„Die Natur hatte Angst“
5. April 2020 von Thomas Hartung
Bis heute genießt er das nahezu einmalige Privileg, nur durch seinen Vornamen bekannt zu sein, und noch heute kennen die wenigsten seinen vollständigen Namen Raffaello Santi da Urbino. Über vier Jahrhunderte hinweg blieb er vorbildhaft für Generationen von Künstlern. An den Akademien gelehrt und vor allem im 19. Jahrhundert unter anderem von Goethe propagiert, galt Raffael als Vollendung der Renaissance, seine Kunst als Inbegriff der „Klassik“ und er lange als größter Maler aller Zeiten – vor seinen Zeitgenossen Michelangelo und Leonardo da Vinci. Am Karfreitag 1483 geboren, starb er am 6. April 1520, seinem 37. Geburtstag, ebenfalls einem Karfreitag.
Bereits am Tag danach begann die mythische Überhöhung des jung verstorbenen Künstlers. „Man spricht hier nur vom Tod dieses Mannes, der am Ende seiner siebenunddreißig Lebensjahre sein erstes Leben beendete. Sein zweites Leben aber, das seines Ruhmes, der weder der Zeit noch dem Tod unterliegt, wird ewig sein, wegen seiner Werke und auch wegen der Anstrengungen der Gelehrten, die in seinem Lob schreiben und denen es nicht an Themen fehlen wird“, schrieb der römische Gesandte Grossino an Isabella d’Este, die Herzogin von Mantua. „Die Natur hatte Angst, als Raffael lebte, vor seinem Sieg; als er starb, dass sie sterbe mit ihm“, steht in Latein auf dem antiken Sarkophag im Pantheon in Rom, in dem er auf eigenen Wunsch bestattet wurde.
Zu seinem Ende existieren drei Versionen. Nach der einen starb er an einem Aderlass zur Kurierung von der Syphilis, die er sich – zwar klein, aber freundlich, gut aussehend und vor allem bei Frauen beliebt – bei seinen zahlreichen Affären zugezogen haben soll – einen „galanten Schönling“ nennt ihn Kia Vahlland. Nach der anderen verschied er nach einem archäologischen Aufenthalt in Sumpfgebieten um Rom an Malaria. Und nach der dritten, dramatischsten raffte ihn die Pest dahin: die damals üblichen Beerdigungsrituale wurden stark abgekürzt, um den Leichnam Raffaels schnellstens in Rom beizusetzen. Möglicherweise sollte so eine Ansteckung verhindert werden. Dass er sich durch seine rastlose geistige und körperliche Tätigkeit im Übermaß überanstrengt hatte, gilt heute als eher fraglich.
„Frucht dieser Kultur“
Der Sohn des Goldschmieds Giovanni Santi, der auch als Maler arbeitete, kam in Urbino zur Welt, der Idealstadt des kunstverliebten Herzogs Federico da Montefeltro, wie die Kunsthistorikerin Lorenza Mochi Onori im DLF erklärt: „Es war der Ort und der Hofstaat den Baldassare Castiglione in seinem Buch über den ‚Cortigiano‘, den Höfling, beschrieben hatte. Hier gab es eine der reichsten Bibliotheken der damaligen Zeit. In Urbino hatte Raffael ein vielseitiges Repertoire künstlerischer Ausdrucksformen vor Augen. Um Raffael zu verstehen, muss man diese Architekturen sehen, diese Landschaften erleben. Raffael ist die Frucht dieser Kultur.“
Durch seinen Vater bekam er früh Kontakt zu gebildeten Humanistenkreisen und erhielt schon als Kind die erste Ausbildung in der Malerei – Henning Klüver nennt Giovanni im DLF einen „hochtalentierten und stilsicheren Künstler“. Als Hofmaler arbeitete er an Entwürfen für die Hochzeitsfeier von Herzog Guidobaldo und Elisabetta Gonzaga. Doch bereits 1491 verstarb Raffaels Mutter, 1494 sein Vater. Der erst elfjährige Knabe trat als Schüler in die Werkstatt des Pietro Vanucci ein, genannt Perugino. Der galt als großer Maler, war er doch von Papst Sixtus IV. nach Rom gerufen worden, um bei der Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle mitzuwirken, wo er die Schlüsselübergabe an den heiligen Petrus malte. Perugino unterhielt zwei Werkstätten, eine in Florenz und eine in Perugia, wo der junge Raffael lernte.
Er zeigte bereits als 17jähriger großes Talent: es gelang ihm, sich so weit an den Stil Peruginos anzunähern, dass eine Unterscheidung der Werke oft nur mit Mühe gelingt. Er stellte bald seinen Lehrer in den Schatten, dessen Figuren von oft manieristischer Anmut sind, mit süßlichen Farben gemalt, im Rhythmus etwas monoton und wie abgezirkelt. Prompt wurde er in dem ältesten seiner überlieferten Verträge, einer Abmachung zwecks eines Altarwerkes in Città di Castello, magister (Meister) genannt. Er unterzeichnete gemeinsam mit dem Maler Evangelista da Pian di Meleto einen Vertrag mit einem Wollhändler für ein Altarbild für die Familienkapelle – Raffaels erstes belegtes Werk, das allerdings durch ein Erdbeben 1789 weitgehend zerstört und in mehrere Teile zerlegt wurde. Immerhin 33 Dukaten brachte es ein.
