„weil die Mächtigen das Geld haben“
20. November 2019 von Thomas Hartung
„Wenn die Welt heute nur noch zu zwei Fünfteln aus Schurken und zu drei Achteln aus Idioten besteht, so ist das zu einem guten Teil Voltaire zu verdanken“, notierte Egon Friedell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Wie kein zweiter verkörpert der Franzose die Epoche der Aufklärung: ihre Eleganz, ihren Erkenntnishunger, ihren republikanischen Mut und nicht zuletzt die enge Verbindung von naturwissenschaftlich-philosophischer Erkenntnis und dem praktischen Interesse an einer Förderung der menschlichen Wohlfahrt. Bis heute bezeichnen die Franzosen das 18. Jahrhundert voller Respekt als das „Zeitalter Voltaires“, ganz so wie sie die Epoche zuvor als das „Zeitalter Ludwig XIV.“ charakterisieren. Er war einer der wichtigsten Wegbereiter der Französischen Revolution.
Sollte man Voltaire, wenn er, wie Goethe meinte, tatsächlich alle Merkmale seiner Zeit in seiner Person vereinte, einen Vorwurf daraus machen, dass sich in seiner Biographie auch Schönheitsfehler finden? Der bürgerliche Schriftsteller, der mit gekrönten Häuptern korrespondierte, verkörperte nicht nur die Vernunftidee einer neuen und freieren Welt, sondern auch die Mängel und Irrtümer, Untugenden und Widersprüche der alten: Jener Welt des Rokoko, der er entstammte, in der er lebte und als Höfling Karriere machte. Und die er schließlich zu stürzen half, indem er die Figur des Intellektuellen entwarf, der sich im Namen universeller Werte mit den Mächtigen anlegt. Eine Mischung aus Hans Magnus Enzensberger und Arno Schmidt, erkennt Denis Scheck in der WELT.
Zwar ist er Philosoph, Dramatiker, Lyriker, Historiker, Skeptiker, dreimaliger Gefangener der Bastille, reichster Schriftsteller seiner Zeit und ungekröntes Haupt der europäischen Aufklärung. Er ist aber auch geldversessen, eitel, schnell verletzbar, intrigant. Kritiker haben ihm einen zweideutigen, sogar tückischen Charakter vorgeworfen. Er ist zugleich ein großer Vorkämpfer der Freiheit, riskiert Sätze, für die man nach geltendem Recht immer noch gefoltert, gerädert und verbrannt werden konnte. Er ist ein glänzender Stilist und ein hochgebildeter Gelehrter, im Privaten überdies ein ebenso treuer wie großzügiger Freund. Und durchdrungen von einem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn.
„Latein und dummes Zeug“
Am 21. November 1694 wird er in Paris als Sohn des Notars Arouet geboren und François Marie getauft. Die Mutter, der er später zwei Liebhaber unterstellte, die seine Väter sein könnten, starb, als er sechs Jahre war. Schon auf dem Jesuitenkolleg, wo er mit den Kindern der ersten Adelsfamilien zusammen saß und „Latein und dummes Zeug“ (Voltaire) lernte, zeigte er lyrisches und dramatisches Talent und gewann mehrere Schulpreise. Dabei gilt er als schwächlich, später als Hypochonder mit zahllosen Fläschchen und Döschen mit Tinkturen und Pillen, die er oft wahllos konsumiert.
„Der Wunsch, berühmt zu sein, verzehrt dieses Kind“, erkannte bereits ein Jesuit. Auch sein Biograph Carl Busse bemerkte: „…man hat mit Recht gesagt, dass die schiefe Stellung, in die Voltaire sich früh begab, indem er sich aus Eitelkeit und Hang zum Wohlleben in sozial höhere Kreise drängte, seinen Charakter verdorben hat.“ 1711 ging er zur juristischen Hochschule Paris, verkehrte aber mehr in vornehmen Gesellschaften wie dem „Cercle du Temple“ und machte sich als Verfasser geistreicher, eleganter Verse einen Namen – sowie als Abstinenzler: Kaffee ist zeitlebens das Getränk seiner Wahl.
1713 nötigte ihn sein zunehmend unzufriedener Vater, eine Stelle als Notariatsangestellter in Caen anzutreten. Als er auch hier mehr in schöngeistigen und freidenkerischen Kreisen verkehrte, zwang ihn der Vater als Sekretär nach Den Haag, wo er eine Affäre mit einer siebzehnjährigen Hugenottin begann. Auf Drängen ihrer entsetzten Mutter wurde der Neunzehnjährige zu seinem empörten Vater nach Paris zurückgeschickt, der ihm mit Enterbung und Deportation nach Amerika drohte.
