„Der Regisseur als Superstar“
28. April 2020 von Thomas Hartung
Sein größtes ästhetisches Geheimnis ist eigentlich winzig: „Mach den Zuschauer zum Vorwisser aller bedrohlichen Geschehnisse“. So schickte der Schurke des Streifens „Sabotage“ (1936) einen kleinen Jungen mit einem Paket los, in dem eine Zeitbombe tickt. Der Zuschauer weiß, wieviel Zeit dem Jungen bleibt, sich des gefährlichen Päckchens zu entledigen. Der Junge jedoch trödelt, er ist eben ein Kind. Und da er sich verspätet, fliegt er mitsamt einem Omnibus in die Luft. Diese Szene zerrte so an den Nerven der Zuschauer, dass nach der Premiere eine Kritikerin auf den Regisseur zustürzte, um ihn tätlich anzugreifen. Ihr Name ist vergessen, der des Regisseurs nicht: Alfred Hitchcock.
Seine Filme führen in die aberwitzigen Abgründe menschlicher Ängste hinein wie im Meisterwerk „Vertigo“, frönen schamlos voyeuristischen Gelüsten wie in „Das Fenster zum Hof“ oder lassen eine Hoteldusche zu Dantes Inferno geraten wie in „Psycho“. Er gilt als bislang unübertroffener Meister der „suggestiven Verführung“ und schuf „Dramen des intakten Gehorsams gegenüber einer verqueren Erziehung“, ja „eine Welt, in der Angst und Luxus die beiden Waagschalen auf der Waage der Verdrängungen sind und die Sexualität die heimliche Kraft“, befand Hellmuth Karasek einst im Spiegel.
Zwischen 1925 und 1976 drehte er insgesamt 53 Filme, in denen vor allem Blondinen nirgendwo sicher waren. Mal stürzten sie von einem Kirchturm in die Tiefe, mal wurden sie unter der Dusche von einem Psychopathen oder unter freiem Himmel von Vögeln attackiert. Die Schauspielerin Tippi Hedren, die mit „Die Vögel“ und „Marnie“ zum Star wurde, behauptete, auch die Darstellerinnen der Blondinen hätten sich ihrer Haut erwehren müssen – gegenüber Hitchcock selbst. Der erst dickliche, im Alter dann kugelrunde Regisseur mit der unvermeidlichen Zigarre zwischen den fleischigen Fingern starb vor 40 Jahren, am Morgen des 29. April 1980 in seinem Haus in Los Angeles an Nierenversagen. Seine Leiche wurde eingeäschert, die Asche an einem unbekannten Ort verstreut.
Vom Zeichner zum Produktionsleiter
Der am 13. August 1899 geborene Sohn eines Londoner Gemüsehändlers erzählte immer wieder gerne ein Angst-Erlebnis aus seiner Kindheit. Als er eines Abends zu spät nach Hause kam, schickte ihn sein Vater mit einem Brief zu einem befreundeten Wachmann auf die Polizeistation. Der Wachmann las den Brief, warf den Jungen ins Gefängnis und brüllte ihn an, dass es so allen Kindern ergehe, die zu spät nach Hause kämen. Aufgrund des großen Altersunterschieds zu seinen älteren Geschwistern, seiner katholischen Erziehung zumal an einer strengen Jesuitenschule und nicht zuletzt aufgrund seines Äußeren – er war klein und schon als Kind korpulent – schreiben Biographen von einer einsamen Kindheit – ein Aspekt, der gerne banal-psychologisch zurechtgelegt wird: Weil der große Hitchcock Kindheitsängste verarbeiten musste, drehte er Filme, die Angst machen.
