„ein gefährlicher Mann“
16. April 2020 von Thomas Hartung
Seine Wirkungsgeschichte war wie die kaum eines anderen Amerikaners himmlischen Höhen und höllischen Tiefen unterworfen. In einer Begräbnisrede hob William Smith, erster Kanzler der Universität von Pennsylvania, die philanthropischen und wissenschaftlichen Leistungen Benjamin Franklins hervor. Der Literaturkritiker Lord Jeffrey lobte Franklin für seinen „einfachen Witz“ und pries ihn als einen der großen Vertreter des Rationalismus. Der Romantiker John Keats schrieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dagegen, Franklin sei „voller erbärmlicher und auf Sparsamkeit ausgerichteter Lebensregeln“ und „kein großartiger Mann“ gewesen.
Mit dem Anbruch des Gilded Age Ende des 19. Jahrhunderts, einer Blütezeit der Wirtschaft in den Vereinigten Staaten, wurde Franklin als Musterbeispiel eines sozialen Aufsteigers wieder in weitaus positiverem Licht gesehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlug die Stimmung erneut um: so zog der Soziologe Max Weber Franklin in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ ein ums andere Mal als Negativbeispiel für eine Gesinnung heran, die allein auf die Steigerung des eigenen finanziellen Wohlstandes gerichtet ist. In der Wirtschaftskrise nach 1929 stieg Franklins Ansehen erneut stark an – Werte wie Sparsamkeit und Gemeinsinn standen hoch im Kurs.
Heute füllt eine lange Reihe von Werken mit Benjamin Franklins Namen im Titel die amerikanischen Buchregale. Zu schreiben über ihn und sein langes Leben gab es genug: Er war Drucker, Verleger, Publizist, Naturwissenschaftler, Politiker, Diplomat – und Erfinder. Am Ende hat er neben dem Blitzableiter auch die Glasharmonika, den flexiblen Harnkatheter, eine frühe Form der Schwimmflossen, einen Holzofen mit verbesserter Brennleistung und die Bifokalbrille erfunden: es war ihm lästig, ständig seine Fernbrille gegen die Lesebrille auszutauschen. Sie blieb bis zur Erfindung der Gleitsichtbrille internationaler Standard. Seine große Liebe in der Freizeit galt dem Schach: „Die Sittlichkeit des Schachspiels“ („The morals of chess“) gilt als erster amerikanischer Beitrag zur Schachliteratur; seit 20 Jahren ist Franklin in der US Chess Hall of Fame aufgenommen. Der Selfmademan starb am 17. April 1790 in Philadelphia.
Ich, Drucker
Geboren am 17. Januar 1706 als 15. von 17 Kindern eines ausgewanderten englischen Seifen- und Kerzenmachers in Boston, lernte er ab dem achten Lebensjahr auf der Lateinschule, um sich für ein Studium in Harvard und eine spätere Laufbahn als Pastor vorzubereiten. Er war hochbegabt, übersprang eine Klasse und musste dennoch die Schule wechseln, um Schreiben und Arithmetik zu lernen. Während Franklin in seiner Autobiographie behauptete, dies sei allein dem geringen Einkommen seines Vaters geschuldet gewesen, gehen Biographen davon aus, dass dieser schon früh die rebellische Natur seines Sohnes erkannte und ihn deshalb als ungeeignet für eine geistliche Laufbahn hielt.
Nachdem er als 10-jähriger für zwei Jahre bei seinem Vater arbeitete, ging er anschließend zu seinem Halbbruder James und arbeitete in dessen Druckerei. In der Zeit bildete er sich autodidaktisch durch Lesen weiter. Franklin war ab 1721 bei der von seinem Bruder gegründeten Zeitung „New England Courant“ tätig und verfasste anonym als „Mrs. Silence Dogood“ liberale Beiträge, in denen er die Nähe zwischen Kirche und Staat attackierte. Schon in jungen Jahren wandte er sich vom Christentum ab und wurde Deist. Die Gedanken der Aufklärung und christliche Orthodoxie ließen sich für ihn nicht vereinbaren. Als er sich 1723 dem Bruder als Autor offenbarte, kam es zum Bruch. Nach einem Intermezzo in der Druckerei von Samuel Keimer in Philadelphia zog er nach London, um sich dort als Drucker ausbilden zu lassen. Noch sein Testament beginnt mit den Worten „Ich, Benjamin Franklin aus Philadelphia, Drucker“.
