„ich vergrub mich in meinen Beruf“
10. Februar 2020 von Thomas Hartung
Es war der linke Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, der ausgerechnet in der Jüdischen Rundschau eine Parallele zwischen der Sprache der AfD und der des Nationalsozialismus zog. Er berief sich dabei auf das „Notizbuch eines Philologen“ genannte Bändchen „LTI“ (Lingua Tertii Imperii, „Die Sprache des Dritten Reiches“), das der Dresdner Romanist Victor Klemperer kurz nach Kriegsende veröffentlicht hatte. Darin beschrieb er in 36 Kapiteln unter anderem, „wie die durch ständige Wiederholung erzeugte dauerhafte Präsenz sprachlicher Brutalität schon in kleinen Dosen dafür sorgt, dass sich ihre Muster in unseren Köpfen festsetzen“.
Stefanowitsch behauptete, dass man in der AfD gern „direkt an das Gedankengut oder wortwörtlich an die Sprache des deutschen Faschismus“ anknüpfe. „Die Präsenz solcher Formulierungen in der Öffentlichkeit sorgt aber jetzt schon dafür, dass uns jeder auch nur marginal weniger monströse Ausdruck als legitimer Teil des Meinungsspektrums erscheint – sei es die ‚Obergrenze‘, die ‚Angst vor Überfremdung‘ oder die ‚Grenzsicherung mit Schusswaffen‘.“ Abgesehen von der Normalität dieser Äußerungen – so musste der DLF schon am 30.01.2016 eingestehen: „Dass es ein Gesetz gibt, dass den Einsatz von Schusswaffen an der Grenze erlaubt, ist richtig.“ – blendet Stefanowitsch völlig aus, dass Klemperer in seinen Tagebüchern dieselbe Sprachverwendung auch dem „vierten Reich“ vorhält, dem Sozialismus der DDR.
Klemperer forderte etwa: „Man sollte ein antifaschistisches Sprachamt einsetzen“ und sieht „Analogien der nazistischen und bolschewistischen Sprache“. (4.7.45) Dabei bediene „man sich sämtlicher nazistischer Schlagworte, die wie ‚Leichengift wirken‘.“ (19.7.45) Klemperers Text bediene sich überdies bei der Charakterisierung der Sprache des bzw. im Faschismus durchgängig einer Krankheits- und Giftmetaphorik und bezeichne sie als eine „Infektion durch fremde Bakterien“, als „spezifisch deutsche Krankheit“ oder als „wuchernde Entartung deutschen Fleisches“, behauptet Siegfried Jäger. Er benutze also dieselben Kategorien zur Beschreibung einer Sprache, die er dieser Sprache anlaste. Der Urheber dieser umstrittenen Metaphorik starb am 11. Februar 1960 in Dresden.
„flache Dächer sind ‚undeutsch‘“
Victor wurde am 9. Oktober 1881 als neuntes und letztes Kind seiner Eltern Wilhelm Klemperer und Henriette in Landsberg an der Warthe geboren. Als Sohn eines Reformrabbiners kam er über Bromberg nach Berlin – sein Vater nahm eine Stelle als 2. Prediger der Berliner Reformgemeinde an. Wie auch seine älteren Brüder besucht er das Französische und später das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, verlässt es jedoch ohne Abschluss und beginnt 1896 eine Kaufmannslehre bei einem jüdischen Kurzwarenhändler, die ihm von seinen Eltern aufgenötigt wurde. Seine Jugend steht im Schatten seiner älteren Brüder, vor allem des bedeutenden Mediziners Georg und des gefragten Rechtsanwalts Berthold. Er beschreibt diese Jahre als demütigend und geprägt durch die Ablehnung seiner Familie und beginnt Tagebuch zu führen: „Leben sammeln“ sagt er dazu.
Auf eigenen Wunsch holte er 1900 das Abitur nach und begann anschließend 1902 das Studium der Philosophie und der romanischen und germanischen Philologie, das ihn bis 1905 nach Paris, Genf, München und Berlin führte. Den darauffolgenden Jahren als freier Publizist in Berlin verdankt er seinen geschliffenen Stil und die Liebe seines Lebens: 1906 heiratete er die Konzertpianistin und Malerin Eva Schlemmer, über die er in späteren Tagebuchaufzeichnungen notierte: „Immer war mir ganz wohl, wenn du bei mir warst.“
Nach dem Versuch, sich mit literarischen Arbeiten und Vorträgen in jüdischen literarischen Vereinen selbständig zu machen, nimmt er auf Drängen der Brüder, die sein Leben finanzieren, 1912 das Studium in München wieder auf und konvertiert zum Protestantismus. Der Übertritt wurde von den Nazis später nicht akzeptiert. Nach Studium, Promotion und zwei Jahren als Lektor in Neapel habilitiert er sich 1915 bei Karl Vossler mit einer aufsehenerregenden Arbeit über Montesquieu, die seinen Ruf als Wissenschaftler festigt. Im November 1915 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wird bis März 1916 als Artillerist an der Westfront eingesetzt, später bei der Militärzensur in Kowno (Litauen) und Leipzig, und bekommt den Bayrischen Verdienstorden.
