Individualismus macht einsam
9. April 2020 von Thomas Hartung
Nicht nur die Geschichte des Films, sondern vor allem die seiner damals unerwähnten realen Protagonistin beleuchtet schlaglichtartig die Verhältnisse des zweiten deutschen Staates. Sanije Torka wurde 1944 in Brandenburg als Tochter ukrainischer Ostarbeiter geboren, die sie jedoch kurz nach der Geburt vor einem Jugendamt ablegten. Von diesem Zeitpunkt an spielte sich Sanijes Kindheit zwischen Pflegeeltern und Heimen ab: Ihre Eltern hat sie nicht kennen gelernt, ihren richtigen Namen erst spät erfahren. Sie begann eine Lehre als Schlosserin im Lokomotivbau Babelsberg, machte später eine Schauspielausbildung.
Sie trifft Hartmut, heiratet ihn, bekommt 1964 Sohn Maik. Ein Jahr später flieht Hartmut in den Westen. Sanije will hinterher: „Ich habe mein Kind zur Adoption freigegeben. Maik störte“, sagte sie Bild. Sie wird ihren Sohn nie wiedersehen – ihre „größte Schuld“, meinte sie 2007 rückblickend. Auf der Flucht in den Westen wird sie geschnappt, kommt in den Knast – und nach nur sechs Monaten wieder frei, weil sie sich für die Stasi als Inoffizielle Mitarbeiterin verpflichtete. Sie tingelt als Sängerin mit verschieden Show-Bands durch die Interhotels und Nachtbars der DDR, tritt im Fernsehen auf, bekommt sogar Filmrollen – und bespitzelte Kollegen.
Die Journalistin Jutta Voigt führt mit ihr 1976 ein Interview, das nie veröffentlicht wird: „Sanije war all das, „was man in der DDR nicht sein sollte: hemmungslos, wild, ungebärdig“, sagte sie dem Kinokalender. 1978 wird der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zufällig Kenntnis von dem Text erhalten und ihn drehbuchreif schreiben. Altmeister Konrad Wolf, der Bruder des DDR-Geheimdienstchefs Markus Wolf, fragte Kohlhaase, der ihm schon 1968 „Ich war neunzehn“ geschrieben hatte, nach einer Geschichte, die zum politischen Frühling passte, in der sich die Kulturszene nach Walter Ulbrichts Ablösung an der SED-Parteispitze durch Erich Honecker wähnte. Kohlhaase erinnert sich an die Außenseiterin aus dem Künstlermilieu, am Rand der Gesellschaft, und verfilmt den Stoff als Co-Regisseur unter dem Titel „Solo Sunny“ gemeinsam mit Wolf; Jutta Voigt ist im Vorspann als „Beraterin“ genannt.
Möglich wurde der Film durch eine Weisung des neuen stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke an die Filmbranche Mitte der siebziger Jahre, in ihren Werken mehr den Alltag der Bürger zu berücksichtigen – auch in seinen schwierigen Aspekten. Als der Streifen im Februar 1980 kurz nach dem ostdeutschen Kinostart an der Berlinale teilnahm, bekam er den Kritikerpreis und die unbekannte Renate Krößner in der Titelrolle vom Fleck weg den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Sie habe sich ganz nach vorn gespielt, befand Renate Holland-Moritz damals im Eulenspiegel: „Wache Intelligenz, Aufrichtigkeit, Naivität, Verletzbarkeit und ein Hauch vom Kellerkind der Berliner Hinterhöfe machen ihre Sunny zu jener Persönlichkeit, von der die Filmheldin träumt“. Der Streifen wurde zu einem Kultfilm, wie es seit Heiner Carows „Legende von Paul und Paula“ (1973) keinen mehr gegeben hatte – und bis zum Ende der DDR auch keinen mehr geben sollte. Am 10. April vor 40 Jahren kam er in die bundesdeutschen Kinos.