1726 kehrte Franklin als Geschäftsführer zu Keimer zurück und entwickelte einen Schriftschnitt, der als der erste auf dem nordamerikanischen Kontinent gilt. Zur Erinnerung daran erarbeitete der Typograph Morris Fuller Benton die Schriftfamilie „Franklin Gothic“. Zusammen mit einem von Keimers Angestellten machte er sich selbstständig und gründete 1728 eine eigene Druckerei. Ein Jahr später übernahm er von Keimer die bis 1777 erscheinende erfolgreiche Pennsylvania Gazette und wurde damit zum ebenso stolzen wie selbst schreibenden, finanziell unabhängigen Zeitungsverleger.
Mit der freimaurerischen Idee in London bekannt geworden, vertrat er schon in dem 1727 von ihm gegründeten Selbsterziehungsklub „Junto“, der aber allgemein der „Lederschurzklub“ hieß, maurerische Grundsätze. 1734 brachte er als erstes freimaurerisches Buch jenseits des Ozeans eine Ausgabe der „Alten Pflichten“ heraus. Von den ersten Junto-Zusammenkünften an diskutierte Franklin praktische Vorschläge zur Verbesserung des alltäglichen Lebens. Als der Club eigene Räume bezog, wurden diese mit Büchern aus dem Besitz der Mitglieder eingerichtet und so die erste Leihbibliothek in Amerika etabliert. Sie gehört heute zu den ältesten kulturellen Institutionen in den USA und verfügt über einen Bestand von mehr als 500.000 Büchern und über 160.000 Handschriften.
Zugleich wird Franklin unter ungewöhnlichen Umständen sesshaft: in einer „Common-Law“-Ehe mit seiner ersten Liebe Deborah, die inzwischen geheiratet hatte, aber von ihrem Gatten mit Schulden zurückgelassen wurde. Franklin wiederum hatte einen Sohn aus einer seiner vielen „Liebschaften mit sozial niederen Frauen, die mir über den Weg liefen“. Das Paar bekam gemeinsam noch einen Sohn, der als Kind an den Pocken starb – seitdem gilt er als Vertreter einer Impfpflicht –, und eine Tochter. 1733 startete er sein erfolgreichstes literarisches Unternehmen: das Jahrbuch „Poor Richard´s Almanach“, das bis 1758 erschien. Es war in seiner Mischung aus häuslicher Philosophie und Ratschlägen für den Alltag nach der Bibel das bekannteste Werk in den Kolonien, eine daraus entstandene Spruchsammlung wurde in 145 Editionen nachgedruckt und ist bis heute in mehr als dreizehnhundert Auflagen verkauft worden. Darin finden sich Weisheiten wie „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“.
„Funken aus dem Schlüssel ziehen“
1736 gründete er sowohl die erste Feuerversicherungsgesellschaft als auch mit der Union Fire Company die erste Freiwillige Feuerwehr. 1737 wird er Oberpostmeister, später als stellvertretender Postminister auch Angehöriger der Kolonialverwaltung und zieht sich aus dem Geschäftsleben weitgehend zurück. Den Betrieb seiner Druckerei überließ der Privatier und „gentleman philosopher“ seinem Vorarbeiter, der ihm die Hälfte der Einnahmen überlassen musste. Anfang der 1740er Jahre gehörte er zu den Mitgründern der sich an der britischen „Royal Society“ orientierenden Gelehrtengesellschaft „American Philosophical Society“ und begann sich mit Leidenschaft mit Fragen der Naturwissenschaft, vor allem der Elektrizität, zu beschäftigen. Die von den Gelehrten zu diskutierenden Themen waren – wie vieles, was Franklin vorschlug – mehr an der Nützlichkeit als an der Theorie ausgerichtet. So sollten etwa Entdeckungen auf dem Gebiet der Nutzpflanzen, des Handels, der Geländevermessung, der Herstellung von Gütern, der Tierzucht und anderer praktischen Themen untereinander bekannt gemacht werden. Die Gesellschaft existiert bis heute.
Besonders auf dem Gebiet der Luft- und Reibeelektrizität machte sich Franklin einen Namen, der ihn über die USA auch in Europa und in Deutschland bekannt machte. Er erkannte das Gewitter als Elektrizität und wies diese Annahme mit seinem berühmten „Drachenversuch“ nach: Er baute einen Drachen aus Zedernholzleisten, klemmte einen Eisendraht an die Spitze und an den Schweif seinen Hausschlüssel, in dem sich die Elektrizität sammeln sollte. Am 15. Juni 1752 zog das erhoffte Gewitter auf, und Franklin ließ seine fliegende Versuchsanordnung in den Himmel von Neuengland aufsteigen. Die Rechnung ging auf für den Tüftler: Er habe mit den Fingern Funken aus dem Schlüssel ziehen können, schwärmte er in der „Pennsylvania Gazette“.
