„eine stupende Begabung“
13. November 2019 von Thomas Hartung
Ein erster Biograph brauchte zu Lebzeiten des „anstrengendsten Narren, den es je gab“, schon 544, ein zweiter nach dem Tod desselben bereits 717 Seiten: Horst Janssen. Eine Legende nicht zuletzt, weil er die bürgerliche Vorstellung vom Künstler als Bohemien perfekt verkörperte – als Egomane und Provokateur, als Lebemann, Trinker und Exzentriker, der Sätze wie „Meine Hölle bin ich selber“ nicht nur sagte, sondern lebte. Der Zeichner, Grafiker, Autor, Plakatkünstler, Illustrator und Fotograf feierte am 14. November seinen 90. Geburtstag.
Der Venediger Biennale-Preisträger von 1968, dem in Oldenburg ein eigenes Museum gewidmet ist, gilt als einer der herausragendsten und produktivsten Zeichner und Grafiker des 20. Jahrhunderts, ja als Genie, „das einzige, das der Hansestadt Hamburg seit 1945 beschert worden war“, wie Rudolf Augstein im Spiegel befindet. Er stand sich aber häufig auch selbst im Wege, war unberechenbar, oft betrunken, euphorisch, aufbrausend, sogar brutal und brüskiert Menschen wie etwa den Baron Rothschild, dessen Auftrag zu einem Weinetikett er annimmt – um dann unter eingeladenen Zeugen bei einem verabredeten Telefongespräch mit Rothschild den Telefonhörer einfach nicht abzunehmen.
Schon die Zahl der Anekdoten über ihn ist Legion. Nach Erhalt des Darmstädter Kunstpreises, seiner ersten Ehrung, fährt Janssen so lange mit dem Taxi um die Außenalster, bis die Summe verbraucht ist: 5000 DM. Nach einem Autounfall verblüfft er die Polizei durch seine Fertigkeit, Splitter der Windschutzscheibe zu zerkauen. Er ist imstande, wenn er Geld verloren hat, seine Frau zu beschuldigen, sie habe die Taschen seines Anzugs nicht tief genug genäht. Und wenn er von einer Geliebten heimkehrt, kann es passieren, dass er die Zahnprothese dort vergessen hat. Am nächsten Morgen hängt das Ding, mit schönen Grüßen, an der Wohnungstür.
Manche meinen, diese Art rabaukische Existenz hinge mit seinen Kindheitsbeschädigungen zusammen. Geboren als nichtehelicher Sohn einer Schneiderin in Wandsbek, wächst er in Oldenburg bei seinen Großeltern auf – seinen Vater, einen schwäbischen Handelsreisenden, lernt er nie kennen. Sowohl der Großvater, der ihn an Kindes statt annahm, als auch die Mutter starben früh an Tuberkulose. In der Zeit erklärt Anna von Münchhausen: „Er zählt zu jenen armen Kerlen, die früh Zuwendung vermisst haben und dann ein Leben lang von jedem auf den Schoß genommen werden wollen.“ Zeitlebens bleibt er sozial unterentwickelt: verantwortungslos, unsicher, verängstigt, endlos verspielt, theatralisch, dabei auch wach und einfühlsam. Ein Egozentriker, ein klassischer Borderliner, der früh schon seine inneren Ängste mit Alkohol zu dämpfen versucht oder durch Aggressionen auslebt.
„ein hypersensibler, blitzschnell denkender Intellektueller“
1942 wurde er Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) in Haselünne, wo er durch einen abgestürzten und verbrannten Britenpiloten auf dem Kartoffelacker ein Trauma erlitt, das er in der Metapher des „Feuerreiters“ zeitlebens zu verarbeiten suchte. 1944 adoptierte ihn Anna Janssen, die jüngere Schwester seiner Mutter, die in Hamburg dann sein Kunststudium finanzierte und der er unter dem Kosenamen „Tantchen“ sprachlich und bildkünstlerisch immer wieder ein Denkmal setzte. Aber ambivalent bis zum Tod wird auch sein Verhältnis zu ihr bleiben: An ihr Krankenhausbett gerufen, hat er sich mit vier Flachmännern versorgt, und während die Sterbende seine rechte Hand umklammert, beschreibt er im ersten Band seiner Autobiographie seine Gedanken: „Was mach ich bloß, wenn mein Tantchen noch nicht tot, mein Schnaps aber alle ist?“
„Als Melodie seiner Existenz kann gelten: von Geburt an zu wenig geliebt, in seinen ersten Jahren zu wenig beachtet und auch später viel zu oft nicht ernst genommen. Sein nicht zuletzt daraus resultierendes Ziel war es, als ‚epochale Ausnahme‘ unsterblich zu werden; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bescheidenheit war sicher nicht seine größte Tugend“, fasst sein Freund Manfred Bissinger in der Zeit seinen Charakter zusammen. Verbote reizten ihn nur dazu, sie zu übertreten, und das bürgerliche Streben nach Sicherheit verachtete er zutiefst. Er war „ein hypersensibler, blitzschnell denkender Intellektueller, der, hätte er nicht so früh zu seinen malerischen Höhenflügen angesetzt, vielleicht auch als Autor oder Uni-Professor die Karriereleiter hochgeklettert wäre“, so Bissinger.