Hitchcock ging kurzzeitig auf eine Ingenieursschule, belegte Kurse an der Londoner Kunstakademie und flüchtete sich in die Kunst: er las, besuchte Theatervorstellungen und ging oft ins Kino, verfolgte aber auch Mordprozesse im Gerichtshof Old Bailey. Ab 1915 arbeitete bei einer Telegraphen-Gesellschaft, wo er wegen seines zeichnerischen Talents bald in die Werbeabteilung versetzt wurde. Unter seinem Spitznamen „Hitch“ veröffentlichte er in der Betriebszeitschrift erste gruselige Kurzgeschichten. 1920 wurde er als Zeichner von Zwischentiteln bei der Londoner Paramount angestellt, entwarf nebenbei Kostüme, Dekorationen und Szenenbilder und machte auch durch Überarbeitungen von Drehbüchern auf sich aufmerksam. Hitchcock wurde Regieassistent, Drehbuchautor, Szenenbildner – bei manchen Filmen nahm er als verkappter Produktionsleiter all diese Positionen ein. 1922 drehte er seinen ersten eigenen Film, der nie fertiggestellt wurde – unter tätiger Mithilfe von Alma Reville, einer Editorin, die er später heiratete und seine wichtigste Mitarbeiterin wurde. Beide sollen sich zeitlebens treu gewesen sein. 1928 wurde ihre gemeinsame Tochter Patricia geboren.
1924/25 kam Hitchcock als Assistent von Regisseur Graham Cutts nach Deutschland, lernte rasch die fremde Sprache und schaute Friedrich Wilhelm Murnau über die Schulter. Das Melodram „Irrgarten der Leidenschaft“, in Berlin und München gedreht, war schließlich der erste echte „Hitchcock“. Mit dem 1926 gedrehten Stummfilm „Der Mieter“ um einen einzelgängerischen Pensionsgast, der verdächtigt wird, ein Serienmörder zu sein, hatte Hitchcock sein Thema gefunden. Der Film brachte ihm den Durchbruch, wurde zum Kassenschlager und war sicher ein wichtiger Grund, danach immer wieder noch perfektere Thriller zu liefern, etwa „Der Mann, der zu viel wusste“ (1934) und „Die 39 Stufen“ (1935). Daneben drehte Hitchcock aber auch einen Operettenfilm über Johann Strauß (1933) – ziemlich lustlos, wie er später zugab: „Ich hasse dieses Zeug. Melodrama ist das einzige, was ich wirklich kann.“ Mit „Jung und unschuldig“ (1937), einer weiteren, unbeschwerten Variation der Geschichte vom unschuldig Verfolgten, und dem in einem fahrenden Zug spielenden Thriller „Eine Dame verschwindet“ (1938) festigte Hitchcock seine Ausnahmestellung innerhalb des britischen Kinos – und erlag 1939 prompt den Verlockungen von Hollywood-Tycoon David O. Selznick. 15 Jahre später nahm er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.
„Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn“
Sein Einstand war überaus erfolgreich: Das düstere, psychologisch dichte Melodram „Rebecca“ mit mehr Schauerromantik als Thrill war 1940 elfmal für den Oscar nominiert und gewann schließlich zwei Trophäen für Kamera und Produktion. In den nächsten sieben Jahren dreht er nicht nur propagandistische Kurzfilme zur Unterstützung der französischen Résistance, sondern verfeinerte auch seine Vorliebe für Kriminalstoffe im Verbund mit seinem eigenen, makabren und skurrilen Humor: „Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn“, wird er sich später gern zitieren lassen. Es entstanden unter anderem „Verdacht“ (1941, mit Cary Grant), „Im Schatten des Zweifels“, „Das Rettungsboot“ (beide 1943) und „Ich kämpfe um dich“ (1945). Die damit begründete erfolgreiche Zusammenarbeit mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle ging gleich in der folgenden Produktion „Berüchtigt“ (1946) weiter. Inzwischen kennt der Meister auch die Erwartungen seines Publikums: „Es heißt, dass, würde ich ‚Cinderella‘ verfilmen, das Publikum nur darauf warten würde, dass eine Leiche aus der Kürbiskutsche fällt. Das stimmt. Wenn ich die Leute mit einem meiner Filme nicht zum Erschauern bringe, sind sie enttäuscht“.
Mit seiner 1946 gegründeten Produktionsfirma „Transatlantic Pictures“ verfügte er dann über die nötige Unabhängigkeit, seine Filme künstlerisch so zu gestalten, wie er das für richtig hielt – wenn die Auftraggeber, vor allem Warner und Paramount, mitspielten. Ob Cary Grant in „Der unsichtbare Dritte“ (1959) als Werbefachmann, der durch eine Verwechslung zum Verfolgten wird, oder James Stewart als Tourist, der in „Der Mann, der zu viel wusste“ (1956) durch eine Zufallsbekanntschaft in eine internationale Verschwörung hineingezogen wurde: Unschuldig Verfolgte und der Kampf des Einzelnen gegen Kräfte, die er nicht zu fassen bekommt, gehörten zu Hitchcocks Lieblingsthemen. Doch seine Filme waren nicht nur spannend und manchmal schockierend, sondern vor allem auch so minutiös durchgeplant und choreographiert, dass sich der Meister manches Nickerchen am Set leistete (manche Biographen mutmaßten, er leide an Schlafsucht) – die Einstellungen standen ja fest.