Daraus entstand der Blitzableiter, der zuerst von Pfarrern genutzt wurde, die sich beim Schutz ihrer Kirchtürme nicht mehr allein auf ihr Gottvertrauen verlassen wollten. Der erste deutsche Blitzableiter wurde 1769 auf dem Hamburger Jacobikirchturm errichtet. Georg Christoph Lichtenberg war nicht nur ein Bewunderer Franklins, sondern machte seine wissenschaftlichen Errungenschaften über die Elektrizität in Deutschland populär und weitete sie aus. Zusammen mit Lichtenberg führte Franklin die nach der unitarischen Lehre gültige Bezeichnung von positiv und negativ zur Erklärung der Elektrizität ein. Für den deutschen Professor Lichtenberg war Franklin das Paradebeispiel des genialen Kopfes und Wissenschaftlers auch ohne akademische Laufbahn. Zweifacher Ehrendoktor in England, erhielt er von der Royal Society 1753 die Copley-Medaille, den „Nobelpreis des 19. Jahrhunderts“.
Seit dieser Zeit engagierte er sich auch explizit politisch. Bereits 1747 rief er zur Bildung einer Bürgermiliz auf: Allein ein Bund der Mittelschicht, der Händler, Ladenbesitzer und Farmer, könne die Kolonie retten. Bald schrieben sich einige zehntausend Freiwillige in die Register der von Franklin sorgsam geplanten Freiwilligenkompanien ein. Thomas, Sohn des Pennsylvania-Gründers William Penn, bezeichnete Franklin in einem Brief als „Volkstribun“ und klagte: „Er ist ein gefährlicher Mann und ich wäre froh, wenn er in einem anderen Land lebte, denn ich glaube, dass er von überaus ruhelosem Geiste ist.“
Sprecher für die Rechte der Amerikaner
1754 repräsentierte er Pennsylvania im Albany Congress, lebte zwischen 1757-62 und 1764-75 wieder in England: Erst als Repräsentant für Pennsylvania, später für Georgia, New Jersey und Massachusetts. Während seiner letzten Repräsentanten-Periode, die zeitgleich mit den Unruhen in den Kolonien war, durchlief er eine politische Metamorphose und wurde zum Zeitpunkt der Stamp Act Krise vom Anführer einer zerbrochenen ländlichen Partei zum gefeierten Sprecher für die Rechte der Amerikaner in London. Dieses sog. Stempelgesetz bestimmte, dass alle offiziellen Schriftstücke und Dokumente, aber auch Zeitungen, Karten- und Würfelspiele in den nordamerikanischen Kolonien mit Stempelmarken versehen werden oder auf eigens in London hergestelltem Papier mit einer Stempelprägung ausgefertigt sein mussten. So sollten die Kolonien finanziell an der Stationierung britischer Truppen in Nordamerika beteiligt werden, da die Kolonisten als Nutznießer dieses militärischen Schutzes für einen Teil der entstehenden Kosten aufkommen sollten. 1766 wird das Gesetz zurückgezogen.
Franklin wechselte endgültig aus dem Lager der Loyalisten in das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter. Dieser Schritt brachte ihn in heftigen Gegensatz zu seinem im New Jersey als britischer Gouverneur residierenden Sohn William. In den Jahren des Unabhängigkeitskampfes gehörte Benjamin Franklin fortan zu den führenden Persönlichkeiten: Auslöser war die Affäre um die Hutchinson-Briefe, die Franklins Biograph Gordon S. Wood als das „außergewöhnlichste und aufschlussreichste Ereignis in Franklins politischem Leben“ bezeichnet. Thomas Hutchinson, Vizegouverneur von Massachusetts, hatte eine Reihe von Briefen an den britischen Außenminister geschrieben, sich darin für eine harte Haltung gegenüber den Kolonien ausgesprochen und insbesondere empfohlen, deren Freiheiten zu beschneiden, und sei es durch spezielle Steuern. Franklin sandte sie nach Massachusetts, um auf diese Weise zu belegen, dass das Verschulden für die Krise zwischen den Kolonien und dem Mutterland nicht etwa bei der britischen Regierung, sondern vielmehr bei Kolonialbeamten wie Hutchinson liege. Die Boston Tea Party 1773 ging unter anderem auf diese Indiskretion zurück.
