„Die schönste Frau der Welt“
8. November 2019 von Thomas Hartung
Es dürfte nicht vielen Menschen gelungen sein, den Papst und Adolf Hitler gleichermaßen gegen sich aufzubringen – Hedy Lamarr gehört dazu. Mit 18 Jahren entstieg sie im Jugenddrama „Ekstase“ splitternackt einem See und wurde wegen der sieben Sekunden langen Sequenz über Nacht zur Skandalfigur. Zehn Jahre später wird der Schauspielerin das Frequenzsprung- (auch Bandspreiz-) verfahren patentiert, das eine störungssichere Funkfernsteuerung für Torpedos ermöglichte. Die ebenso vielseitige wie skandalträchtige Frau feierte nun ihren 105. Geburtstag.
Geboren wurde Hedwig „Hedy“ Eva Maria Kiesler am 9. November 1914 in Wien als Sohn eines Bankdirektors und einer Konzertpianistin. Beide Eltern waren Juden. Mit sechs Jahren soll sie ihre automatische Spieldose zerlegt haben, um die Mechanik zu verstehen. Sie besuchte eine Privatschule, erhielt Klavier-, Ballett- sowie Sprachunterricht und trainierte beim Wiener Ruderverein Austria. Schon 1930 schleicht sie sich heimlich von der Schule, um bei einer Filmfirma zu arbeiten, und spielte, nachdem sie die Schule abgebrochen hatte, erstmals eine kleine Rolle im Film „Geld auf der Straße“. Von Max Reinhardt entdeckt und ausgebildet, hat sie bereits in ihrem dritten Streifen „Man braucht kein Geld“ mit Heinz Rühmann und Hans Moser eine Hauptrolle.
Am 20. Januar 1933 feierte in Prag das Ehedrama „Ekstase“ (in Deutschland „Symphonie der Liebe“) Premiere: ein tschechoslowakisch-österreichischer Spielfilm von Gustav Machatý, der nicht nur die Zensurbehörden auf den Plan rief, sondern Hedy Kiesler auch die Tore zu Hollywood öffnete. Der Film erregte großes Aufsehen ob der ersten Nacktszene der Filmgeschichte sowie einer Liebesszene, die Kieslers Gesicht beim Orgasmus in Nahaufnahme zeigt. Erst nach Kürzungen und zwei Jahre später wurde der Film unter Tumulten in wenigen deutschen Kinos gezeigt, versehen mit der Warnung: „Dieser Film ist jugendverderbend“. In den USA bleibt er lange verboten.
Stilikone und Sexsymbol
Kiesler heiratete im Sommer 1933 den 14 Jahre älteren „Patronenkönig“ Fritz Mandl, einer der größten Waffenproduzenten Europas, der auch Geschäfte mit Hitler und Mussolini machte. Der extrem herrsch- und eifersüchtige Mann verlangte von seiner Braut nicht nur, zum Katholizismus zu konvertieren, sondern verbat ihr auch, weitere Filme zu drehen, und versuchte alle „Ekstase“-Kopien aufzukaufen, um seine Verbreitung einzuschränken, kam jedoch nie an das Original heran. Am gemeinsamen Wohnsitz, Schloss Schwarzenau in Niederösterreich, verkehrt Prominenz wie Ödön von Horváth oder Franz und Alma Werfel. Bei Geschäftsbesprechungen über Waffen ist sie eine stumme, aber aufmerksame Zuhörerin. Sie spürt, dass sie mit dem Mann keine Zukunft hat.
In einer Nacht im Frühjahr 1937 zog sie die Kleider eines Dienstmädchens an, schlich aus der Villa, schaffte es unbemerkt zum Bahnhof und floh zuerst nach Paris, dann nach London. Hier wurde sie von Hollywood-Mogul Louis B. Mayer, dem Gründer von MGM, entdeckt, der auf dem Kontinent „jüdische Talente“ rekrutierte. Weil er Imageschäden aus „Ekstase“ befürchtete, gab er ihr gleichzeitig den Künstlernamen Hedy Lamarr (La Mar, die aus dem Wasser Geborene) in Anlehnung an den Stummfilmstar Barbara La Marr und vermarktete sie als „schönste Frau der Welt“.