Ab 1714 akzeptierte der Vater schließlich, dass sein Sohn zunehmend literarisch tätig ist und wie zuvor in intellektuellen Zirkeln verkehrte, wo er sich aufgrund seiner bissigen Texte erste Feinde macht. Adelige schätzten ihn als vielseitigen Lyriker und Autor witziger, häufig spöttischer Gedichte nur dann, wenn sie von seinem Spott nicht betroffen waren. Von den Betroffenen dagegen wurde er aus Paris verbannt und 1717 gar ein knappes Jahr in der Bastille inhaftiert. Hier stellte er seine erste Tragödie „Œdipe“ fertig und begann er unter dem Titel „La Ligue“ ein Nationalepos über die Hugenottenkriege und ihre Beendigung durch Heinrich IV., das ihm später den Ruf als größten französischen Epiker seiner Zeit bescherte.
Nach seiner Entlassung trat er 1718 unter dem neuen Namen „Voltaire“ auf, ein unsauberes Anagramm aus „Arouet le jeune“ („Arout der Jüngere“), und begann nicht nur wieder in literarischen Salons zu verkehren, sondern auch in den Landschlössern des Hochadels rund um Paris. Weitere Stücke entstehen. Durch das Erbe seines Vaters und eine Pension des Regenten Philipp war er 1722 finanziell gut gestellt, besuchte die Niederlande und begann ein Verhältnis mit einer adeligen Richtersgattin. 1723 machte er erstmals mit der Zensur Bekanntschaft, als ihm die Druckerlaubnis für „La Ligue“ verweigert wurde. 1725 wurde er Theatermanager für Ludwig XV.
1726 hatte er ein offenbar traumatisierendes Erlebnis mit dem Chevalier de Rohan Chabot, der ihn nach einer bissigen Antwort durch Lakaien verprügeln ließ, dem Unebenbürtigen trotz seines eigens genommenen Fechtunterrichts nachher jede Genugtuung verweigerte und dafür sorgte, dass er erneut in die Bastille gesperrt und dann nach England ins Exil abgeschoben wurde. Er lernte Englisch, begeisterte sich an der intellektuellen und wirtschaftlichen Aufbruchstimmung vor der industriellen Revolution sowie am parlamentarischen System, dichtete und kehrte 1728 nach Frankreich zurück.
„komplett weißes Buch“
Hier gelang ihm mit einem Bekannten der Coup seines Lebens: Durch den Aufkauf aller Lose der Pariser Lotterie machte er einen Reingewinn von 500.000 livres und konnte fortan sorgenfrei leben. Nach erneuten literarischen Querelen zog sich Voltaire 1733 auf das Schloss des Ehemanns seiner neuen Geliebten Émilie du Châtelet zurück, von dem aus er zehn Jahre lang ein unstetes Wanderleben mit einigen Auslandsreisen führen sollte, darunter erstmals nach Preußen. In diesem Jahrzehnt entstehen viele erfolgreiche Stücke, darunter die historische Tragödie „Mérope“. Nach der Erstaufführung wurde der anwesende Voltaire vom Publikum vor den Vorhang gerufen, ein Novum in der französischen Theatergeschichte. Mit 29 Aufführungen in Folge überstiegen ihre Einnahmen die aller vorherigen Aufführungen seiner Stücke.
1745 wurde er zum Landeschronisten sowie zum Königlichen Kammerherrn ernannt, im Jahr darauf zum Mitglied der Académie française gewählt. Nach dem Tod seiner Geliebten, ein wiederum traumatisierendes Ereignis, ging er 1750 als Kammerherr zu Friedrich dem Großen nach Sanssouci, mit dem er schon seit 1736 korrespondiert – und bei dem er nach dummen Finanzgeschäften in Ungnade fällt. 1751 konnte er in Berlin dennoch sein „Siècle de Louis XIV.“ herausbringen, eine Darstellung der französischen Geschichte des 17. Jahrhunderts. Darin wies er der Kulturgeschichte eine zentrale Rolle zu und setzte so der Geschichtsschreibung neue Maßstäbe. Vier Jahre später wird er mit dem „Versuch über die Sitten und den Geist der Nationen“ zum Begründer der Universalgeschichte.