1776 wurde er vom Kontinental-Kongress in den Ausschuss gewählt, der die Unabhängigkeitserklärung konzipierte. Außerdem wurde er zum Vorsitzenden des die entsprechende Pennsylvania-Verfassung ausarbeitenden Gremiums eingesetzt. Gesundheitlich angegriffen, beschränkte sich seine Rolle anfangs darauf, die Entwürfe Thomas Jeffersons durchzugehen und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Seine Änderungen sind in dem Dokument überliefert, das Jefferson als „Rohentwurf“ bezeichnete. Nach der Loslösung von Großbritannien machten sich die einzelnen Staaten an die Ausarbeitung von Verfassungen. In einer Zeit, als die englische Mischverfassung mit ihrer Balance zwischen Krone, Oberhaus und Unterhaus als das Ideal galt, sah die Pennsylvania Constitution lediglich ein Einkammersystem vor. Damit gilt sie heute als der demokratischste aller Verfassungsentwürfe jener Zeit. Insbesondere in Frankreich wurde die Idee mit großem Beifall aufgenommen und Jahre später in der Französischen Revolution umgesetzt.
einziges amerikanisches Universalgenie
Als Gesandter in Paris schmiedete er ab 1777 das Bündnis der USA mit Frankreich, erreichte die Gewährung eines Kredits von König Ludwig XVI und schloss mit Frankreich einen Handels- und Bündniskontrakt. Vor allem wünschten sich die bedrängten Amerikaner militärische Hilfe von Frankreich. Franklins Mission in Paris und Versailles zog sich bis 1785 hin. In Frankreich wurde er überaus wohlwollend aufgenommen und verband persönliches Wohlleben in der dekadenten Atmosphäre des Bourbonen-Hofes mit erfolgreicher diplomatischer Kleinarbeit für die Sache der Unabhängigkeit. Die Verpflichtung Steubens als amerikanischer Generalinspekteur ist ihm zu verdanken.
Nach der für die Amerikaner siegreichen Schlacht von Saratoga im Oktober 1777 gingen die Franzosen auf Franklins Vorschläge ein und schlossen im Februar 1778 einen Freundschaftsvertrag mit den Nordamerikanern. Das Eingreifen der Franzosen in den Unabhängigkeitskrieg trug wesentlich zum Zusammenbruch der britischen Position bei. Am 30. November 1782 unterschrieben britische Delegierte und die von Franklin angeführte amerikanische Delegation in Paris den Friedensvertrag, in dem Großbritannien die Unabhängigkeit seiner nordamerikanischen Kolonien anerkannte.
In den nächsten drei Jahren wirkte Franklin weiter als Gesandter in Frankreich, wo er sehr gefragt war, notierte ein Tagebuchschreiber, „und dies nicht nur bei seinen gelehrten Kollegen, sondern bei jedermann, der Zugang zu ihm erlangen kann“. Wohin auch immer er in seiner Kutsche reiste, bildeten sich Menschengruppen, die ihn hochleben ließen und einen Blick auf ihn werfen wollten. 1785 kehrte er, mittlerweile 79-jährig, nach Philadelphia zurück und wurde mit großem Pomp gefeiert. Er bekleidete bis 1787 das Amt eines Präsidenten von Pennsylvania und beteiligte sich, schon schwerkrank durch Blasensteine und Gicht, an der „Philadelphia Convention“, die endlich den lediglich losen verbundenen 13 ehemaligen Kolonien eine gemeinsame Verfassung geben sollte. Am 17. September 1787 unterzeichneten 39 von 42 anwesenden Delegierten, darunter auch Franklin, die neue Bundes-Verfassung der USA. Auf seinen Vorschlag geht die Unterteilung der Legislative in Senat und Repräsentantenhaus zurück. Im selben Jahr wurde er, inzwischen Witwer, 1787 Präsident der Gesellschaft gegen Sklaverei.
Bis zuletzt veröffentlichte Franklin Schriften zu diversen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Themen, korrespondierte mit vielen bekannten Zeitgenossen und schrieb seit 1771 an seiner letztlich unvollendeten Autobiographie. Er stirbt 84jährig in Philadelphia – als einziger Gründervater der USA, der neben der Verfassung auch die Unabhängigkeitserklärung und den Friedensvertrag mit dem Königreich Großbritannien unterzeichnete. Schon von der jungen Madame Tussaud wurde er als Wachsfigur portraitiert. Bis heute würdigen Ärzte seine Verbundenheit zur Medizin: Franklin gründete unter anderem das Pennsylvania Hospital und konstituierte aus Sorge um die Ausbildung nachfolgender Generationen ein College, aus dem die University of Pennsylvania hervorging. Er gilt vor Thomas Alva Edison als erstes amerikanisches Universalgenie.