„Ich schlafe mit jedem“
Erzählt wird die Geschichte von Schlosserin Ingrid „Sunny“ Sommer, die sich einen Traum erfüllt, indem sie von einer Kapelle als Sängerin engagiert wird und den ungeliebten Job kündigt. Der Name „Sunny“ kann als versteckte Hommage an den Vornamen des realen Vorbilds gelesen werden. Doch sie fühlt sich nicht wohl in dem Programm namens „Kunterbunt und immer rund“, das von einem schmierigen Conférencier in den Kulturhäusern der DDR-Provinz präsentiert wird. In der Truppe gibt es Reibereien und Frustration, die Avancen des Saxophonisten weist sie zurück, gegen die herablassenden Ansagen des Conférenciers protestiert sie. Sie ist nicht als Frau aus der Produktion ausgestiegen, um nun als Sängerin genau dieselbe Gängelung zu erleben. Aber mit einer solchen Einstellung macht sie sich keine Freunde – einen „schillernden, ambitionierten und verzweifelten Charakter“ erkennt Thorsten Funke auf critic.
Als eines Tages der Saxophonist kurzfristig ersetzt werden muss, springt ein Diplom-Philosoph für ihn ein, der seine Dissertation über den Tod mit Nebenjobs als Musiker finanziert. Er ist, mit seinem wenig lebensbejahenden Thema, genauso Außenseiter im zukunftsorientierten DDR-System wie die auf den Augenblick fixierte Sunny. Prompt kommen beide zusammen: Es werden die Lebensrollen von Krößner und Alexander Lang, denn beide Schauspieler verließen wenige Jahre später die DDR. Sunny wird aus der Gruppe geschmissen und geht wieder zurück in ihren alten Beruf, in dem sie, natürlich, nicht glücklich ist. Einen Mann wirft sie schon mal hochkant aus Bett und Wohnung hinaus, und zwar – die Pointe wurde zu einem geflügelten Wort – „ohne Frühstück und auch ohne Diskussion“: Kohlhaase hat neben Witz auch viel Trotz und Lakonie in die Dialoge gemixt.
Als ihr schließlich auch ein Soloauftritt in einer Bar nicht weiterhilft, ist Sunny am Ende und unternimmt mit Medikamenten einen Selbstmordversuch. Eine Krise, die ihr nochmal Kraft für einen neuen Anlauf gibt: Nach langem Suchen findet sie junge Gleichgesinnte, mit denen sie eine neue Band aufbauen will. Die letzten Worte des Films, mit denen sie sich bei den Musikern vorstellt, wurden legendär: „Ich komme auf die Annonce wegen der Sängerin. Ich würde es gern machen. Ich schlafe mit jedem, wenn es mir Spaß macht. Ich nenne einen Eckenpinkler einen Eckenpinkler. Ich bin die, die bei den ‚Tornados‘ rausgeflogen ist. Ich heiße Sunny.“ Matthias Dell erkennt im Freitag „ein Sittenbild der in die Jahre gekommenen DDR, in der das Warten kein Ende nimmt“.
Nicht nur Krößner und Lang glänzten, auch die Nebenrollen des Films waren zum Teil prominent besetzt. So spielten neben Krößner ihr Lebensgefährte Bernd Stegemann, der später auch in die BRD ging, der erste Solotänzer des Friedrichstadtpalastes Rolf Pfannenstein und sogar der Regisseur Lothar Warneke mit. Den bösen der beiden Saxophonisten gibt Klaus Brasch, der Bruder des Schriftstellers Thomas Brasch und Sohn des ehemaligen stellvertretenden DDR-Kulturministers Horst Brasch. Als Mitglied einer Nomenklatura-Familie hatte er sich wie sein Bruder zum Rebellen entwickelt, „und etwas von seinem Zorn spürt man der Vehemenz an, mit der er seine Figur zu einem Ekelpaket macht“, befand Andreas Platthaus in der FAZ. Brasch beging, kurz nach der Premiere und noch vor der Berlinale, am 3. Februar 1980 durch Medikamentenmissbrauch Selbstmord – was für eine Duplizität. „So ist ‚Solo Sunny‘ auch zu einem Requiem auf eine Schauspielergeneration in der DDR geworden, die an der sozialistischen Wirklichkeit verzweifelte“, meint Platthaus – obwohl am Schluss des Films das Individuum triumphierte. Gar von einem „Schicksalsfilm“ schreibt Tanja Stern auf ihrem Blog.
