„wirklichkeitsbezogene Romantik“
3. Januar 2020 von Thomas Hartung
Zwischen 1589 und 1922 beherbergte die Georgenburg als Staatsgefängnis auf der Festung Königstein genau 993 Gefangene, darunter den später geköpften kurfürstlichen Kanzler Nikolaus Krell, den Porzellanerfinder Johann Friedrich Böttger und den Sozialdemokraten August Bebel – allesamt auf Staatskosten. Doch in den 1960er Jahren gab es einen Mann, der dort freiwillig mietete – samt Frau Ingeburg und ein paar Puppen, mit denen er sogar ein kleines Fernsehatelier einrichtete. Das Studio kostete im Monat, heute unvorstellbar, gerade 80 Mark der DDR. Der Mann hieß: Heinz Fülfe.
Fülfe war mit dem Festungsdirektor Dieter Weber befreundet und fand hier ideale Bedingungen vor, seinem Beruf – und seiner Berufung – nachzugehen. Der Maler, Bühnenbildner und Schauspieler schrieb und produzierte rund 900 Skripte für das DDR-Kinderfernsehen, davon 200 Abendgrüße des „Sandmännchen“. Er war nicht nur der Schnellzeichner Taddeus Punkt, sondern sprach als Bauchredner auch dessen Hund Struppi und lieh seine Stimme im Märchenwald der Frau Elster.
Nebenbei erfand er auch noch die Geschwister „Flax und Krümel“ – die erste Serie im deutschsprachigen Fernsehen, die ausschließlich für Kinder gedacht war. „Ich erinnere mich noch genau daran, wie mein Mann sagte: Wir machen eine Sendung … Ich flaxe gerne, Du bist klein wie Krümel und dann nehmen wir den Hund dazu, den Struppi“, erzählte Ingeburg 2005. Die Sendung würde am 22. Januar 65 Jahre. Ihr Ideengeber Heinz Fülfe, der mit seinem Gesicht und seiner Stimme das Kinderfernsehen über Jahrzehnte maßgeblich prägte, feierte am 5. Januar seinen 100. Geburtstag.
„vitale Stimmungen“
Geboren in Freiberg als Sohn eines Militärmusikers und einer Hausfrau, verbrachte er seine Oberschulzeit in Elsterwerda, wo er auch seine erste künstlerische Ausbildung beim Naturmaler Hans Nadler erhielt. Sein Abitur legte Fülfe in Pirna ab, wo er seine künstlerische Ausbildung bei Horst Lorenz fortführte. Danach begann er eine Lehre als Bühnenbildner am Staatstheater Dresden, wo er bei Adolf Mahnke lernte.
Im Zweiten Weltkrieg diente Fülfe als Soldat, geriet in Gefangenschaft, wandte sich nach der Rückkehr in die Heimat erneut dem Theater zu und wirkte seitdem als freischaffender Maler, Grafiker und Puppenspieler. Bereits 1946 hatte er seine erste Ausstellung. Gemeinschafts- und Personalausstellungen in Dresden, Freiberg, Pirna, Elsterwerda und Bad Liebenwerda folgten. Eine lange Freundschaft pflegte er mit dem Rottwerndorfer Maler Johannes Kotte, der als Szenenbildner beim Fernsehfunk und als Filmbildner im DEFA-Trickfilmstudio in Dresden arbeitete.
