„Denn die Zuneigung ist etwas Rätselvolles“
29. Dezember 2019 von Thomas Hartung
„Abschreckungstheorie“, „Weltverbesserungsleidenschaft“ oder „Zärtlichkeitsallüren“ – was sich wie der Jargon postmoderner Journalisten liest, die lange nicht mehr von Sprachpapst Wolf Schneider geohrfeigt wurden, sind eigentlich altertümliche Wortschöpfungen eines Mannes, der Hamlet-Übersetzer, Dichter, Biograf, Dramatiker, Reporter, Kritiker und Journalist zugleich war, Briefe und Tagebücher schrieb – und daneben als poetisch-realistischer Romancier par excellence in die deutsche Literaturgeschichte einging: Theodor Fontane. Am 30. Dezember feierte er seinen 200. Geburtstag.
Der Sohn eines hugenottischen Apothekers aus Neuruppin, der Teile seiner Kindheit in Polen verbrachte, besuchte das örtliche Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, trat anschließend in die Gewerbeschule von Karl Friedrich Klöden in Berlin ein und hatte 1835 seine erste Begegnung mit seiner künftigen Frau Emilie Rouanet-Kummer. Im Jahr darauf brach er die Ausbildung an der Gewerbeschule ab, fing eine Ausbildung zum Apotheker an und veröffentlichte 1839 seine erste Novelle „Geschwisterliebe“. Nach dem Abschluss seiner Lehre begann Fontane als Apothekergehilfe in Burg bei Magdeburg und schrieb erste Gedichte.
Nach überstandenem Typhus arbeitete er als Apothekergehilfe in Leipzig, Dresden und schließlich in der Apotheke des Vaters in Letschin. Trotz des kurzen Aufenthalts wird Dresden eine bedeutende Rolle in seinem Leben spielen. Günter Grass‘ Anekdote aus „Ein weites Feld“, wonach der 23jährige mit einer 18jährigen Dresdner Gärtnerstochter angebändelt, eine Tochter mit ihr gezeugt, die Verbindung deshalb aufrechterhalten, 1849 eine zweite Tochter gehabt und erst mit seiner Heirat 1850 das Verhältnis beendet habe, ist zwar vorzüglich erfunden, hat aber mehr als einen wahren Kern.
nur um ihretwillen geschrieben
„Zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprösslings“, heißt es in einem lange unterdrückten Brief Fontanes vom 1. März 1849 an seinen Freund Bernhard von Lepel. „Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, dass ich überhaupt welche habe.“ Der Literaturhistoriker Bernd W. Seiler fand 1998 heraus, dass es sich bei der Mutter um Augusta Emilia Adelheid Freygang handelte, Tochter eines Dresdner Schankwirts, zweimal verheiratet und schon mit 36 Jahren zum zweiten Mal Witwe. Nach den Einträgen der Kreuzkirche bekam sie im Ganzen zehn Kinder, davon nachgewiesen fünf uneheliche von fünf verschiedenen Männern. „Denn die Zuneigung ist etwas Rätselvolles, die mit der Gutheißung dessen, was der andere tut, in keinem notwendigen Zusammenhang steht“, wird Fontane später sagen.
Nach dem ersten während seiner Apothekerzeit, übrigens eine Tochter, zeugte er das zweite Kind auf einem Osterausflug zu einem Dresdner Freund 1848. „Wozu gibt es auch zwei Feiertage?“ lässt er Botho in „Irrungen Wirrungen“ gegenüber Lene seufzen, „es wär uns beiden besser gewesen, der Ostermontag wäre diesmal ausgefallen“. In „Stine“ hat er seiner Liebschaft mit der Figur der Witwe Pauline Pittelkow, mit 30 Jahren verwitwet, von Männerbekanntschaften lebend und Mutter von zwei unehelichen Töchtern, ein Denkmal gesetzt. Nur so sei erklärbar, warum er sie so außerordentlich geschätzt hat, meint Seiler in der ZEIT: „Wieder und wieder betont er, dass sie, obwohl nur Nebenfigur, ihm die bei weitem wichtigste Gestalt des Romans sei, ja dass er diesen überhaupt nur um ihretwillen geschrieben habe.“
1844/45 leistete Fontane beim Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment Nr. 2 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger, ging an die Polnische Apotheke von Julius Schacht in Berlin und verlobte sich Ende 1845 mit Emilie. Zwei Jahre später erhielt er seine Approbation als „Apotheker erster Klasse“, kämpfte 1848 als Revolutionär auf der Straße, wurde als Wahlmann für die preußischen Landtagswahlen aufgestellt und publizierte radikale Texte in der Berliner Zeitungs-Halle. 1849 gibt er den Apothekerberuf zugunsten der Arbeit als Publizist auf, verfasst politische Texte in der Dresdner Zeitung und veröffentlicht sein erstes Buch „Männer und Helden: Acht Preußenlieder“.
