„Verkaisere nicht“
16. März 2020 von Thomas Hartung
Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) bekam sich in seinen Erinnerungen kaum ein: „Bei der Lektüre der Selbstbetrachtungen des Mark Aurel hatte ich jedoch zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses Buch ein für mein weiteres Leben richtungsweisendes Buch werden würde. Meine unmittelbare Empfindung war: So will ich auch werden. Einige Jahre später habe ich das Buch mit in den Krieg genommen. Vor allem die beiden Tugenden, die Mark Aurel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt, sprachen mich auf der Stelle an: die innere Gelassenheit und die bedingungslose Pflichterfüllung. Wobei ich damals allerdings noch nicht so weit war, zwischen dem Prinzip der Pflichterfüllung und der Pflicht selbst zu unterscheiden.“ Der so Gewürdigte starb am 17. März 180 gerade 58jährig in Vindobona (Wien) an einer Seuche.
Er war zwei Jahrzehnte zuvor Kaiser geworden – wie seine Amtsvorgänger durch Adoption. In den knapp zwanzig Jahren seiner Herrschaft hat er manches wieder eingeführt, was seine Vorgänger abgeschafft hatten, etwa die Sklavenfolter. Er nahm die Christenverfolgung wieder auf und begann nach fünfzig Friedensjahren, zur Festigung des Reiches erneut massiv Kriege zu führen. Seine wichtigste Aufgabe sah er in der Abwehr der Barbaren im Nordosten und in Kleinasien. So verbrachte Mark Aurel sein letztes Lebensjahrzehnt vorwiegend im Feldlager und verfasste hier die „Selbstbetrachtungen“, die ihn der Nachwelt als Philosophenkaiser überliefert haben und von manchen der Weltliteratur zugerechnet werden.
Geboren wurde Marcus Aelius Aurelius Verus am 26. April 121 in Rom, wo er eine behütete Kindheit verbrachte. Seine beiden Großväter waren Konsuln, die Schwester seines Vaters war mit Kaiser Antoninus Pius verheiratet. Als er acht Jahre alt war, starb sein Vater. Der junge, wahrheitsliebende und sehr ernsthafte Marc Aurel fiel bereits Kaiser Hadrian auf, der seine Erziehung überwachte und ihn unterrichten ließ. In Rhetorik etwa von Marcus Cornelius Fronto, mit dem er einen regen, teilweise erhaltenen Briefwechsel führte. Unter seinen Lehrern war auch Junius Rusticus, der ihn mit der stoischen Philosophie bekannt machte. Seitdem lebte Marc Aurel nach dieser Lehre, nächtigte schon als Zwölfjähriger auf unbequemer Bretterunterlage, nur durch ein von der Mutter noch mit Mühe verordnetes Tierfell gepolstert.
Sicherer Blick für Stellenbesetzungen
136 wurde er von Hadrian adoptiert und als sein Nachfolger vorgesehen. Zwei Jahre später, nach Hadrians Tod, begann der zum Kaiser erhobene Antoninus Pius schon bald, einen Teil seiner Aufgaben an den 17jährigen abzugeben. Bereits im Jahr darauf wurde Marc Aurel Caesar, 140 Konsul. Nach einer ersten, wieder gelösten Verlobung heiratete er 145 Faustina, die Tochter des Kaisers. Aus dieser Ehe gingen insgesamt 13 Kinder hervor, die in der Mehrzahl allerdings noch im Kindesalter starben. Durch die Adoptivverbindung war Kaiser Antonius zugleich Schwiegervater und Adoptivvater. Er war ihm ein Vorbild als Herrscher, Marc Aurel bewunderte hauptsächlich seine Mildtätigkeit gegenüber dem Volk und seine Ausdauer, aber auch seine Haltung gegenüber der Masse, aus der er sich nicht prunkhaft heraushob.
Im Jahr 146 wurden ihm die tribunizische Amtsgewalt und die Befehlsgewalt über die Grenzlegionen verliehen. Bis zum Antritt der eigenen Herrschaft 161 konnte er sich umfassend auf die Anforderungen des Amtes einstellen, sich in die Verwaltungsstrukturen des Römischen Reiches einarbeiten und alle wichtigen Bewerber und Inhaber einflussreicher Ämter kennenlernen. Er erlangte dabei angeblich einen so sicheren Blick für die menschliche und aufgabenbezogene Eignung der Amtsträger und Postenkandidaten, dass Antoninus Pius sich schließlich in allen Stellenbesetzungsfragen auf das Urteil des Marcus gestützt haben soll.