Auf der Landeskunstschule am Lerchenfeld blüht er als Meisterschüler Alfred Mahlaus auf. In der Erinnerung einer Kommilitonin gewährte Mahlau seinem Ausnahmestudenten jegliche Freiheit und akzeptierte, dass Janssen nicht „werden“, sondern gleich „sein“ wollte. Sein Mitstudent war Vicco von Bülow alias Loriot, mit dem er gar nicht klarkam und den er in seiner distinguierten Haltung mit einem Hund von edler Rasse vergleicht, einer „Art Society-Züchtung, die zu fast nix taugt als eben dazusitzen“. 1947 wird in der Zeit eine erste Zeichnung publiziert, im Jahr darauf erscheint das Kasperle-Buch „Seid ihr alle da?“. Doch Direktor Gustav Hasenpflug, der ihn partout nicht leiden konnte, relegierte ihn 1951 ohne akademischen Abschluss. Auch das traf den „genial Überbegabten“ (Wolfgang Hildesheimer) tief, der von den ersten Strichen an hochaffektiv auf alles Zeitgenössische reagierte und für Kunst und Künstler um ihn herum nur Hohn und Spott parat hatte.
Rettung verspricht jetzt und immer wieder die Liebe, der Beziehung mit einer verheirateten Frau entspringt 1950 der erste Sohn. Drei Jahre später sitzt er wegen Mordverdachts aus Eifersucht in Untersuchungshaft und wird schließlich wegen Trunkenheit zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 1955 heiratet er Marie Knauer, mit der er ein Jahr später Tochter Lamme bekommt, die er erst als erwachsene Frau kennenlernen und die bis zu seinem Tod bei ihm bleiben wird. Nach der Scheidung 1959 heiratet er im selben Jahr Birgit Sandner, die Ehe hält nur wenige Wochen. 1960 versucht er es noch einmal mit Verena von Bethmann Hollweg, Enkelin des ehemaligen Reichskanzlers, dem einzigen, nach dem keine Straße benannt wurde. Ein Jahr später erblickt sein Sohn Philip das Licht der Welt. 1968 wird jedoch auch diese Ehe geschieden. Seine aufreibende Lebensführung hat Janssen nie an der Produktion gehindert, sondern ihn vielmehr beflügelt: Lüste wie Depressionen gingen ins Werk ein.
„Zeichnerei und Geschlecht untrennbar verzwirnt“
Im roten Faden, der sich durch Janssens Leben zieht, sind „meine Zeichnerei und das Geschlecht untrennbar verzwirnt“. Seine Affären sind kaum zu zählen, wobei die Beziehung zu Gesche Tietje heraussticht, die ihm 1973 einen weiteren Sohn, Adam, zur Welt bringt. Er sei „stinknormal und kein wahnwitzig grotesker Liebhaber“ gewesen, sagt sie, und seine oft pornografischen Frauenbilder seien „kraft seiner Fantasie und seiner ungeheuren knäbischen Einbildungskraft“ entstanden. Janssen kann nicht allein und muss immer Mittelpunkt sein, ohne Rücksicht auf Tabus. So bricht er mit Vorliebe in Ehen ein, macht Freunden und Vaterfiguren die Frau abspenstig, darunter Direktor Hasenpflug. Er ist grenzenlos, wenn er um eine neue Frau wirbt – Geschenke, Huldigungen, Einladungen, Anrufe, Heiratsanträge. Er hungert sich 20 Kilo herunter, um attraktiver zu wirken, entsagt sogar dem Alkohol (für eine Weile). Ihm ist es egal, ob er Ehen zerrüttet. Sowohl seine Beziehungen als auch seine Kinder schlugen sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Porträts nieder.
