonderhäftling erst im KZ Sachsenhausen, dann unter dem Decknamen Eller im KZ Dachau wurde er vergleichsweise gut behandelt, hatte eine eigene Zelle, eine eigene Werkbank und eine Zither. Nach dem „Endsieg“ sollte er in einem Schauprozess abgeurteilt werden. Die Heimatgemeinde Königsbronn wurde nach dem Attentat durch die Gestapo durchforscht, Elsers Eltern wurden vier Monate lang inhaftiert, Neffe Franz Hirth kam ins Waisenhaus.
Am 5. April 1945 ordnete Hitler parallel die Hinrichtung von Admiral Canaris und des „besonderen Schutzhäftlings“ Georg Elser an. Gestapo-Chef Heinrich Müller ließ den Auftrag am selben Tag dem Dachauer Kommandanten Eduard Weiter übermitteln: „ Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bzw. auf die Umgebung von Dachau ist angeblich ‚Eller‘ tötlich [sic!] verunglückt. Ich bitte, zu diesem Zweck ‚Eller‘ in absolut unauffälliger Weise nach Eintritt einer solchen Situation zu liquidieren. Ich bitte besorgt zu sein, dass darüber nur ganz wenige Personen, die ganz besonders zu verpflichten sind, Kenntnis erhalten“.
Am Abend des 9. April vollstreckte der SS-Oberscharführer Theodor Bongartz heimlich und ohne Gerichtsurteil den Tötungsbefehl gegen 23.00 Uhr am Hinrichtungsplatz beim Krematorium in Dachau mit einem Genickschuss. Elsers Leiche wurde anschließend im Krematorium verbrannt. Zwanzig Tage später wurde Dachau durch US-Truppen befreit. Bongartz starb am 15. Mai 1945 in amerikanischer Gefangenschaft. Über Elser wurde in seiner Familie 50 Jahre lang nicht gesprochen. Sein Schicksal blieb für die Familie unbekannt, ein Grab gab es nicht, 1950 wurde er für tot erklärt.
Niemand konnte sich vorstellen, dass ein Schreiner ganz allein dieses Attentat begangen haben sollte. Hitler selbst drängte darauf herauszufinden, wer dahinterstecke. Die NS-Propaganda machte den britischen Geheimdienst für den Anschlag verantwortlich. Regimegegner im In- und Ausland vermuteten hingegen, die Nationalsozialisten selbst hätten den Anschlag mit Elsner als Marionette inszeniert, um zu zeigen, dass die „Vorsehung“ den „Führer“ beschütze.
Dabei war Elser ein selbstbewusster Mensch mit klarem Blick und verschmitztem Lächeln. Etwas Unternehmungslustiges und Unabhängiges lag in seinen Zügen: Der Mut eines unsteten Alleingängers, der dennoch so fest war, dass er selbst die Nazis verwirrte. Niemandem hatte Elser von seinem Vorhaben erzählt. Allein Gott im Gebet vertraute sich der gläubige Katholik an, so steht es in seinen Verhörprotokollen, die keine Hinweise auf irgendwelche Hintermänner zutage förderten. Vielmehr konnte Elser seinen Vernehmern bis ins kleinste Detail beschreiben, wie er seine „Höllenmaschine“, wie er sie fast liebevoll selbst nannte, konstruiert und im Bürgerbräukeller versteckt hatte. Auf deren Wunsch baute er die Bombe sogar nochmals nach. Die Gestapo-Beamten kamen zu dem Schluss, dass Elser tatsächlich ohne fremde Hilfe das Attentat geplant und durchgeführt haben musste.
Trotzdem gab es noch lange nach dem Krieg massive Zweifel an der Alleintäterschaft Elsers. Sie begannen erst allmählich zu verstummen, nachdem der Historiker Lothar Gruchmann die verschollenen Verhörprotokolle der Gestapo 1970 veröffentlicht hatte. Zuvor verbreiteten selbst der als Vertreter der Bekennenden Kirche im KZ Sachsenhausen inhaftierte Martin Niemöller und später auch der KZ-Aufseher Walter Usslepp das Gerücht, Elser sei SS-Unterscharführer gewesen und handelte auf Hitlers persönlichen Befehl. Viele weitere Gerüchte kamen in Umlauf und sind es zum Teil bis heute.
„einsame Entscheidung eines Menschen“
Ein eigenes Kapitel ist die Frage, ob Elsers Tat moralisch zu rechtfertigen ist. Das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung HAIT ist 1999 darüber fast zerbrochen. Denn in einem Artikel zum 60. Jahrestag des Attentats in der Frankfurter Rundschau verurteilte Lothar Fritze, Mitarbeiter am HAIT, den versuchten Tyrannenmord aus einer paternalistischen Perspektive. Elser hätte im Raum bleiben müssen, um unschuldige Anwesende nach der Abfahrt des „Führers“ zu warnen, oder eine Anschlagsmethode wählen müssen, bei der nur Hitler getroffen worden wäre.
Auch bemängelt er, Elser habe „seine politische Beurteilungskompetenz überschritten“, indem er ein solches Attentat unternahm. Fritzes Vorwurf des leichtfertigen Entfernens Elsers vom Tatort würde sich ebenso auf Stauffenberg und dessen Attentat von 1944 beziehen lassen, entgegneten Kritiker. Eine Reihe von Philosophen und Politikwissenschaftlern unterstützte Fritze. Der israelische Historiker Saul Friedländer hingegen verließ aus Protest den wissenschaftlichen Beirat des HAIT. Elser stehe „für die einsame Entscheidung eines Menschen, der sich in einer ethischen Notsituation befindet und einer Verantwortung folgt, die die eigene Existenz geringer achtet als Recht und Gerechtigkeit und das allgemeine Wohl“, meint auch Gruber. Aber ob das die getötete Kellnerin auch so gesehen hätte?
Dem bereits 1972 durch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN eher unbeachtet eingeweihten Denkmal in Schnaitheim schloss sich erst nach Elsers Erwähnung durch Bundeskanzler Helmut Kohl 1983 in seiner Rede zum 20. Juli ein Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur an – der inzwischen allerdings ins Gegenteil zu kippen droht: 2017 waren schon 64 Straßen und Plätze in Deutschland nach Elser benannt. Büsten, Installationen und Denkmäler folgten, so 2011 in Berlin ein 17 Meter hoher Stahlmast. Seit 2001 wird alle zwei Jahre ein Georg-Elser-Preis für Zivilcourage verliehen. Anlässlich seines 100. Geburtstags gab die Deutsche Post eine Sondermarke heraus.
Elsers Leben wurde in Hörspielen, Bühnenstücken und Filmen dramatisiert, darunter 1989 von Klaus Maria Brandauer, der auch die Titelrolle übernahm und mit „Mephisto“ sowie „Hanussen“ weitere Filmadaptionen der NS-Zeit lieferte. Zuletzt drehte Oliver Hirschbiegel „Elser – Er hätte die Welt verändert“, der 2015 den Bayerischen Filmpreis als „Bester Film“ erhielt. Pikant: Hirschbiegel hatte zehn Jahre zuvor „Der Untergang“ mit dem jüngst verstorbenen Bruno Ganz gedreht, der die letzten Tage jenes Mannes beschreibt, den Elser eigentlich töten wollte: Adolf Hitler.