Auf Drängen Marc Aurels erhielt auch sein Adoptivbruder Lucius vom Senat die Titel ‚Caesar‘ und ‚Augustus‘ verliehen. Da auch die Prätorianer nichts gegen eine Doppelherrschaft einzuwenden hatten, wurden Marc Aurel und Lucius Verus gemeinsam zum Imperator ausgerufen. Unter den beiden Herrschern behielt Marc Aurel die Führungsposition. Mit der Ernennung von Lucius Verus, der 164 auch noch sein Schwiegersohn wurde, hatte er die Möglichkeit einer späteren Usurpation verhindert und einen ergebenen Helfer bei seinen Regierungsgeschäften gewonnen, zumal als Leiter wichtiger Militäroperationen: Durch die lange kampflose Zeit hatte das römische Heer an Schlag- und Widerstandskraft verloren. Beide standen einer im Vergleich zu den vorhergehenden Friedensjahrzehnten veränderten Situation gegenüber, als 162 – 166 die Parther die Ostgrenze des Römischen Reiches in Frage stellten und von 168 an die Germanen im Donauraum die Nordgrenze – die „Markomannenkriege“ dauerten über Marc Aurels Tod hinaus.
Innere Belastungen ergaben sich aus einer verheerenden Tiberüberschwemmung bereits in der Anfangsphase der Regierungszeit Mark Aurels und aus einer Pestepidemie, der sog. „Antoninischen Pest“, die an 166 nahezu das ganze Römische Reich, auch die dicht besiedelte Hauptstadt Rom heimsuchte und über 24 Jahre wütete. Allerdings handelte es sich bei der Seuche nach neueren Forschungen nicht um die Pest im medizinischen Sinne, sondern um einen besonders virulenten Stamm entweder der Pocken oder der Masern. Lucius Verus fiel ihr 169 zum Opfer, auch Marc Aurels Tod selbst könnte auf sie zurückzuführen sein.
Stärkung der Benachteiligten
In seine Regierungszeit fielen erste Anzeichen einer aufkommenden Krise des Römischen Reiches. Von seiner Glanzzeit hatte nur die schmale Oberschicht, das heißt rund 1% der 60 Millionen umfassenden Gesamtbevölkerung, tatsächlich profitiert: Senatoren, Ritter, lokale und provinziale Eliten (Dekurionen) und Beamte, die an das Kaisertum gebunden waren. Ein sozialer Aufstieg war nur beim Militär möglich, eine Mittelschicht gab es nicht. Große Bevölkerungsgruppen wie etwa die Landbewohner (plebs rustica) profitierten wenig oder gar nicht von der wirtschaftlichen Blüte, ganze Landstriche waren verarmt.
Sein Regierungshandeln konzentrierte Mark Aurel auf die inneren Strukturen des Römischen Reiches, vor allem auf die Situation der Schwachen und Benachteiligten wie Sklaven, Frauen und Kindern. Mehr als die Hälfte seiner überlieferten Gesetzgebungsakte zielten auf die Verbesserung der Rechtsstellung und die Freiheitsfähigkeit dieser Bevölkerungsgruppen. In gleicher Richtung hat er auch als oberstes Rechtsprechungsorgan des Reiches gewirkt: er erhöhte die Anzahl der Gerichtstage pro Jahr auf 230 Tage für Verhandlungen und Schlichtungstermine. Als er gegen die Germanen ins Feld zog, setzte er seine richterliche Tätigkeit vor Ort fort; die Prozessbeteiligten musste zur Verhandlung im Feldlager anreisen.
Mit dem Ausbleiben größerer Kriege ging auch die Zahl der Sklaven zurück, so dass es vielen Landgütern an Arbeitskräften fehlte und weniger Steuereinnahmen zu verzeichnen waren. Andererseits wurde die Staatskasse durch die hohen Ausgaben für die Erstellung von Repräsentationsbauten belastet sowie durch das Gewohnheitsrecht, die „plebs urbana“, die Bevölkerung der Stadt Rom, mit Getreidelieferungen und Lustbarkeiten (panem et circensis) zu versorgen. Der Import von Luxusprodukten aus dem Fernen Osten wie Seide, Glas oder Delikatessen musste mit Edelmetall bezahlt werden und bildete einen ständigen Verlustposten. Die ökonomischen Probleme wurden noch vergrößert durch Zahlungen, die Marc Aurel aus seiner Privatkasse – er hatte persönliche Einnahmen aus seinen Domänen, Bergwerken und Steinbrüchen – an die Bevölkerung leistete sowie durch Schuldenerlass. Die Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung lag hauptsächlich darin, dass die Erzeugung von Verbrauchsgütern mit den steigenden Bedürfnissen der sich ständig vermehrende Bevölkerung nicht Schritt hielt – eine konsequente staatliche Wirtschaftspolitik gab es nicht.