Denn Hitchcock verachtete Filme, in denen alle Informationen über den Dialog vermittelt werden. Er führte das Auge seines Zuschauers, erzählte seine Geschichten mit Bildern, mit Kameraperspektiven, die erklären oder falsche Fährten legen konnten. Dafür experimentierte er mit den Möglichkeiten des Films und schuf Innovationen, die heute noch ebenso Bewunderung hervorrufen wie sie inzwischen zum festen ästhetischen Inventar gehörten. So wagte er einen Film, der ohne sichtbare Schnitte einen Echtzeiteffekt zur Folge hatte („Cocktail für eine Leiche“, 1948), filmte durch Glasböden („Der Mieter“, 1926), versenkte eine Lampe in einem Glas Milch, um den Zuschauer das Gift ahnen zu lassen („Verdacht“, 1941) oder kreierte den legendären „Vertigo“-Shot (1948), bei dem er eine echte Kamerafahrt mit einer gegenläufigen Anpassung der Brennweite kombinierte. Da das Motiv während der Fahrt in unveränderter Größe im Bild bleibt, wird der Bildausschnitt des Hintergrunds entweder größer oder kleiner, wodurch ein unnatürlicher, sogartiger Effekt entsteht.
Das brachte Hitchcock die Bewunderung junger europäischer Regisseure wie Francois Truffaut ein, dem er 1962 ein fünfzigstündiges (!) Interview gab. Es erschien 1966 als „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ in Buchform und gilt als Standardwerk der Filmliteratur. Hitchcock wurde sechsmal für den Oscar nominiert: fünfmal für die Beste Regie, einmal für den Besten Film (als Produzent). Alle sechs Mal ging er leer aus, was ihn zu dem Kommentar veranlasste: „Immer nur Brautjungfer, nie die Braut“. Seine kurzen „Cameo“-Auftritte in seinen eigenen Filmen und die von ihm ab 1955 moderierte Fernsehsendung „Alfred Hitchcock präsentiert“ prägten das öffentliche Bild Hitchcocks als selbstironischer, überlegener Manipulator, der sich gern als Snob, Entertainer und Gourmet inszenierte. Sein oft mit Schadenfreude gepaarter Witz trieb manchmal bizarre Blüten: So ließ er bei einem Empfang in New York erlesene Delikatessen als (laut Karte) „gebrochene Rippen und blutiges Gulasch“ von Kellnern in Chirurgen-Montur servieren.
Schokoladensoße statt Filmblut
Zwar dreht Hitchcock mit „Immer Ärger mit Harry“ (1955) auch eine klassische Komödie, doch in nahezu allen seiner amerikanischen Filme geht es psychologisch zu. Hitchcock hatte sogar den Ehrgeiz, mit „Ich kämpfe um dich“ den ersten Film über Psychoanalyse zu drehen: Es geht um das Kindheitstrauma eines Arztes, der ein Mörder zu sein glaubt. Viel später drehte Hitchock „Marnie“ (1964), einen Film über eine Kleptomanin und ihr Trauma: Sie hatte in ihrer Kindheit wirklich einen Menschen getötet. In die Reihe von Hitchcocks psychologischen Filmen passt sein wohl berühmtestes Werk „Psycho“ eigentlich nicht, obwohl es um einen Psychopathen mit gestörter Mutterbeziehung geht. Denn das ist nur ein Auslöser, Thema des Films hingegen ist die brutale Gewalt eines Mörders, eine heftige Mischung aus Horror und Thrill. Die in einer Woche Dreharbeit entstandene zweiminütige „Duschszene“, bei der Janet Leigh gedoubelt wurde, zählt heute mit ihren 78 Kameraeinstellungen und 52 Schnitten zu seinen meistanalysierten Filmszenen. Disney war durch diese Szene, in der übrigens Schokoladensoße statt Filmblut fließt, so vor den Kopf gestoßen, dass er Hitchcock untersagte, in seinen Disneyland-Studios zu drehen. Dieser und der nächste Film „Die Vögel“ (1962) haben getreu seiner Devise „Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat“ das Kino nachhaltig verändert. Hitchcock ließ dabei Vögel mit Nylonfäden an Tippi Hedren festbinden, sie hätte durch einen Schnabelhieb fast ein Auge verloren.