Hollywood überschlug sich, allerdings nicht wegen ihrer schauspielerischen Fähigkeiten, sondern wegen ihres Charismas und Aussehens. 1938 schafft sie durch die Mitwirkung in dem Streifen „Algiers“ an der Seite von Charles Boyer eine Sensation. Praktisch über Nacht kopiert jede Schauspielerin ihre Mittelscheitel-Frisur, brünett avanciert zur Modefarbe der späten Dreißigerjahre. Das Tragen von Hüten und anderen Kopfbedeckungen von Turbanen über Schleier bis zu teils mehrstöckigen Pagoden wird zu ihrem Markenzeichen. Sie galt als Stilikone, Sexsymbol und Vorbild für viele Frauen weltweit – eine Art Marilyn Monroe der Weltkriegsjahre. Ihr Konterfei diente als Vorlage für das Zeichentrick-Schneewittchen ebenso wie für Catwoman und zierte Jahrzehnte später als vektorisiertes Porträt das Grafik-Programm Corel Draw.
In dieser Zeit begann sie mit ihrem Komponistenfreund George Antheil – sein Vater war der erste Amerikaner, der im Kampf gegen die Nazis fiel – an ihrer Erfindung herumzutüfteln, die zunächst eher künstlerisch inspiriert war: Mehrere mechanische Klaviere untereinander und die Tonspur eines Films sollten synchronisiert werden. Lamarr, die sich als Gegnerin des Nationalsozialismus auf die Seite der Alliierten stellt, entwickelt daraus eine Funkfernsteuerung für Torpedos, in dem sie das Prinzip identischer Lochkarten, die bei automatischen Klavieren gleichzeitige Frequenzwechsel steuerten, auf die damals gebräuchliche Waffentechnik adaptierte.
War ein Torpedo über Funk gesteuert, konnte die Verbindung leicht gestört werden. Die Idee von Lamarr und Antheil: Wenn Torpedo und Steuerelement ständig und immer genau gleichzeitig die Frequenz wechseln, ist die Verbindung schwerer von außen zu verfolgen – und damit schwerer angreifbar. Damals nicht absehbar, hat das Frequenz-Hopping, das Springen zwischen den Frequenzen, die größte Bedeutung in der heutigen Digitaltechnik erhalten. Bluetooth und verschiedene WLAN-Standards setzen auf solche Sprünge nach einem Zufallsmuster, etwa um Sendeenergie von einem schmalen auf einen breiten Frequenzbereich zu streuen. So ist die Übertragung auch bei vielen Datenpaketen in einem Funkfrequenzbereich weniger störanfällig.
„Im Alter wurde sie bitter“
Mit Unterstützung eines Professors für Elektrotechnik am „California Institute of Technology“ bereiten sie das Patent zur Anmeldung vor. Am 11. August 1942 wird es vom Patentamt bewilligt – jedoch vom US-Militär aufgrund seiner Komplexität nicht umgesetzt: Lamarr solle lieber „Küsse gegen Kriegsanleihen“ verkaufen. Erst 1962, nach Ablauf des Patents, verwendeten einige Navy-Schiffe in der Kuba-Krise eine weiterentwickelte Version der Technologie. Heute dient sie als Grundlage für sämtliche Mobilfunk-Technologien von WiFi bis GPS. Sie hat den abhörsicheren Mobilfunk, drahtlose Netzwerkverbindungen und mobiles Internet erst möglich gemacht. Nichtsdestotrotz verdiente Lamarr bis zu ihrem Tod keinen Cent an ihrer und Antheils Erfindung.
Im Studio galt Lamarr als träge, wenig ambitioniert und relativ schwierig. Sie spielte gelegentlich gute Rollen, bspw. in der Verfilmung von John Steinbecks „Tortilla Flat“, doch meistens war sie, angeblich wegen ihres starken Akzents, als dekoratives Beiwerk etwa neben James Stewart und Clark Gable zu sehen. Ihr größter kommerzieller Erfolg war Cecil B. DeMilles Monumentalfilm „Samson und Delilah“ (1949), obwohl Groucho Marx mäkelte, ihr Partner Victor Mature habe „größere Titten“ als sie. Lamarr behauptete in späteren Jahren oft, sie habe viele gute Rollen abgelehnt, darunter „Casablanca“, wo Ingrid Bergman einsprang. Seit Ende der 1950er Jahre bekam sie keine Angebote mehr und gründete ihre eigene Produktionsfirma, der kaum Erfolg beschieden war. 1960 wurde sie mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt: 27 Filme hatte sie insgesamt gedreht.