Nach der „Londoner Kreuzigung“ und „Die Krönung Mariä“, die in eine irdische und eine himmlische Zone gegliedert sind und von geometrischen Grundformen, vor allem Kreisen, beherrscht werden, vollendete Raffael 1504 sein frühes Meisterwerk „Die Vermählung der Maria“. Das Gemälde ist nicht mehr durch ein Übereinander von Zonen, sondern durch eine deutliche perspektivische Tiefenstaffelung gekennzeichnet und übertraf damit Perugino. Im selben Jahr ging der junge Meister mit einem Empfehlungsschreiben des urbinischen Hofes nach Florenz, wo schon Michelangelo und Leonardo da Vinci Berühmtheit erlangt hatten.
Die Fresken der Stanzen
Er freundete sich mit dem mächtigen Taddeo Taddei an, in dessen Palast er wohnte, und wurde mit dem Maler Fra Bartolomeo bekannt, der ihn mit dem fundamentalistischen Christentum des 1498 hingerichteten Girolamo Savonarola in Kontakt brachte. Auch während seiner Florentiner Zeit waren die Madonnenbilder, die er schuf, hoch geschätzt. Raffael, der nun intensiv die Werke Leonardo da Vincis studierte, schuf in Florenz etwa 15 Madonnen, die zu seinen besten zählen. Auf Empfehlung seines Onkels Donato Bramante, der unter Papst Julius II. mit dem Neubau des Petersdoms und des Vatikans beauftragt war, kam Raffael schließlich 1508 nach Rom.
Hier erhielt er den Auftrag, die päpstlichen Gemächer, die so genannten Stanzen, mit Fresken zu schmücken. Julius II. beauftragte einige Maler für dieses Projekt, doch nachdem ihn das Talent Raffaels so beeindruckte, entließ er alle anderen und wählte Raffael als einzigen Künstler für diese Arbeiten aus. Auch der auf Julius II. folgende Papst Leo X. war von seinen Arbeiten fasziniert und bezeugte Raffael seine Gunst. So entstanden zwischen 1509 und 1517 seine berühmtesten Werke, begonnen mit der berühmten „Schule von Athen“, einer Darstellung der philosophischen Wissenschaften. Das Zentrum bilden Platon und Aristoteles, um die sich die anderen Philosophen wie Pythagoras, Heraklit, Sokrates oder Diogenes gruppieren. Während seiner Arbeiten im Vatikan lernte Raffael Michelangelo kennen, der zu dieser Zeit mit der Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle befasst war. Auch der Stil Michelangelos beeinflusste Raffaels Arbeiten seit dieser Zeit.
Die Wandgemälde der Stanzen preisen die Künste, die Religion und die Philosophie und gelten als absolute Meisterwerke der Hochrenaissance, in denen zudem religiöse Inhalte mit aktuellen politischen Ereignissen verknüpft sind. Diese vielschichtige Ikonographie geht auf Anregungen des Papstes zurück, der seine religionspolitischen Vorstellungen auch in der Kunst zum Ausdruck bringen wollte. Die durchdachten Eingriffe Raffaels in die vorgegebenen Themen bringen das humanistisch geprägte kulturelle Klima des Roms seiner Zeit auf außergewöhnliche Weise zum Ausdruck. Daneben entwarf Raffael die Kartons für die Apostelteppiche in der Sixtinischen Kapelle.
Die Fresken der Stanzen stellen einen Höhepunkt der europäischen Malerei dar. Das Wahre, Gute und Schöne ergänzen einander und führen zur Verschmelzung von antikem und christlichem Denken. In den klaren und ausdrucksvollen Bildern entsprechen sich Form und Inhalt nahezu vollkommen. Am 13. Januar 1509 bestätigte Raffael den Erhalt von 100 Dukaten für die begonnene Arbeit an den päpstlichen Gemächern. Aber auch etliche berühmte Persönlichkeiten ließen sich vom Meister porträtieren- neben den Päpsten auch Graf Castiglione oder Kardinal da Bibbiena.