Mit 23 Jahren erhält Janssen ein Lichtwark-Stipendium der Hansestadt Hamburg. Es folgen erste berufliche Erfolge und weitere Stipendien. So erhält er Aufträge des Aschaffenburger Buntpapierfabrikanten Guido Dessauer, in dessen Werkstatt er die Technik der Lithografie beherrschen lernte. Bei Paul Wunderlich übte er die Technik der Radierung. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre ist Janssen in Hamburg als vielseitiger Grafiker etabliert. 1956 stellt er Farbholzschnitte in seiner Wohnung aus, später nutzt er die Treppe seines Wohnhauses als Verkaufsgalerie. An der Decke seines Arbeitszimmers höhnte er in Großbuchstaben: „Ich liebe Euch nicht – ich kaufe Euch“. Lob war für ihn so wichtig wie hochprozentiger Alkohol. Wenn vier oder fünf Gäste versammelt waren, zeigte Janssen gerne vor, was er in den stillen Morgenstunden geschaffen hatte. Er genoss die anerkennenden Worte, und manches Blatt verließ das Haus mit der Widmung: „Einem, der es just lobte“.
1965 findet seine erste öffentliche Ausstellung statt – als Werkschau der Kestner-Gesellschaft in Hannover, die dann in sieben weitere Städte wanderte: Als „der größte Zeichner außer Picasso“ würdigte ihn Wieland Schmied, Direktor der Gesellschaft. 1966 wird er an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste Honorarprofessor. In den 70er-Jahren entdeckt der Lebemann, der seinen Ruf als Frauenheld, Rauf- und Saufbold nicht mehr loswird, die Landschaft. Hatte er zuvor überwiegend Karikaturen, Porträts und Blumen gezeichnet, widmet er sich nun zunehmend dem Zeichnen und Radieren der Natur. Die Stadt Mannheim verleiht ihm 1975 den Schillerpreis, im selben Jahr ist er auf der Documenta 6 vertreten.
Erst Anfang der 80er-Jahre gelingt dem Künstler der internationale Durchbruch. Ausstellungen seiner Kunstwerke finden in Wien, Tokio, Oslo und Paris, Nowosibirsk und Moskau statt. Große amerikanische Museen zeigen eine Wanderausstellung seiner Werke. Er fabriziert allein 30.000 sogenannte „Malbriefe“ und widmet sich zeitgleich mehr und mehr der Schriftstellerei. 1987 erscheint der erste Band seiner Autobiografie „Hinkepott“, zwei Jahre später der zweite Band „Johannes“, ein fiktiver Briefwechsel mit dem Journalisten Johannes Groß. Am 19. Mai 1990 stürzte er mit dem Balkon seines Hauses aus 3,40 m Höhe in die Tiefe, mitsamt den Gefäßen, in denen er die für seine Radierungen benötigten Säuren verwahrte. Die Folge: Nicht nur Schädelplatzwunde, Schienbeinfraktur und doppelter Beckenbruch, sondern beiderseitige „Hornhautverätzung“.
Er berappelt sich zwar wieder, doch trotz weiterer Ausstellungserfolge etwa in Dresden, Tokio und Oslo geht es körperlich bergab mit ihm. Von einem Facharzt lässt Janssen sich laut Biograph Stefan Blessin sagen, er sei „einer der tückischsten Alkoholiker“, ein medizinischer Sonderfall übrigens, weil er sogar in Entzugsperioden „zirkelgenaue Kreise aus freier Hand übers Papier“ zieht. 1992 wird er Ehrenbürger seiner Kindheitsstadt Oldenburg, die 1995 eine große Werkschau seines Könnens zeigt. Im selben Jahr erleidet er einen Schlaganfall und stirbt am 31. August.
