„Ottoline gab ihr Bestes“
1. Februar 2020 von Thomas Hartung
Drei „überwältigende Leidenschaften“, bekennt der intellektuelle Don Juan mit der Liebe zur Geometrie im ersten Teil seiner Lebensbeichte, hätten sein Leben beherrscht: „das Verlangen nach Liebe, das Streben nach Erkenntnis und das Erbarmen mit der leidenden Menschheit“. Viermal verheiratet – drei Ehen wurden geschieden, und im Alter von 80 Jahren heiratete er seine vierte Frau, die amerikanische Schriftstellerin Edith Finch –, konzentriert sich Bertrand Russel in seinen veröffentlichten Erinnerungen allerdings nur auf zwei Leidenschaften: Liebeslust und Wissensdurst. Der Pazifist, Sozialist und Literaturnobelpreisträger, der als Vater der Analytischen Philosophie und Urheber vieler bis heute zitierter Bonmots gilt, starb vor 50 Jahren.
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, dass die Dummen todsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind“, gehört zu diesen Bonmots eines Freidenkers, der seine Kindheit und Jugend später als unglücklich beschreibt. Bertrand Arthur William Russell wird am 18. Mai 1872 als zweiter Sohn in einer einflussreichen britischen Adelsfamilie geboren; der Großvater John Russell, erster Earl Russell, war viele Jahre lang Regierungsmitglied, zeitweise Premierminister unter Queen Victoria. Die Atmosphäre seines Elternhauses muss grotesk bis skurril gewesen sein. So hatten zum Beispiel die Eltern dem ebenso atheistischen wie tuberkulösen Hauslehrer von Russells älterem Bruder verboten, zu heiraten. Sie wollten nicht, dass er Kinder zeuge und diesen die Krankheit vererbe. Gleichwohl empfanden sie das Verbot als unfair, und Russells Mutter milderte das Zölibat, indem sie dem Hauslehrer erlaubte, bei ihr zu schlafen.
Als innerhalb weniger Jahre beide Eltern und auch der Großvater sterben, übernimmt die Großmutter die Erziehung der beiden Jungen. Von dem viktorianischen Lebensstil seiner Großeltern, besonders den strengen moralischen Ansichten der Großmutter, fühlte sich der Knabe angezogen und zugleich abgestoßen. Um die zahlreichen Verbote zu umgehen, gewöhnte er sich daran, seine Umgebung zu täuschen – ein Charakterzug, von dem er selbst bekennt, er habe ihn bis zu seinem 21. Lebensjahr beherrscht. Gerade elf Jahre alt, entdeckte Russell sein Interesse und seine Begabung für die Mathematik und erlernt unter Anleitung seines Bruders Geometrie. Fast zur gleichen Zeit wurde er von einem Freund sexuell aufgeklärt. Russell heute: „Was er erzählte, fand ich sehr interessant, obgleich ich keinerlei Erregung dabei fühlte.“ Gleichwohl beeindruckte ihn die kindliche Einweihung in das Liebesleben so sehr, dass er in diese Zeit seine Erkenntnis datiert, freie Liebe sei das einzig Vernünftige und die Ehe nichts anderes als ein Ausdruck christlichen Aberglaubens.
Mathe und Sex
Fortan galt Russells Interesse laut eigenem Bekenntnis der Mathematik gleichermaßen wie dem Sex. Seine bevorzugte Lektüre war ein medizinisches Wörterbuch. Gemeinsam mit einem Freund baute er einen ganzen Winter lang an einer Höhle, in der er sich dann mit einer Hausangestellten vergnügte. Erst als sich das Mädchen weigerte, eine Nacht mit ihm zu verbringen, endete das erotische Abenteuer. Seit 1890 studierte Russell in Cambridge Mathematik und Philosophie. Dort lernte er den elf Jahre älteren Alfred North Whitehead kennen, für den ebenso wie für Russell die Mathematik das Ideal der Philosophie war. Acht Jahre lang, von 1902 bis 1910, arbeiteten Russell und Whitehead gemeinsam an einem der bedeutendsten Werke des europäischen Geisteslebens, den „Principia mathematica“ („Prinzipien der Mathematik“), die Russell den Ruf eines Begründers der modernen Logik einbrachten und noch über fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen als das Standard-Werk dieser Disziplin galten.
Angeregt durch seine Studien über Gottfried Wilhelm Leibniz und den heute vergessenen Jenaer Mathematiker Gottlob Frege, die eine Synthese von Mathematik und Logik postuliert hatten, versuchte Russell gemeinsam mit Whitehead die gesamte Mathematik aus einigen logischen Axiomen abzuleiten. Mitten in der Arbeit entdeckt er, dass die von Georg Cantor wenige Jahre zuvor eingeführte Definition einer Menge (als Zusammenfassung von Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen) zu einer Unvereinbarkeit, einer Antinomie, führt, die seitdem den Namen Russellsche Antinomie trägt: Eine Menge, die alle Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten, ist ein Widerspruch in sich. Später gibt Russell selbst folgende „populäre“ Einkleidung des Problems an: Man kann einen Barbier definieren als einen, der alle diejenigen rasiert, und nur diejenigen, die sich nicht selbst rasieren. Die Frage ist: Rasiert der Barbier sich selbst?