1850 heiratet Fontane seine Emilie, die ihm im Jahr darauf den ersten gemeinsamen Sohn George schenkt – das Paar wird neben einer Tochter insgesamt sechs Söhne bekommen, von denen drei kurz nach der Geburt sterben. Im Jahr darauf tritt er in die Redaktion der konservativ-pietistischen Neue Preußische Zeitung ein, für die er 1864 über den Deutsch-Dänischen Krieg berichtet und bis 1870 tätig ist. Parallel lässt er sich bei der „Centralstelle für Preßangelegenheiten und Reisen nach London“ anstellen und arbeitet 1855 – 1859 als deutsch-englischer Korrespondent in London. Nach einem Intermezzo als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung reiste er zur Berichterstattung über den Deutsch-Französischen Krieg nach Paris, wurde unter falschem Verdacht als Spion verhaftet und erst nach einer Intervention Bismarcks wieder freigelassen.
1861 veröffentlichte Fontane das Buch „Grafschaft Ruppin“. Es erhielt als zweite Auflage bereits ein Jahr später den Obertitel „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Bis wenige Jahre vor seinem Tode überarbeitete Fontane diesen ersten Band, der insgesamt fünf Auflagen erlebte, änderte und ergänzte ihn und legte damit die Grundlage für sein späteres episches Schaffen. Nachdem er bis 1876 trotz kränklicher Konstitution mit seiner Frau diverse Reisen nach Österreich, Italien und in die Schweiz unternommen hatte, entschloss er sich, als freier Schriftsteller zu leben: „Ich fange erst an. Nichts liegt hinter mir, alles vor mir, ein Glück und ein Pech zugleich“, schreibt er seinem Verleger.
reale Vorbilder für Frauengestalten
Rasch findet er zu seinem eigenen auktorialen Erzählstil, den er nach Kleist oder E.T.A. Hoffmann zu weiterer Blüte führt: er gehört selbst nicht zur Geschichte, die er erzählt, sondern tritt deutlich als ihr Urheber und Vermittler in Erscheinung. Er ist also selbst nicht Teil der dargestellten Welt, sondern schildert sie „allwissend“ von außen, kann Zusammenhänge mit künftigen und vergangenen Ereignissen herstellen, diese kommentieren und Wertungen abgeben sowie Handlungen verschiedener Charaktere zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten schildern – aus einer kritisch-liebevollen, oft auch ironischen Distanz, die manchmal durchaus in Gesellschaftskritik umschlägt.
Wie schon im Falle Freygang/Pittelkow nutzte Fontane für seine bis heute beeindruckenden literarischen Frauengestalten reale Vorbilder. Die eigene Tochter Martha taucht als Corinna Schmidt im Roman „Frau Jenny Treibel“ auf, Margarete von Minden als „Grete Minde“ in der gleichnamigen Novelle, Karoline de La Roche-Aymon tritt als Gräfin Amelie von Pudagla im Roman „Vor dem Sturm“ und als Prinzessin Goldhaar im ersten Band der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf. Und die wilde, dreifach geschiedene „Krautentochter“, die Fontane im Sonderband „Fünf Schlösser“ verewigt hat, orientiert sich am Leben der Charlotte von Arnstedt.