Allerdings wird dem Kaiser auch Zurückhaltung in der eigenen Lebensführung nachgesagt, zur Kriegsfinanzierung leistete er seinen Beitrag, indem er eine Vielzahl wertvoller Gegenstände aus kaiserlichen Besitzständen versteigern ließ. Außerdem lehnte er Siegprämien als Sonderzahlung für Soldaten mit dem Hinweis darauf ab, dass solche Zahlungen den Eltern und Verwandten der Legionäre abgepresst werden müssten.
„Was weint ihr um mich?“
Nachdem sich der syrische Statthalter Avidius Cassius zum Kaiser proklamiert hatte und sich Marc Aurel nicht unterwerfen wollte, musste der gegen seinen ehemaligen General marschieren. Zu einem Bürgerkrieg kam es nicht, da Cassius von zwei Männern aus den eigenen Reihen erschlagen und sein Kopf an den Kaiser gesandt wurde. Der weigerte sich ihn anzusehen, ordnete die Bestattung an und bedauerte den Tod des fähigen Feldherrn. Zugleich ließ er seinen Sohn Commodus aus Rom kommen, erhob ihn zum seinem designierten Nachfolger (princeps iuventutis) und reiste über Athen zurück, wo er für die vier großen, traditionsreichen Philosophenschulen – die Platonische Akademie, das Aristotelische Lykeion, die Stoa und den Epikureismus – je einen Lehrstuhl stiftete. Auf dieser Reise starb Mark Aurels Ehefrau Faustina im Alter von 46 Jahren, der man Untreue gegenüber ihrem Gatten nachsagte. 177 machte er Commodus dann zum gleichberechtigten Mitkaiser (Augustus). Der sollte keine gute Entwicklung nehmen: er liebte Gladiatorenkämpfe und trat auch selbst im Kolosseum auf, vornehmlich als Herkules, worüber man gerne spottete. Der schrankenlose Autokratie wollte wie ein Gott verehrt werden, litt unter Größenwahn und wurde später erdrosselt.
Obwohl sich die spätere christliche Überlieferung insgesamt dem positiven Urteil über den Kaiser anschloss, kam es in der Regierungszeit Mark Aurels zu den härtesten Christenverfolgungen seit Nero. So erließen Kaiser und Senat 177 in Gallien ein Dekret, wonach zum Tode verurteilte Verbrecher künftig zu Billigpreisen als Gladiatoren in der Arena eingesetzt werden durften. In Lugdunum (Lyon) machten sich daraufhin Teile der Bevölkerung daran, Christen aufzuspüren und sie im Zusammenwirken mit den örtlichen Zuständigen aburteilen zu lassen, sofern sie ihrem Bekenntnis nicht abschworen: seit Trajan erlitt die Todesstrafe, wer sich öffentlich zum Christentum bekannte. Als deutliche Verschärfung gegenüber der trajanischen Praxis hat allerdings zu gelten, dass Mark Aurel gestattete, aktiv nach Christen zu fahnden, statt nur auf private Anzeigen zu reagieren.
178 brachen Mark Aurel und Commodus zum zweiten Markomannenkrieg auf. Auf diesem Feldzug, auf dem zugleich die „Selbstbetrachtungen“ entstanden, starb der Kaiser dann zwei Jahre später in Vindobona, nach Tertullian auch im Lager Bononia bei Sirmium. Seinen Sohn mahnte er angeblich, den Feldzug bis zum Sieg fortzusetzen, verweigerte dann, um das eigene Ende zu beschleunigen, das Essen und Trinken und verschied bald darauf. Seinen klagenden Freunden soll er der Überlieferung nach entgegnet haben: „Was weint ihr um mich? Weint um die Pest und das Sterbenmüssen aller!“ Sein Leichnam wurde in Rom verbrannt, seine Asche im Mausoleum Kaiser Hadrians, der späteren Engelsburg, beigesetzt. Ihm zu Ehren ließ der Senat eine Ehrensäule, die Mark-Aurel-Säule, errichten, die heute auf der Piazza Colonna steht. Die bekannteste Darstellung des Philosophenkaisers ist sein bronzenes Reiterstandbild auf der Piazza del Campidoglio, das seit der Einführung des Euro auf der 50-Cent-Münze der italienischen Version dieser Währung abgebildet ist.