Fülfe schuf Temperablätter, Aquarelle und Ölbilder, bevorzugte einfache Sujets – Motive fand er in Landschaften im weitesten Sinne. „Seine Darstellungen sind nicht spektakulär, doch die vitalen Stimmungen, die leuchtenden Farben und das Spiel von Licht und Schatten ziehen den Betrachter in seinen Bann“, erkennt Tom Pfefferkorn im Onlinemagazin Erlpeter. Dabei ließe sich in seinen frühen Aquarellen und Tuschzeichnungen noch ein fester bildnerischer, streng nach Formgesetzen komponierter Aufbau konstatieren, meint seine Biographin Konstanze Krüger: „Nach zum Teil recht avantgardistischen Versuchen entwickelte Fülfe eine mehr den Lichtstimmungen unterworfene Malerei, in der auch Einflüsse des Impressionismus spürbar werden.“
Anfang der 1950er Jahre kam er als Bühnenbildner, Sänger und Schauspieler ans Volkstheater Pirna und später, als Gründungsmitglied der Pirnaer Puppenspiele, zum Puppentheater. Das hat in der Sächsischen Schweiz, vor allem durch die Figur des „Hohnsteiner Kasper“, der seine Probleme und Schwierigkeiten nicht mehr nur mit der Bratpfanne löst, sondern mit Humor und Einfallsreichtum, eine reiche Tradition; die Puppenspielfeste in Hohnstein und Bärenfels künden bis heute davon. Seiner Ausbildung gemäß war Fülfe für die Bühnenbildgestaltung und für die Darstellung der weiblichen (!) Rollen eingesetzt – sein modulationsfähiger Bariton, der sowohl ins Falsett kippen als auch ins Bauchreden wechseln konnte, half ihm dabei. Als Puppenspieler bediente er sich Figuren des Schnitzers Theo Eggink sowie des Bärenfelser Holzbildhauers Hellmuth Lange.
Die Sendungen lebten vom Universalgenie
Seit Anfang der 1950er Jahre trat er im Fernsehen der DDR in einer Vielzahl von Kindersendungen auf und lernt in Berlin auch seine zweite Frau Ingeburg kennen, die er 1955 heiratet und mit der er „Flax und Krümel“ aus der Taufe hebt – zwei Geschwister, die gemeinsam mit „Omi“ und „Struppi“ aufregende Erlebnisse im Alltag haben, von Fülfes auf Königstein gedreht und auch selbst gesprochen wurden und eine Weiterführung der Tradition der Hohnsteiner und Pirnaer Puppenspieler bedeuteten. Schon 1937 von Friedel Koster für die Puppenspiel-Truppe „Die Hohnsteiner“ entworfen, ließ Fülfe den Struppi wieder aufleben und machte ihn mit seiner Gestik und Stimme zu einer unverwechselbaren Figur.
Die sollte nicht nur zeitweise bei Pittiplatsch und Schnatterinchen, sondern vor allem bei Taddeus Punkt wohnen: Braune Kappe, weißer Kittel, blaue Hemdschleife – diese Figur eines Schnellzeichners und Geschichtenerzähler mit Malkohle und Zauberbleistift im Künstlergewand hat Heinz Fülfe gemeinsam mit dem Kinderbuchautor Günther Feustel erfunden. Sie feierte am 11. Juni 1959 im Abendgruß ihre Premiere und zählte zu den Identifikationsfiguren des DDR-Kinderfernsehens. Etwa 400 Mal erzählte Fülfe seine Geschichten voller Poesie und Phantasie und führte seine kleinen Zuschauer an diverse Orte der DDR. Dabei zeichnete er rasend schnell und oft ohne hinzusehen, während er in die Kamera sprach. Bis 1961 wurden die Abendgrüße sogar live gesendet, erst in Schwarzweiß, später in Farbe, und von der DEFA in Kooperation mit dem Fernsehen der DDR gedreht.
In den folgenden Jahren wurden die Arbeit für die Kinder und das Kinderfernsehen immer mehr zum Hauptinhalt seines Lebens – und dem seiner Frau. Die Sendungen lebten vom Universalgenie Fülfes, meint Pfefferkorn: „er schrieb Texte, entwarf die Szenenbilder, Requisiten wurden meist selbst ausgesucht, und auch Geräusche hat er selbst gemacht: Wohl jeder der damaligen Kindergeneration im Osten dieses Landes wird noch das unnachahmliche, sich ständig verändernde Quietschen und Knarren der Fuchsbautür im Ohr haben!“
Zum Alltag der „Macher“ befragt, erinnert sich Ingeburg Fülfe, dass weitere „Leute von der Pädagogik“ Mitspracherecht hatten: Manuskripte mussten vorgelegt werden, Themen wurden vorgegeben, zu denen Heinz Fülfe und eine ganze Anzahl weiterer Autoren wieder die Texte lieferten. „Dies lief im Großen und Ganzen recht groß zügig, es wurde nicht viel reglementiert – eine ‚Moral‘, die mit dem Holzhammer verabreicht wurde, stand nicht im Vordergrund… Es waren keine Moralstücke, sie kamen mit spielerischer Pädagogik daher, bestenfalls mit einem kleinen Zeigefinger und ein paar Lebensweisheiten.“ Günstig für das einigermaßen unbehelligte Arbeiten wirkte sich wohl auch aus, dass SED-Fernsehchef Heinz Adameck dem Kinderfernsehen sehr zugetan war.