Bindung nur zum Anderssein
Wirklichkeitsnähe strahlten neben der Geschichte mit ihren Konflikten auch die Drehorte aus: „In der Malmöer Straße in Prenzlauer Berg fand das Drehteam Raum und Atmosphäre der Sängerin Sunny, die Gegend steht auf Abriß. Lange wird es diese Sorte Berlin nicht mehr geben“, schrieb Regine Sylvester im Magazin. Und natürlich trug die Musik zur starken Wirkung des Streifens bei: Komponiert von Günther Fischer, wurden alle Titel von Regine Dobberschütz („Modern Soul Band“) eingesungen. Das Titelthema, das laut Stern die „lakonische Poesie des Filmes aufzunehmen scheint und so zu einem Stück Zeitgeist wird“, können die meisten Ü 50er aus der DDR wenn nicht mitsingen, dann mindestens noch mitsummen oder -pfeifen. Der Film war Dobberschütz‘ größter Erfolg; auch sie verließ später die DDR und leitete bis 2013 gemeinsam mit Eugen Hahn den Jazzkeller Frankfurt.
Wahrscheinlich ist es Wolfs „Renommee als antifaschistisch-linientreuer Künstler zu verdanken, dass ‚Solo Sunny‘ überhaupt das Licht des DDR-Kinos erblickte“, vermutet Tanja Stern – es sollte Wolfs letzter Film werden, 1982 starb er. Nach der Wende wird Krößner für ihre Darstellung der Kneipenwirtin Uschi Klamm in Adolf Winkelmanns Fußballdrama „Nordkurve“ noch den Bundesfilmpreis und für ihre Theres Spitzer in der Fernsehserie „Bruder Esel“ auch den Adolf-Grimme-Preis erhalten. Einen direkten Nachfolger hatte der Film nicht – wohl aber einen indirekten. 2009 dokumentierte die Leipziger Regisseurin Alexandra Czok das Leben der inzwischen 62-jährigen, aber immer noch charismatischen Sängerin Sanije Torka in einer Justizvollzugsanstalt in Berlin.
Dort saß die laut Voigt „Film-Sunny hoch drei“ eine zweijährige Haftstrafe wegen Ladendiebstahls ab. Nach dem Mauerfall geriet sie in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das plötzlich ungewohnte Leben ohne jegliche Herausforderungen ließ sie vereinsamen, doch durch die Leidenschaft zu klauen gewann sie ihre Lebensfreude wieder: Torka wurde zur passionierten, ja studierten Ladendiebin, wie sie selbst behauptet. „Sie ging jeden Tag in die Staatsbibliothek und las: Ladendiebstahl als Kind, Ladendiebstahl in der Schwangerschaft, Ladendiebstahl im Alter … Später überprüfte sie wie jeder gewissenhafte Meisterschüler die Theorie an der Praxis“, meint Kerstin Decker im Tagesspiegel.
Eine echte Bindung hat sie nur zum Anderssein. Da Wein ihr Sodbrennen bereitete, stieg sie – wenn man so will aus gesundheitlichen Gründen – auf Wodka und Korn um; diese jedoch ergaben eine törichte Mischung in Kombination mit den Schlaftabletten, die sie nahm, und so ließen sich Depressionen und die dazugehörige Medikation nicht lange bitten. Bis 2012 schickt ihr Wolfgang Kohlhaase etwas Geld. „Heute habe ich kaum Geld, nur eine Freundin und keine Verwandten“, so Torka zu Bild. Sie lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg, die Miete muss das Amt zahlen. Und sie ist krank, ein Nachbar begleitet sie manchmal zum Arzt. „Zusammengefasst war mein Leben eine Tragödie“, bilanziert die wahre Solo Sunny: Eine Unvollendete, die nie ins normale Leben fand. Individualismus macht eben einsam. Die große Sehnsucht einer kleinen Frau hat sich nur im Film erfüllt.