Nachdem Raffael 1511 den ersten Teil der fertiggestellten Deckenfresken Michelangelos zu Gesicht bekam, entschloss er sich, seinen eigenen Stil zu verändern, indem er die Darstellung seiner Figuren zunehmend dynamischer werden ließ und er ihnen mehr Größe und Würde verlieh. Im selben Jahr wurde er formell zum scriptor brevium ernannt: Das Amt des Brevenschreibers sollte sicherstellen, dass Raffael dem Papst ein treuer Mitarbeiter blieb, denn es galt als Ehrung und Pfründengarantie. Um das finanzielle Auskommen des Künstlers zu sichern, war es mit einem festen Gehalt verbunden. 1512 entstand dann sein berühmtestes Madonnenbild, die Sixtinische Madonna, die heute in der Gemäldegalerie von Dresden bewundert werden kann und deren zauberhafte Putten am unteren Bildrand zahllose Zitate der Populärkultur auf allen möglichen Gegenständen der heutigen Zeit nach sich zogen.
Lieblich und harmlos
Zwei Jahre später wurde Raffael zum Architekten und Bauleiter der neuen Peterskirche ernannt. Unter seiner Leitung wurde allerdings nur der Unterbau begonnen. Als Architekt schuf er den Grundriss der Kathedrale auf Basis eines lateinischen Kreuzes, während sein Vorgänger noch ein griechisches Kreuz vorgesehen hatte. Erhalten blieben zahlreiche weitere Entwürfe und Architekturzeichnungen Raffaels aus dieser Zeit. Er vollendete jedoch den Hof von San Damaso im Vatikan und fertigte mehrere Pläne zu Privatgebäuden an. Raffael intensivierte sein Antikenstudium und bereitete die Rekonstruktion des antiken Rom vor. Zudem war der Künstler für alle Projekte des Papstes in der Stadt verantwortlich, wodurch seine eigene malerische Produktion litt. Seine Aufgaben als Bauleiter und Aufseher ließen ihm kaum Zeit, seine späten Malwerke selbst anzufertigen, so dass er seine Aufträge überwiegend von seinen Mitarbeitern, vor allem Raffaellino del Colle und Giulio Romano, ausführen ließ. Nach seinem Tod erlosch auch seine Schule – im Gegensatz zur Werkstatt seines Vaters, die er gemeinsam mit Pian de Meleto weitergeführt hatte.
In Briefen an seinen Onkel in Urbino sprach Raffael von Heiratsplänen. Er war lange Zeit verlobt mit Maria da Bibbiena, einer Nichte des von ihn porträtierten Kardinals. Sie starb in seinem Todesjahr. Seine Geliebte Margharita Luti, eine Bäckerstochter aus Rom, ist unter dem Namen Fornarina bekannt – Raffael verewigte sie in mehreren seiner Werke. Sie soll bis zu seinem Tod in seinem Haus in Rom gelebt haben. Vor seinem Tod entstanden noch der Amor- und Psyche-Freskenzyklus sowie die Fresken der vatikanischen Loggien, die biblische Szenen darstellen und als „Bibel Raffaels“ bezeichnet werden. Raffaels letztes eigenhändig gemaltes Werk war die Verklärung Christi, die sich heute in der Pinakothek des Vatikans befindet und nie vollendet wurde.
Durch seine hohen menschlichen Tugenden, seine Grazie, Schönheit, Bescheidenheit und seine vortrefflichen Sitten gehöre er nicht zu den normal Sterblichen, sondern zu den sterblichen Göttern, die den Nachgeborenen in dauerhafter Erinnerung bleiben, meint sein Biograph und Zeitgenoss Giorgio Vasari. Die von Raffaels Kunst und Person ausgehende Faszination hielt nahezu vier Jahrhunderte an, bevor sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verblassen begann, etwa genau zu der Zeit, als Michelangelo zum Inbegriff des in Konflikte verstrickten Genius und zum Symbol tragischer Größe wird.
Denn der galt neben dem Renaissance-Titanen Leonardo als kolossaler, universaler, während Raffael neben ihnen immer wie ein Leichtgewicht erschien, feiert er doch mit seinen Werken vor allem die Schönheit und Harmonie, in den Marienbildnissen die Zartheit und Poesie. Für seine Rezeption sollte das nicht nur von Vorteil sein. Heute wird Raffael vielfach als „lieblich“ und „harmlos“ abgetan: „Seine Madonnen wirken einfach zu vollendet, die immer wiederkehrende Dreieckskomposition aus Maria mit dem Kind, der gefällige Dreiklang aus rotem Kleid, blauem Mantel und hellem Inkarnat scheint zu perfekt“, befindet Nicola Kuhn im Tagesspiegel.
Doch Raffaels Entwicklung verdeutlicht nach Ansicht Vasaris, dass es ein Künstler trotz ungünstiger Voraussetzungen durch Mühen, Studien und Fleiss („fatica, studio, e diligenza“) zu großem Ansehen und Können bringen könne, wenn er sich die richtigen Beispiele suche, die ihm helfen, seinen Stil zu verbessern. Raffael habe nicht wie ein Künstler, sondern wie ein Fürst gelebt und gezeigt, wie die Maler freundlich und höflich miteinander umgehen könnten, obwohl dies ihrer Wesensart widerspreche. Eine solche Harmonie und Einheit habe es in keiner anderen Zeit gegeben.