mehrfacher Ehrenbürger
Zur Frage, ob die SED eine große Rolle spielte, meint sie rückblickend: „Wir waren keine Genossen, haben unsere Arbeit gemacht.“ Hieß es zu Beginn der 1970er Jahre offiziell noch, dass das Kinderfernsehen dazu beizutragen habe, dass sich die Mädchen und Jungen „für die allseitige Stärkung der DDR einzusetzen und ein von Optimismus, Freude und Frohsinn erfülltes Leben zu führen“ hätte, sprach man 1981 von „wirklichkeitsbezogener Romantik, die das Alltagsleben wirkungsvoll über eine platte ‚Alltäglichkeit’ hinaushebt“, meint Dieter Wiedemann in TELEVIZION. Es gehe darum. „das bereichernde Gefühl für die Schönheit der Kunst, für menschliche Beziehungen hervorzubringen und ideologisch-ästhetische Immunität gegen alles Banale und Fortschrittsfeindliche zu erzeugen“.
Diesen Leitsätzen fielen paradoxerweise Fülfes Kreationen zum Opfer. 1970 wurde „Flax und Krümel“, nach denen sogar Kindergärten benannt wurden, eingestellt; 1977 kam auch das Ende für Taddeus Punkt. „Das Bestärken von Wohlbefinden, Geborgenheit und Zukunftsgewißheit in der Gesellschaftsordnung einerseits und die Herausforderung andererseits, Einflüsse des ‚Westfernsehens‘ abzuwehren, indem man die Zuschauer an das eigene Programm binden wollte, ergaben einen auf die Dauer nicht lösbaren Widerspruch. Der Druck auf immer größere Attraktivität führte unaufhaltsam zu Prinzipienverlusten, Zugeständnissen und Unverbindlichkeit“, versuchte die Produzentin Ingelore König eine Erklärung.
Fülfes Studio wurde in den 70er Jahren durch das Trickfilmstudio Dresden übernommen; das Ehepaar zog endgültig nach Berlin. Gemeinsam mit zwei weiteren stimmlichen Universalgenies, den Puppenspielern Heinz Schröder (Pittiplatsch, Herr Fuchs, Frau Igel und Onkel Uhu) sowie Friedgard Kurze (Schnatterinchen, Hoppel, Borstel) gestaltet Fülfe jahrzehntelang das Grundinventar des „Märchenwalds“. Daneben ist er als Hörspielautor und -sprecher tätig und konnte einige Schallplatten mit Geschichten seiner Figuren veröffentlichen.
Für sein Wirken wurde er vielfach ausgezeichnet, darunter schon 1961 mit dem Nationalpreis der DDR. Bereits vier Jahre später erhielt er die Ehrenbürgerwürde der Stadt Pirna, 1989 auch die seiner Schulstadt Elsterwerda. Nach der Wende wurde er, wie das Fernsehen der DDR, „abgewickelt“. Eigentlich wollte er bis zu seinem 75. Lebensjahr für Kinder spielen, schreiben und zeichnen, und sich danach wieder der Malerei widmen. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen, der Tod hatte etwas dagegen. Der dreifache Vater starb am 5. Dezember 1994. Seinen Zauberbleistift gibt es nicht mehr – den hat ihm Ingeburg mit ins Grab gegeben.