Obwohl er anfangs meinte „Je erfolgreicher der Schurke, desto erfolgreicher der Film“, gewinnen über die Jahre ambivalente oder gar negativ gezeichnete Hauptfiguren immer stärker an Gewicht. Diese Antihelden weisen physische oder psychische Probleme auf, sind Verlierertypen oder unsympathisch. Da in den USA zwischen 1934 und 1967 der „Hays Code“ (auch Production Code) galt, eine Sammlung von Richtlinien über die Einhaltung der gängigen Moralvorstellungen im Film, musste Hitchcock einen Teil seiner Kreativität auch darauf verwenden, die Beschränkungen der Zensur kreativ zu umgehen. Da die Länge von Küssen im Film damals auf drei Sekunden begrenzt war, inszenierte Hitchcock den Kuss zwischen Ingrid Bergman und Cary Grant in „Berüchtigt“ als Folge einzelner, durch kurze Dialogsätze unterbrochener Küsse. Hitchcocks größter Sieg gegen die Zensur war die Schlussszene von „Der unsichtbare Dritte“: Cary Grant zieht Eva Marie Saint im Schlafwagen zu sich nach oben ins Bett, küsst sie – und im folgenden Umschnitt donnert ein Zug in einen Tunnel. Expliziter wurde der Sexualakt nie mehr angedeutet.
1965 erhielt Hitchcock für seinen „historischen Beitrag zum amerikanischen Kino“ den Milestone Award der Producers Guild Of America – die erste von vielen Ehrungen für sein Lebenswerk, darunter auch den Ehrendoktortitel für Literaturwissenschaft von der kalifornischen Universität Santa Clara. In dieser Zeit begann er körperlich abzubauen, litt unter schwerer Arthritis, hatte mit mehreren Schlaganfällen seiner Frau umzugehen und wurde alkoholabhängig – zwischen Bad und Schreibtisch habe er in seinem Büro listenreich Verstecke für Brandy- und Wodkaflaschen angelegt, berichtet Biograph Donald Spoto. Für seine letzten Filme „Frenzy“ (1972) und „Familiengrab“ (1976) kehrte er nach England zurück. In „Frenzy“ realisierte er eine der detailverliebtesten Vergewaltigungs- und Mordszenen der Filmgeschichte: ein impotenter Mörder kommt zum Orgasmus nur dadurch, dass er sein Opfer erwürgt. Hitchcock wollte die beim Strangulieren herausquellende Zunge des Opfers mit tropfendem Speichel in einem Zwischenschnitt zeigen, was ihm erst mühsam ausgeredet werden musste. Seine Tochter hat ihren Kindern nicht gestattet, sich diesen Film anzusehen. 1979 schloss er sein Büro auf dem Gelände der Universal-Studios und wurde kurz vor seinem Tod noch im Januar 1980 in den britischen Adelsstand erhoben.
Im Scherz soll er sich einmal als Grabinschrift gewünscht haben: „Da siehst du, was einem passieren kann, wenn man als Kind nicht artig war.“ Bis heute fasziniert, wie er seine Zuschauer in einen Strudel von Lust und schlechtem Gewissen, von Begierde und Schuld, Vertrauen und Misstrauen reißt: Die Welt als schön tapezierte Mördergrube, ja Alptraumfabrik – das bleibt haften. Hitchcock ist wohl heute noch der einzige Regisseur, dessen Name sich quer durch alle Bevölkerungsschichten mit dem Kino verbindet. Man geht nicht in diesen oder jenen Film, man geht in einen „Hitchcock“. „Der Regisseur als Superstar“, befindet Robert A. Harris im BR. „Die Amerikaner haben den Thriller, den Krimi, den Suspense-Film, die schwarze Komödie immer für ein bisschen vulgär gehalten. Hitchcock hat diesen Genres Würde und den Rang einer Kunstform verliehen“.