„Trotz ihrer Intelligenz hatte sie oft in ihrem Leben kein glückliches Händchen – ob bei Männern oder Filmrollen“, erklärt Alexandra Dean, Regisseurin der Filmbiographie „Geniale Göttin“ (2018), in der Vogue. „Für ihre Zeit lebte sie unfassbar unkonventionell, führte sechs Ehen, hatte Affären mit Männern und Frauen, und verheimlichte nie, dass sie Drogen wie Extasy nahm. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, tat sie alles dafür.“ Aus ihren Beziehungen sind drei Kinder hervorgegangen. „Was immer ich gemacht habe, geschah aus Liebe“, bilanzierte sie einmal ihre amourösen Abenteuer, „andere haben es für Geld gemacht“.
„Im Alter wurde sie bitter. Sie ließ eine Menge Schönheitsoperationen vornehmen, wurde bei Diebstählen erwischt und trank sehr viel. Sie haderte mit dem Leben, fand niemals die wahre Liebe. In gewisser Weise war ihr Vater der Mann ihres Lebens. Er erkannte, wer sie wirklich war und liebte sie dafür – so etwas erfuhr sie später nie wieder“, beschreibt Dean ihre letzten Jahre. Durch ihren freiwilligen Verzicht auf Verteidigung und die Einwilligung zu einem Jahr Bewährungszeit wurde auf eine Anklage wegen der Diebstähle verzichtet. Ihre Autobiographie „Ecstasy and Me“ erschien 1967 und führte zu einer Schadensersatzklage gegen den Ghostwriter, da er die Fakten verdreht habe. Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte sie zurückgezogen in Florida.
„was hinter der Fassade steckt“
1997, drei Jahre vor Lamarrs Tod, verlieh ihr die amerikanische Electronic Frontier Foundation (EFF) – eine gemeinnützige Gesellschaft, die sich den Bürgerrechten im Internet widmet – immerhin noch einen Pioneer Award für ihre Erfindung. Die 82-Jährige ließ per Sprachaufnahme wissen: „Danke. Ich hoffe, Sie fühlen sich so gut wie ich und es ist nicht vergebens gewesen.“ Am 19. Januar 2000 stirbt sie in Altamonte Springs, Florida. Ihr letzter Wille war eine Rückkehr. Hedy Lamarrs Urne wurde am Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt, ihre Familie verstreute einen Teil ihrer Asche – entsprechend Hedys Wunsch – im Wienerwald beim Erholungsgebiet „Am Himmel“.
Verglichen mit Stars wie Jean Harlow oder Joan Crawford ist ihr Name heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, weiß aber immer noch zu faszinieren. 2017 erlebte das Stück „Sieben Sekunden Ewigkeit“ von Peter Turrini seine Premiere, angelegt als Bekenntnisgespräch der Hauptfigur gegenüber einem Polizisten. Auch der Dokumentarfilm von Dean hat mit den Arbeiten von Georg Misch (2004) und Fosco & Donatello Dubini (2006) zwei Vorläufer. „Dank ihrem Aussehen bekam Hedy viele Chancen, aber wurde nicht ernst genommen. Das war quasi das Dilemma ihres Lebens“, fasste Dean ihre Recherchen zusammen, die auch ein verschollenes, nie verwendetes Tonband-Interview Lamarrs mit der Forbes von 1990 zutage förderten. Sie sprach in diesen Aufnahmen sehr deutlich darüber, wie verärgert sie war, dass man sie immer unterschätzt hatte.
Das sah auch die Informatikerin Anja Drephal von der Humboldt-Universität Berlin bei der Jahrestagung des Chaos Computer Clubs 2016 so: „Es ist für Frauen immer noch schwer, in der Technik anerkannt zu werden – gerade für eine Frau wie Hedy. Ihre Schönheit hat den Blick verstellt auf das, was hinter der Fassade steckt“. Lamarr hatte ihre Perspektive in ein legendäres Bonmot gekleidet: „Jedes Mädchen kann glamourös sein. Es muss nur still stehen und dumm dreinschauen.“ Seit 2005 wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz an ihrem Geburtstag am 9. November der Tag der Erfinder gefeiert.