Im gleichen Jahre, in dem Russell sein Studium in Cambridge begann, lernte er die anmutige Alys, Tochter eines amerikanischen Quäkers, kennen. Fasziniert von ihrer natürlichen Selbständigkeit, die für ihn so ganz anders war als die schüchternen englischen Mädchen, verliebte er sich und beschloss, sie zu heiraten. Seine adlige Verwandtschaft versuchte mit ausgefallenen Tricks, eine Ehe zwischen dem jungen Studenten und der, wie sie meinten, „gewöhnlichen Abenteurerin und Kindsräuberin“ zu verhindern. So brachten sie den alten Familienarzt dazu, dem liebestollen Mathematiker einzureden, in Russells Familie seien zahlreiche Fälle von Geisteskrankheit aufgetreten. Würde er heiraten und Kinder zeugen, müsste er damit rechnen, dass sie nicht normal sein würden.
Als das Pärchen daraufhin beschloss, gleichwohl zu heiraten, aber keine Kinder zu haben, wurde der alte Familiendoktor erneut in Marsch gesetzt. Der Gebrauch von Verhütungsmitteln, drohte der Arzt nun, schade der Gesundheit, und Russells Familie fügte dem ärztlichen Verdikt hinzu: Auch Vater Russell habe Verhütungsmittel benutzt und sei deshalb an Epilepsie erkrankt. Schließlich schickten sie den damals 22jährigen nach Paris, hoffend, er werde dort Alys vergessen. Drei Monate später fand die Hochzeit statt.
„Asyl für gemeingefährliche Geisteskranke“
Mit seiner Heirat begann eine Periode fruchtbaren Schaffens. Frei von „emotionellen Hemmungen“ (Russell) konnte er sich ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmen. In ununterbrochener Folge veröffentlichte er philosophische und mathematische Untersuchungen sowie, als Ergebnis eines Aufenthalts in Berlin, eine Studie über die deutsche Sozialdemokratie, über die er damals schrieb, sie sei eine der revolutionärsten sozialen Bewegungen Europas. In dem Artikel „The teaching of Euclid“ zeigt er die Schwächen im logischen Aufbau der „Elemente“ auf – ein Kritiker bemerkt einige Jahre später: Euklids Hauptfehler war es, dass er Russells Veröffentlichungen nicht gelesen hat. Russel arbeitet nun als Dozent für Mathematik und Logik am Trinity College.
Als er 1910 die „Principia“ beendete, war seine Leidenschaft für abstraktes Denken vorerst gestillt. Sein „Verlangen nach Liebe“ aber vermochte Ehefrau Alys nicht mehr zu befriedigen. Nach 16 Ehejahren entdeckte Russell: Sie ist eine Spießbürgerin, die nur „Nachthemden aus Flanell“ trägt. Dafür fand der liebeshungrige Denker bei Lady Ottoline Cavendish-Bentinck, der Frau eines liberalen Politikers, Erholung vom häuslichen Flanell. Fast sechs Jahre lang – die Ehe mit Alys wurde 1921 geschieden – bestand das Liebes-Dreieck Lady Ottoline, Ehemann Morrell und Herzensfreund Russell alle Fährnisse. Über den 28. Juli 1914 – mit diesem Jahr endet Russelis erster Memoiren-Band – notiert der Autor: „An diesem Tag erklärte Österreich Serbien den Krieg. Ottoline gab ihr Bestes.“ Das College entzieht ihm seine Stelle, als er sich – entsetzt über die allgemeine Kriegsbegeisterung und Barbarei des Ersten Weltkriegs – öffentlich für Kriegsdienstverweigerung einsetzt. 1918 wird er wegen seiner Aktivitäten zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt, die er wiederum zum Schreiben nutzt.
Eine anfängliche Sympathie für das sozialistische Experiment in der Sowjetunion endet, nachdem er 1920 die Sowjetunion besucht und mit Lenin Gespräche geführt hat; „ein Asyl für gemeingefährliche Geisteskranke, wo die Wärter die schlimmsten sind“, sagt er später. Im selben Jahr übernimmt er eine Gastprofessur in Peking und beschäftigt sich eingehend mit der chinesischen Kultur. Nach der Rückkehr bestreitet er seinen Lebensunterhalt als Autor zahlreicher Bücher zu unterschiedlichen Themen, darunter auch populärwissenschaftliche Bücher über Atomphysik und Relativitätstheorie, aber auch über Politik und Erziehung. Zusammen mit seiner zweiten Frau gründet er nach vergeblicher Suche einer geeigneten Schule für seine beiden Kinder die antiautoritäre Privatschule in Beacon Hill – von der er später einräumt, dass seine Vorstellungen nicht realisiert wurden. Erfolglos kandidiert er für die Labour Party.