Am bekanntesten wurde Elisabeth Baronin von Ardenne, geborene von Plotho, deren Leben als Vorbild für „Effi Briest“ diente. Sie war die Großmutter des wohl berühmtesten DDR-Atomphysikers Manfred von Ardenne, der sich in den 1950er Jahren in Dresden niederließ. Anders als Effi, die seelisch gebrochen mit nur 30 Jahren stirbt, wurde Elisabeth 98 Jahre alt, erlernte den bürgerlichen Beruf einer Krankenpflegerin und agierte trotz ihrer Lebenskrise – auch ihr Mann erschoss ihren Liebhaber, ließ sich scheiden und erhielt das Sorgerecht für die Kinder – unabhängig und selbstbestimmt. Der erst drei Jahre vor Fontanes Tod erschienene Roman war so erfolgreich, dass er gleich im Erscheinungsjahr fünfmal aufgelegt wird. Der Stoff wurde allein in Deutschland Ost und West sechsmal verfilmt, darunter mit Angelica Domröse, Hanna Schygulla und Anna Maria Mühe in der Titelrolle.
Neben „Effi Briest“ (1895) zählen „Irrungen, Wirrungen“ (1888) und der erst posthum im Verlag seines Sohnes Friedrich erschienene „Stechlin“ (1899) zu Fontanes großen Romanen. Im ersten erzählt Fontane von der Liebe zwischen einem Baron und einer Schneidermamsell, die nach Jahren doch standesgemäß heiraten: „Die Sitte gilt und muss gelten, aber dass sie’s muss, ist mitunter hart“, lässt er Lene sagen. Die Handlung des zweiten beschreibt er selbstironisch so: „Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.“ Damit bereitete er letztlich den Boden für Gesellschaftspanoramen wie Thomas Manns „Buddenbrooks“.
Daneben macht sich Fontane als Dichter von Balladen einen Namen, die auch oft reale Ereignisse bzw. Personen nachgestalten, darunter „John Maynard“ (1886) oder „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ (1889). Das 1887 entstandene Novellenfragment „Oceane von Parceval“ ist sein Versuch, in der Adaption einer„Melusine“-Gestalt die Mischung aus den Gefühlen von Bedrohung und Faszination zu fassen, der sich eine männlich dominierte bürgerliche Gesellschaft angesichts der Verbindung von Weiblichkeit mit archaischer, erotisch freizügiger Natürlichkeit gegenübersah.
„eine versunkene Welt“
Als Fontane 1892 eine Gehirnischämie überlebte, riet ihm sein Arzt, sich mit seinen Kindheitserinnerungen gesund zu schreiben. 1893 schließt er das Manuskript von „Meine Kinderjahre“ ab, bekommt die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Berliner Uni verliehen und erhält vom preußischen Kultusministerium eine lebenslange Ehrenpension. Kurz nach der Verlobung seiner Tochter Martha schläft Fontane am 20. September 1898 abends in seiner Berliner Wohnung friedlich ein und wird auf dem Friedhof der Französischen Reformierten Gemeinde an der Liesenstrasse beigesetzt.
Sowohl die Theodor-Fontane-Gesellschaft als auch das Theodor-Fontane-Archiv sowie eine Theodor- Fontane-Arbeitsstelle widmen sich heute seinem Leben und Werk, darunter der Edition seiner 76 Notizbücher. Nach ihm sind mehrere deutsche Literaturpreise benannt. Anlässlich seines 150. Geburtstages 1969 gaben die Deutsche Post der DDR eine Briefmarke und die Deutsche Bundesbank eine 5-DM-Gedenkmünze heraus. Zu seinen Ehren erhielt die nur im Großen Stechlinsee vorkommende Stechlin-Maräne den wissenschaftlichen Namen Coregonus fontanae. Und Fontane diente als Namenspatron für die Sendung „Theodor – Das Magazin aus Brandenburg“, die der rbb bis 2017 produzierte. Zwei unvollendeten Essays unterstellte Antisemitismus-Vorwürfe lösten sich 2000 auf.
Das Land Brandenburg hat unter dem Motto „fontane.200“ seit dem Frühjahr eine große Eventkampagne mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, 100 Kilometer-Wanderungen und gar einer eigenen Lego-Figur gefahren, um eine „neue Sicht“ auf den Klassiker aus dem bürgerlichen Zeitalter zu gewähren. Denn: „Der ganze, so überaus raffiniert ausgebreitete, dabei immer fein abschattierte und ironisch aufgeraute Anspielungshorizont seiner Werke bezieht sich auf eine versunkene Welt“, meint Tilman Krause in der Welt. „Wer nur in der Blase des Heute lebt, ohne historisches Bewusstsein und historische Kenntnisse, dem werden sich die unerhörten Reize dieser Bücher nicht erschließen.“