„verlorene, leere Energie, die sich da verausgabt hat“
Dieses „gummistiefeltretende Urviech“, das mit den Jahren das Aussehen einer „in ihrem Fett blühenden Uraltpuffmutter“ angenommen hat (Blessin), habe in den letzten Jahren seine Tage nur noch mit Champagner und Austern begonnen. Wenn er den ausgetrunken hatte, stieg er um auf guten Weißwein, so Bissinger, für dessen Nachschub die Blankeneser Taxifahrer sorgten: „Janssen telefonierte, nannte seine Wünsche und lehnte die Tür an. Die Fahrer kamen die Treppe hoch, traten ein, ‚moin, moin‘, und holten sich aus dem rechts in der Ecke platzierten Sekretär aus den oberen beiden Schubladen Geld. Dann fuhren sie los und durften nach Rückkehr noch ein weiteres Mal zugreifen. Im oberen Fach lagen die Scheine ab 50 Mark, in dem unteren das ‚Gemüse‘, wie Horst das ‚Kleingeld‘ nannte. Es ist nicht bekannt, dass jemand das Privileg, den Sekretär ohne jede Kontrolle zu nutzen, missbraucht hätte. Keine Überraschung demnach, dass sich zu Janssens Beerdigung in Oldenburg im September 1995 auch ein unübersehbarer Treck von Blankeneser Taxen in Bewegung setzte.“
Viel hat die Kritik über Janssen gestritten. Bewundert werden seine altmeisterliche Beherrschung des Zeichnerischen, die technisch perfekten Radierungen; verachtet wird sein hartnäckiges Festhalten am Gegenständlichen, Figürlichen. Bis zum Ende seiner Laufbahn nimmt Janssen eine ästhetische Haltung ein, die er jenseits aller Ideologien und „-ismen“ auf den Aphorismus zuspitzt: „Baum-Anschauung statt Weltanschauung.“ Ihm habe, schreibt Albrecht, „der Geruch des Dekorativen“ angehaftet – damals ein Todesurteil. Es schadete ihm nicht. Zeichnen, so legte es sich Janssen zurecht, sei seine Art der Welt-Verdauung – wohin aber mit Unverdaulichem? Das kommt, wenn sich periodisch der „Schließmuskel der Seele“ öffnet, in den gefürchteten Wutausbrüchen des Künstlers zutage: „Holt schnell meine Feinde, wenn meine Seele zu Topfe eilt“, heißt es im „Hinkepott“.
Sein Werk habe sich in seiner realistischen, zuweilen surreal versponnenen Art völlig desinteressiert an den aktuell verhandelten Kunstthemen gezeigt, meint Hans-Joachim Müller in der Welt: „Vor den rasch aufeinanderfolgenden Moden und saisonalen Kunstbehauptungen musste er wie aus der Zeit gefallen wirken: er, der in Erotikbagatellen à la Schiele brillierte, der im Dürer-Stil allerhand Kuriosa des Alltags aufs Papier brachte, der im Tübke-Manierismus karnevaleske Totentänze aufführte, mit ironischer Hingabe tote Fische zeichnete und sich selber unermüdlicher Gegenstand der zeichnerischen Betrachtung gewesen ist.“ Der auf Bürgerschreck eingewöhnte ausfällige Zweizentnermann, der sich gern in Schlosserdrillich und Gummistiefel mit Pudelmütze kleidete, gilt als Bindeglied zwischen klassischer Moderne und Gegenwartskunst, ist aber heute, fünfzwanzig Jahre nach seinem Tod, ein nahezu Unbekannter, der Ruhm verweht, der Gefeierte fast vergessen. Der Szene und der Kunsthistorie gilt er nichts.
„Wenn man das riesenhafte Werk überblickt, dann begegnet man Blatt für Blatt einer stupenden Begabung. Aber man könnte nicht wirklich sagen, wofür sie eingesetzt ist, wem sie dient“, bilanziert Müller. „Eine Haltung zur Welt, ein Reflex auf Zeit und Geschichte, ist diesem Zeichnen nicht zu entnehmen. Es herrscht auf der langen Strecke ein vergnüglicher Plauderton, dem da und dort eine Groteske, ein Witz gerät, der im nächsten Blatt schon wieder kassiert wird. Er fließt einfach dahin, der Janssen-Strich, unaufhaltsam, und ganz wird man das Gefühl nie los, dass es aufs Ende gesehen doch verlorene, leere Energie ist, die sich da verausgabt hat.“ Es bleibt ein „vielschichtiges, hochsensibles Wesen“, trauert Augstein, ein „großartiger Kerl, ein Monstrum, ein Mann“, mit einer „protzenden Selbstgefälligkeit, die ebenso wahr wie unecht daherkam“ und der alles Gesellschaftliche, alles Soziale um ihn herum für kunstfeindlich hielt. „Ob man sich in Jahrhunderten noch mit ihm befassen wird, mögen die Jahrhunderte unter sich ausmachen.“