vernunftgeleitetes Menschenbild
Laut dem Historiker Cassius Dio, einem Zeitgenossen, hat Mark Aurel als Kaiser besser geherrscht als irgendjemand sonst in einer vergleichbaren Machtstellung, nach seinem Tod habe der Abstieg in ein Zeitalter von „Eisen und Rost“ begonnen. Als charakteristische Eigenschaften wurden ihm in der Historia Augusta aus dem 4. Jahrhundert – die aber eher auf ein erzieherisches Musterbeispiel als auf historische Wirklichkeitstreue deute – Mäßigung, Gleichmut, Selbstbeherrschung und Verantwortung zugeschrieben. Für Niccolò Machiavelli sei er zu Lebzeiten wie auch nach dem Tod hoch verehrt worden, weil er die Herrschaft als rechtmäßiger Erbe angetreten habe, sie also weder den Soldaten noch dem Volk zu verdanken hatte, und darum beide zu zügeln in der Lage gewesen sei, ohne sich je Hass oder Verachtung zuzuziehen. Neben Helmut Schmidt beriefen sich auch Friedrich II., Anton Tschechow oder der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky auf seine Ideale.
Die oft aphoristischen, auf Altgriechisch verfassten Selbstbetrachtungen, die des Kaisers Weltbild im Selbstdialog für die eigene Orientierung, Selbstvergewisserung und Lebenspraxis offenbaren, zeigen, dass für sein Denken und Handeln die Einordnung in und die Übereinstimmung mit der „Allnatur“ leitend waren – „Verkaisere nicht!“ lautet das Ruf: „Hüte dich, dass du nicht ein tyrannischer Kaiser wirst! […] Ringe danach, dass du der Mann bleibest, zu dem dich die Philosophie bilden wollte.“ Zu überzeugen und das Vernünftige und Gerechte auch gegen Widerstände durchzusetzen, sah er einerseits als seine Aufgabe; wo ihn aber gewaltsamer Widerstand am Vollzug hinderte, galt es die Gelegenheit zur Einübung einer anderen Tugend zu nutzen: der unbekümmerten Gelassenheit. Denn ohne sie, ohne die Übereinstimmung mit dem eigenen Schicksal, kann der Stoiker sein höchstes Ziel, das Glück der Seelenruhe, nicht erreichen.
Den Weg dahin kann nur der leitende Teil der Seele bahnen – das Hegemonikon, mit dem es ständig zu prüfen gilt, worauf es wirklich ankommt, was zu tun und was als unnötig oder überflüssig zu lassen ist. Dabei war sich Mark Aurel bewusst, dass die Fülle der Bedingtheiten aller Daseinsumstände dem eigenen Erkennen nicht restlos erschlossen werden kann und dass es in dem den Menschen umgebenden Wirkungsgefüge Zufälle gibt, die für das Individuum nicht vorhersehbar sind: „Versuche, die Menschen zu überzeugen, handle aber auch gegen ihren Willen, wenn der Geist der Gerechtigkeit es so verfügt.“ Als Mensch und Philosoph ist ihm die Vorstellung eines elitär geführten Staat sympathisch, „in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Bürger achtet.“
Ob es einen eigenständigen Beitrag Mark Aurels zur Philosophie gibt und worin der besteht, ist in der Forschung umstritten: „Die Größe des Kaisers liegt nicht darin, Neues oder Eigenes gelehrt zu haben, sondern darin, dass er sich den Lehren der Philosophie zeit seines Lebens offen gehalten, sich ihnen auch als Herrscher verpflichtet gefühlt und sie deshalb ständig ins Gedächtnis gerufen hat“, heißt es bei Joachim Dalfen. Seine oft ambivalente Rhetorik, sein eher unorthodoxes, ja naturhaftes Religions- und Gottverständnis sowie sein mehrschichtiges, vernunftgeleitetes Menschenbild lassen ihn irgendwie zeitlos wirken. Alexander Demandts Fazit lautet: „Zum Thema Philosophie gibt’s Bücher wie noch nie. Zum Thema Weisheit ist Fehlanzeige seit Marc Aurel.“