Aufsehen erregen vor allem zwei Bücher. In „Why I Am Not a Christian“ (1927) setzt sich der Atheist Russell kritisch mit der Religion auseinander, die er im Allgemeinen, insbesondere aber das Christentum, für ein Übel hält, eine „Krankheit, die aus Angst entstanden ist“. Besonders Islam, Judentum und Christentum seien in ihrem Kern überdies „Sklavenreligionen“, die bedingungslose Unterwerfung verlangten: „Die ganze Vorstellung vom herrschenden Gott stammt aus den altorientalischen Gewaltherrschaften. Es ist eine Vorstellung, die eines freien Menschen unwürdig ist.“ „Marriage and Morals“ (1929) ist ein Plädoyer für eine freie Sexualmoral: „Moralisten sind Leute, die sich jedes Vergnügen versagen, außer jenem, sich in das Vergnügen anderer Leute einzumischen“. Das Problem Ehekrise brachte er darin auf die lapidare Formel, „dass die Menschen anscheinend, je zivilisierter sie werden, desto unfähiger sind, mit einem einzelnen Partner glücklich zu sein“.
„Sokrates unserer Zeit“
1936 heiratet er zum dritten Mal und übernimmt Lehraufträge an den Universitäten in Chicago und Los Angeles. Seine Berufung an die Universität von New York kommt nach dem Protest fundamentalistischer Christen nicht zustande; diese sehen die Moral der Studenten gefährdet, weil er Ehebruch und Homosexualität befürworte. Während des Zweiten Weltkriegs gibt er seinen unbedingten Pazifismus auf, drängt sogar auf einen Präventivschlag gegen die Sowjetunion. Nachdem auch diese über Atom- und Wasserstoffwaffen verfügt, engagiert er sich für den Erhalt des Weltfriedens – ein dritter Weltkrieg würde die Existenz der Menschheit bedrohen.
1948 überlebte er auf dem Weg zu einem Vortrag einen Flugzeugabsturz: Das Flugboot krachte in den Hafen von Oslo. Neunzehn Personen ertranken. Russell rettete sich durch Schwimmen, legte sich im Hotel ins Bett und erholte sich bei einem Detektivroman. Am nächsten Tag sprach er in der Universität. 1950 wird ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, „als eine Anerkennung für seine vielseitige und bedeutungsvolle Verfasserschaft, worin er als Vorkämpfer der Humanität und Gedankenfreiheit hervortritt“; „Ehe und Moral“ wird dabei gewürdigt und kann erst jetzt auf Deutsch erscheinen. Zusammen mit Albert Einstein verfasst er 1955 ein Manifest zu den Folgen des Einsatzes von Nuklearwaffen und begründet die seitdem regelmäßig tagende Pugwash-Konferenz zu Abrüstungsfragen und zur Verantwortung der Naturwissenschaftler; die Einrichtung erhielt 1995 den Friedens-Nobelpreis.
1957 beginnt er die „Campaign for Nuclear Disarmament“ und wird deren erster Präsident. Vier Jahre später wird der 89-Jährige wegen Teilnahme an einem Sitzstreik in London zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt, die nach einer Woche im Gefängnis-Krankenhaus aus Gesundheitsgründen erlassen wird. In der Kuba-Krise 1962 wendet er sich mit eindringlichen persönlichen Botschaften an Chruschtschow und Kennedy, um den drohenden Atomkrieg zu verhindern. 1963 gründet er die Bertrand Russell Peace Foundation, die sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzt. 1966 ruft diese zum „Vietnam War Crimes Tribunal“ auf, die mit einem „Schuldspruch“ der USA endet wegen Verbrechen gegen den Frieden sowie des Bruchs des internationalen Rechts und der Charta der Vereinten Nationen. Unklar ist, welche Rolle Russels Privatsekretär Ralph Benedict Schoenman spielte, ein ebenso intelligenter wie fanatischer Princeton-Absolvent, dem Russel alle Freiheiten ließ.
Noch als 77jähriger klettert er mit Vorliebe in den Bergen von Nordwales herum, raucht ununterbrochen Pfeife und hält nichts auf seine Kleidung. Nur auf seine weiße Löwenmähne ist er stolz. Dabei bedeutet sein Name eigentlich „der kleine Rotkopf“. In seinen Lebenserinnerungen blickt er auf ein ereignisreiches Leben zurück – vielfach wurden ihm Ehrungen zuteil, selten verhielt er sich konform, aber stets getreu zu seinen zehn Geboten, wie er sie im Jahr 1951 formulierte, zum Beispiel: „Fühle dich keiner Sache völlig gewiss“ oder „Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch.“ In siebzig Jahren schrieb oder diktierte er etwa siebzig Bücher, mitunter eines in zwanzig Tagen. Als er, nach eigenem Bekenntnis, für die Mathematik zu dumm wurde, ging er über zur Philosophie; zur Geschichte und Politik, als er für die Philosophie zu dumm geworden war. „Was kein Kompliment für Geschichte und Politik ist“, befand Golo Mann. „Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben“ ist ebenso eine Russel’sche Weisheit wie „Das größte Risiko auf Erden laufen die Menschen, die nie das kleinste Risiko eingehen wollen“. „Englands Glamour-Greis“, wie ihn der Spiegel nannte, der „Sokrates unserer Zeit“, wie ihn sein Kollege A. L. Rowse hofierte, starb am 2. Februar 1970.