1752 erscheint die philosophische Erzählung „Micromégas“, die manche als Ursprung der Gattung Science Fiction ansehen. Die Erzählung beschreibt den Besuch eines 24 Meilen großen Wesens vom Stern Sirius und seines Begleiters, das sich zu einem pazifistischen Manifest weitet. Am Ende verspricht Micromégas den Menschen, ein Philosophiebuch für sie zu schreiben, das in der Akademie der Wissenschaften geöffnet wird und sich als komplett weißes Buch entpuppt.
Obwohl sich Voltaires Familienverständnis in dieser Zeit durch familiäre Schicksalsschläge und das katastrophale Erdbeben von Lissabon 1755 wandelte, blieb er zunächst ein unsteter Reisender, der sich an Diderots „Encyclopédie“ beteiligte und den heute als sein bestes Werk geltenden philosophischen Kurzroman „Candide“ unter anderem auf Schloss Schwetzingen schrieb.
Der Protagonist – sein Name bedeutet „der Reine“ oder „der Treuherzige“ – prüft als Weltreisender die Lehre seines Meisters Pangloss, dass die Welt gut und alles Geschehen unausweichlich zum besten Ende bestimmt ist. Doch er lernt Machtgier, Grausamkeit, Feigheit und Undank kennen, die Rohheit der Menschen im Urzustand, die Galeerenstrafe, die Profitgier und Mordlust der Goldsucher in Amerika, er muss Krankheit und Schiffbruch erdulden und fällt Piraten in die Hände, kurz, er erleidet auf seinen Irrfahrten durch die Welt so viel Missgeschick, dass sein fester Glaube an die gut eingerichtete Welt ins Wanken gerät.
1758/59 kaufte Voltaire nahe Genf zwei Landgüter, die er bis zu seinem Tod erfolgreich sowie zum Vorteil seiner Pächter und Landarbeiter bewirtschaftete, für die er im Winter einträgliche Heimarbeit organisierte und ihnen als Wohltäter galt. Endlich sesshaft, erreichte sein Schaffen den Zenit und äußerte sich unter anderem in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ 1764, einer „messerscharfen Anleitung zum Selberdenken in 118 Stichworten“, meint Scheck. Erstaunlich hellsichtig erkennt Voltaire, dass alle Kriege früher oder später mit der Unterwerfung des Volkes enden, „weil die Mächtigen das Geld haben und das Geld in einem Staate alles entscheidet. Ich sage in einem Staate, denn im Verhältnis zwischen den einzelnen Nationen ist es nicht so. Die Nation, die den besten Gebrauch von Eisen macht, wird eine andere, die mehr Gold und weniger Mut hat, stets unterjochen.“
„das abscheulichste Volk der Erde“
Im Februar 1778 reiste Voltaire nach Paris, um der Uraufführung seines neuen Stücks „Irène“ beizuwohnen, wurde triumphal empfangen und konnte sich der Ehrungen und Einladungen kaum erwehren. Wenige Tage später starb er im Alter von 83 Jahren. Nur durch eine List seines Neffen erfuhr er ein kirchliches Begräbnis. 1791 wurden seine Gebeine ins Panthéon überführt, aber im Mai 1814 heimlich daraus entfernt; sie sind verschollen. Erst nach seinem Tod wurde nach und nach seine umfängliche Korrespondenz von 22.000 Briefen publiziert. Zu seinen Briefpartnern zählte auch die russische Zarin Katharina II., die nach seinem Tod seine Bibliothek erwarb, die sich heute in der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg befindet.
In einem Brief erkannte Voltaire: „Die letzten Ursachen werden wir erst erkennen, wenn wir Götter sind“. Seine Wirkung war immens. Er kämpfte für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, nicht aber für die Gleichheit von Status und Besitz: Arme und Reiche würde es immer geben. Als Staatsform favorisierte er die Monarchie, an deren Spitze er sich einen „guten König“ wie Friedrich II. wünschte. Er beteiligte sich am Sklavenhandel, schrieb aber auch dagegen an, war Kirchenkritiker und bezeichnete die Juden als „das abscheulichste Volk der Erde“. Er hinterließ mit weit über 700 Büchern, deren Urheberschaft er je nach Kalkül auch kurzfristig bis dauerhaft verleugnete, eins der umfangreichsten und umfassendsten Werke der Literatur- und Geistesgeschichte unseres Planeten.