1920 wurde er als Professor für Romanistik an die Technische Hochschule Dresden berufen. Bis 1935 veröffentlicht er wissenschaftliche Arbeiten zu französischer Literatur und Philologie – die Dresdner Jahre werden zu einer äußerst schöpferischen Zeit. Klemperer hatte sich im Spätsommer 1934 in wenigen Wochen unter sehr beschränkten finanziellen Mitteln von Architekt Karl Prätorius ein eigenes Wohnhaus im südlich gelegenen Vorort Dölzschen am Kirschberg 19 bauen lassen. „Eine drollige Schwierigkeit ergab sich“, schreibt er: „Die Bauvorschriften des Dritten Reiches verlangen ‚deutsche‘ Häuser, und flache Dächer sind ‚undeutsch‘. Zum Glück fand Eva rasch Freude an einem Giebel, und so wird das Haus also einen ‚deutschen‘ Giebel bekommen.“ Aber auch: „…der hinzugeforderte ‚deutsche‘ Giebel vermehrt die Kosten um 2300 M … verzweifeltes Hin-und Herrechnen“.
„Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands“
Obwohl jüdischer Herkunft, blieb Victor Klemperer während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland: „Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir.“ Nach Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes wurde er unter Federführung des Gauleiters Martin Mutschmann aus seiner Professur in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Seine Zeit verbrachte er nun mit wissenschaftlichen Studien im Japanischen Palais in Dresden, bis ihm als „Geltungsjude“ auch der Zugang zu Bibliotheken und das Abonnieren von Zeitungen und Zeitschriften untersagt wurden. Die Arbeit zur Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert musste ruhen; diese erschien in zwei Bänden erst lange nach dem Krieg. Umso intensiver widmete er sich seinen Tagebüchern – eine Loseblattsammlung, die er in regelmäßigen Abständen durch seine Frau bei einer befreundeten Ärztin in Pirna verstecken ließ und die die Grundlage für LTI bildete. „Ich muss daran festhalten: Ich bin deutsch, die anderen sind undeutsch; ich muss daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut“, notiert er. Die kommenden Jahre waren von Elend und Not gezeichnet.
Eva war mutig und ließ sich trotz großen Drucks nicht von ihm scheiden. Dies gab Victor Kraft und wurde für ihn zur Überlebenschance. In seinem Tagebuch schrieb er: „Evakuierung hiesiger Juden am kommenden Mittwoch, ausgenommen, wer über 65, wer das EK I besitzt, wer in Mischehen, auch Kinderloser, lebt. Punkt 3 schützt mich – wie lange?“ 1940 müssen Eva und Victor aufgrund der Nürnberger Rassengesetze ihr Haus verlassen und werden in ein „Judenhaus“ eingewiesen. Die Stimmung war angespannt, die Ernährungsversorgung schlecht, Victor zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Ständige gewaltsame Haussuchungen der Gestapo deprimierten beide zusätzlich. In der Zeit des Bangens setzt sich Klemperer intensiv mit dem Judentum auseinander und gibt auch die Hoffnung nicht auf: „Es fallen so viele rings um mich, und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegen“.
Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 bedeutete für ihn die Rettung vor der bevorstehenden Deportation, denn das Judenhaus, in dem er lebte, stand sofort in Flammen. Klemperer floh mit seiner Frau bis nach Bayern – ihren Namen hatten sie mit einem Punkt und einem „Millimeterstrich“ zu „Kleinpeter“ gefälscht – und kehrten nach Ende des Krieges nach Dresden zurück. Die deutsche Bürokratie verlangte auch von Klemperer das Ausfüllen eines „Entnazifizierungs-Fragebogens“, der in seiner Personalakte im Universitätsarchiv verwahrt wird. Dort lesen wir in den Fragen nach der „Wohnung von Februar 1933 bis 7. Mai 1945“ und nach den Vermögensverhältnissen eine Dresdner Adresse und die Angabe „dann in verschiedenen Judenhäusern der Stadt Dresden“. Im Januar 1933 war er „o. Prof. u. 14000 Jahresgehalt“, im Januar 1945 „in Zwangsarbeit, vermögenslos, Stundenlohn netto um 40 Pf“ – Klemperer war Packer in einer Teefabrik und Hilfsarbeiter im Dresdner Güterbahnhof. Und geradezu graphisch spürbar sind Distanzierung und Verachtung, wenn er bei der Frage „Waren Sie jemals Mitglied der NSdAP?“ ein einziges 10 Zentimeter großes „NEIN“ schreibt.
„Sie lügen und stinken alle beide“
Sofort nimmt Victor Klemperer seine Tätigkeit als Professor an der Technischen Hochschule Dresden wieder auf. 1946 schrieb er alten Freunden: „Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands mitarbeiten, dass wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.“ Doch er meint auch: „Nie mehr werde ich ungezwungen sein.“ Zusammen mit Eva tritt er in die KPD ein: „Ich glaube, dass wir nur durch allerentscheidendste Linksrichtung aus dem gegenwärtigen Elend hinausgelangen und vor seiner Wiederkehr bewahrt werden können.“ 1947 veröffentlichte er „LTI“. „Für Klemperer war die Erforschung der Nazi-Sprache nicht nur eine wissenschaftliche Beschäftigungstherapie, bei der er die Wörter wie bizarre Käfer bestaunte, die aufgespießt in einer Glasvitrine gesammelt lagen. Nein, er hielt die Begriffe auch für Erreger, die geholfen hatten, ein ganzes Volk mit dem Geist der Nazis zu infizieren“, meint Matthias Heine. Nach der Volkskammerwahl 1950 zog er als Abgeordneter des Kulturbunds DDR in die Volkskammer ein.
Wie stark der Personalbedarf in der Ostzone war, zeigt sich daran, dass er zeitweise parallel an den Universitäten Halle, Greifswald und Berlin tätig war. Aus Halle und Berlin ist überliefert, dass sich Klemperer vor seinen Vorlesungen verbeugte und dann frei sprach, ausgestattet nur mit einem kleinen Zettel mit einigen Daten und Zahlen, den er seinen „Schnuller“ nannte. Am 8. Juli 1951 stirbt Eva Klemperer. Im Jahr darauf fand er in seiner Studentin Hadwig Kirchner, die 1952 seine zweite Frau und seine spätere Herausgeberin wurde, noch einmal ein spätes Glück. „Hadwig ist die Pragmatische, die psychisch Stärkere in dieser Beziehung. […] Nun, an seiner Seite, setzt sie seiner Atemlosigkeit, seinem Arbeitstempo und seinem bisweilen verzehrenden Drang nach später gesellschaftlicher Anerkennung ein ausgleichendes Moment entgegen“, befand Peter Jacobs in der Berliner Zeitung. Oft hat er das Gefühl, Eva mit Hadwig und Hadwig mit Eva zu betrügen. Dennoch gibt ihm die Beziehung neue Lebensenergie.
Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften bemühte er sich seit 1953, der französischen Sprache eine angemessene Stellung in der DDR einzuräumen: „Er will die klassenkämpferischen Kurzschlüsse vulgärmarxistischer Interpretatoren von der DDR-Romanistik fernhalten und zugleich eine linguistischen Feldzug gegen die ‚amerikanische Zerreißprobe‘ führen“, behauptet Jacobs. „Wenn man einen Vortrag über Balzac, Rabelais, Zola oder Stendhal brauchte, schrieb man ihm, und dann kam er, auch in die kleinste Stadt“, erzählt Hadwig Klemperer. Er erhält den Nationalpreis und den Vaterländischen Verdienstorden und wird nach seinem Tod neben seiner Frau auf dem Friedhof Dölzschen begraben.
Seine Rezeption war und ist ambivalent. Zwar wird er in der DDR, die über seine Sprachkritik hinweggeht, vereinnahmt: eine Straße in Dresden-Räcknitz und ein Hörsaal an der TU Dresden sind nach Klemperer benannt. Doch er stand dem Staatswesen zeitlebens kritisch gegenüber. „Die Präsidentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. Mir ist nicht wohl dabei. Ich weiß, wie alles gestellt und zu Einstimmigkeit vorbereitet ist. Ich weiß, dass es nazistisch genauso geklungen hat und zugegangen ist“, notiert er; später gar „Ich weiß, dass die demokrat. Republik innerlich verlogen ist, die SED als ihr Träger will die soz. Republik, sie traut nicht den Bürgerlichen, und die Bürgerlichen misstrauen ihr. Irgendwann gibt es Bürgerkrieg“. Dennoch zieh ihn 1949 die bayrische Presse nach einem Vortrag in Schwabing einer „verkalkten Senilität, die sich zu Propagandazwecken missbrauchen lässt“, nannte ihn „Salonbolschewist“. Am 18. Oktober 1957 zeigt er sich zutiefst resigniert: „Im Übrigen wird mir die Politik immer widerlicher. Sie lügen und stinken alle beide, Osten und Westen, gar zu sehr“.
Gefahren beider Diktaturen unterschätzt
Im einigen Deutschland wird er wieder von links vereinnahmt: so wurde 2000 ein Jugendwettbewerb für Demokratie und Toleranz des gleichnamigen Bündnisses nach ihm benannt. Beim ersten Wettbewerb war Hadwig Klemperer in der Jury noch mit dabei und plädierte gemeinsam mit Hildegard Hamm-Brücher für eine schöne kleine Schülernovelle. Aber der Text schien den Juroren zu betulich, „sie schauten mehr auf Plakate oder Spiele, was mehr Publicity macht“, ärgerte sie sich in der Berliner Zeitung. Beim nächsten Mal lud man die beiden altmodischen Damen gar nicht mehr ein.
Seine Tagebuch-Editionen tragen Zitat-Titel wie „Und so ist alles schwankend“ oder „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen“. Sie wurden nach einer verlegerischen Posse ab Mitte der 90er Jahre vom Ostberliner Aufbau-Verlag publiziert, in den ersten Jahren in mehr als 150 000 Exemplaren verlauft und die Übersetzungs- und Nachdruckrechte für Verlage aus 13 Ländern lizensiert: allein Random House zahlte für die USA-Rechte eine halbe Million Dollar. Die Posse: Hadwig hatte mit dem Dresdner Journalisten Uwe Nösner bereits eine 80teilige Zeitungsserie editiert, die ab Mai 1987 in der Union (später DNN) unter dem Titel „Alltag einer Diktatur“ erschien und viele Menschen als Sensation empfanden. Ein Herausgebervertrag mit dem Verlag der Kunst Dresden, datiert vom September 1990, führte zu einem fertigen Manuskript mit einem Nachwort des Schriftstellers Peter Gehrisch. Doch die Edition kam nie zustande, die Gründe sind bis heute unklar.
Als Victor Klemperer 1996 postum den Geschwister-Scholl-Preis für seine Tagebücher verliehen bekam, erwähnte Laudator Martin Walser ausdrücklich Nösners Leistung, der allerdings erst Tage später davon erfuhr und 2018 vergessen starb. Aufbau-Herausgeber Walter Nowojski hingegen, der die Vorarbeit des Journalisten nicht mal in einer Fußnote erwähnte, was die FAZ „eine editorische Todsünde“ nannte, saß in München im Festsaal und nahm mit der Witwe den Preis entgegen. Der US-Kulturhistoriker Peter Gay pries den Dresdner Chronisten als den „vielleicht größten Tagebuchschreiber deutscher Sprache“; von „einem lebendigen Dokument geistiger Souveränität gegenüber Demütigungen und Terror“ weiß Ulrich Baron im Spiegel. Der „vollkommene Idealist“ habe „die Gefahren beider Diktaturen unterschätzt“, bilanzierte Martin Doerry im selben Blatt.
Seit Jahren, schrieb Klemperer kurz vor seinem Tod einem Neffen, habe er „nichts anderes getan“, als „ständig und ergebnislos zu opponieren“. Die Dresdner kürten ihn in den DNN zu einem der „100 Dresdner des 20. Jahrhunderts“. 1999 zeigte die ARD „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ als zwölfteilige Fernsehserie nach einer um erfundene Episoden erweiterten Bearbeitung von Klemperers Tagebüchern. Doch Hadwig schaltete die Serie, die voller historischer Unrichtigkeiten steckte, in der das Milieu nicht stimmte und die die Charaktere Victors und Evas Hollywood-like zurecht fälschte, schon im zweiten Teil ab: „Der Film hat mich schwer beleidigt“. Sie starb nach 50jährigem Witwenleben 2010 kinderlos in Dresden und wurde auf dem Alten Katholischen Friedhof beigesetzt.