„Der Bundeskönig“
14. April 2020 von Thomas Hartung
Seine beiden Amtszeiten vereinten mehrere Premieren. Als ehemaliger Regierender Bürgermeister Berlins war er der erste Bundespräsident, der zuvor an der Spitze eines Landes stand. Seine Wiederwahl am 23. Mai 1989 war die erste – und einzige –, bei der es nur einen Bewerber gab. Er war der erste Bundespräsident des vereinten Deutschlands und 1993 das erste Verfassungsorgan, das von Bonn nach Berlin zog: ins Schloss Bellevue; die Villa Hammerschmidt ist seitdem „nur“ noch zweiter Amtssitz. Zugleich war er der erste Bundespräsident mit mehr als einem Dutzend Ehrendoktortiteln und auch der erste, der zuvor mehrfach Präsident des Evangelischen Kirchentags war.
Aber Richard von Weizsäcker blieb weniger durch diese Premieren als vielmehr durch seine Rede zur Bundestags-Gedenkstunde vom 8. Mai 1985 in Erinnerung, in der er das Datum als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnete. Das war ein Paradigmenwechsel in Richtung der seit Jahrzehnten gängigen Deutung im Ostblock, die ihm viele Konservative nie verziehen. Die Rede fand allerdings überwältigende Zustimmung zumal im Ausland: Israel würdigte sie als „Sternstunde der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Sie ebnete den Weg für den Staatsbesuch Weizsäckers in Israel im Oktober 1985, dem ersten eines deutschen Bundespräsidenten – eine weitere Premiere.
Und Weizsäcker blieb als sechster deutscher Bundespräsident auch in Erinnerung durch seine praktizierte bürgerliche Unabhängigkeit, die ihn nicht nur mit seiner Partei, sondern vor allem mit Kanzler Helmut Kohl fremdeln ließ – der Macht- und der Geistmensch waren sich zuletzt in „herzlicher Feindschaft verbunden“, meint Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung. So ließ Weizsäcker mit der Annahme seiner Wahl zum Bundespräsidenten traditionsgemäß seine Mitgliedschaft in der CDU ruhen, nahm sie aber nach dem Ende seiner Amtszeit auch nicht wieder auf. Er definierte den Wirkungskreis des Bundespräsidenten neu, indem er etwa 1983 eigensinnig und eigenmächtig Kontakte zur DDR-Führung am Kanzleramt vorbei pflegte und von Honecker empfangen wurde. 1989 gibt er gar einen großen Empfang aus Anlass des 75. Geburtstags des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD).
1997, ein Jahr vor Kohls historischer Wahlniederlage, setzte er im Spiegel zum Frontalangriff auf den Kanzler an und kritisierte ein System, das den Machterhalt auf „eine bisher nie gekannte Höhe der Perfektion getrieben“ habe. Er könne „in den täglichen Leitartikeln der Herald Tribune mehr an konzeptionellen Gedanken finden als in den Äußerungen unserer parteipolitischen Machtzentren“ und machte in der politischen Führung eine „weitverbreitete intellektuelle Schläfrigkeit“ aus. Kohl dürfte getobt haben.
Bruder begraben und Vater verteidigt
Richard wird am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Sein Großvater war der geadelte und 1916 in den erblichen Freiherrnstand versetzte württembergische Ministerpräsident Karl Hugo von Weizsäcker, sein Vater Ernst Diplomat und später Staatssekretär unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Seine Mutter Marianne war die Tochter des königlichen Generaladjutanten Friedrich von Graevenitz. Von seinen drei Geschwistern wird sich Carl Friedrich als Philosoph und Physiker ebenfalls einen Namen machen. Kindheit und Jugend verbringt er in Kopenhagen, Bern und Berlin, wo er 1937 sein Abitur ablegt. Anschließend reist er nach Oxford und Grenoble, um dort Vorlesungen über Philosophie und Geschichte zu besuchen.
1938 tritt er nach kurzzeitigem Einsatz im Reichsarbeitsdienst in den Militärdienst ein und erhält seine Ausbildung im traditionsreichen Potsdamer Infanterieregiment 9, wo sein Bruder Heinrich als Leutnant dient. Am 1. September 1939 überschritt die Einheit der Weizsäcker-Brüder im Rahmen des Überfalls auf Polen die polnische Grenze bei Bromberg. Einen Tag später fiel Heinrich während der Schlacht in der Tucheler Heide unweit von Richard, der ihn dann beerdigte. Diese Erfahrung wird ihn ebenso prägen wie seine Assistenz bei der Verteidigung seines Vaters zu den Nürnberger Prozessen: als SS-Brigadeführer war der Staatssekretär aufgrund seiner aktiven Mitwirkung bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer sieben-, später fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Richard bezeichnete das Urteil später immer als „historisch und moralisch ungerecht“.
Den Krieg übersteht er, zuletzt Hauptmann der Reserve, mit einer Verletzung im April 1945 in Ostpreußen. Über das, was er an der Ostfront erlebt hat, wollte er en Detail nicht reden und nicht schreiben. Wortreich entzieht er sich der Wiedergabe in seiner Biographie „Vier Zeiten“, um dann ein paar Seiten später von einem „Quasi-Mordbefehl“ an sein Regiment an der Ostfront zu berichten. Der Staatsmann Weizsäcker schrieb in seinen Erinnerungen, er sehe im Krieg „nichts als den grausamen Zerstörer des Lebens“.
Die nächsten fünf Jahre studiert er Jura und Geschichte in Göttingen. Nach dem Referendarexamen arbeitet Weizsäcker bis 1958 bei der Mannesmann AG in Gelsenkirchen, zuletzt als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung. In diese Zeit fallen sein Assessorexamen, seine Promotion, sein CDU-Eintritt und die Heirat mit Marianne von Kretschmann, mit der er vier Kinder hat, darunter den Münchner Kunstprofessor Andreas von Weizsäcker, den er 2008 begraben musste – er starb an Krebs. Anschließend arbeitet er vier Jahre als Geschäftsleiter eines Bankhauses im Ruhrgebiet und weitere vier als Geschäftsführender Gesellschafter bei Böhringer in Ingelheim. Später zeigt er sich geschockt, dass das Unternehmen Substanzen an Dow Chemical lieferte, aus denen der im Vietnamkrieg eingesetzte Giftstoff Agent Orange hergestellt wurde. Als im November 2019 sein Sohn Fritz, ein Berliner Chefarzt, von einem 57jährigen Pfälzer ermordet wurde, gab der als Grund seine Verbundenheit mit dem vietnamesischen Volk an und die Tätigkeit von Weizsäckers in der Geschäftsführung von Boehringer Ingelheim – offenbar ein linker Apo-Veteran aus der Vietnambewegung.
1962 wird Weizsäcker nicht nur Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages, sondern nahm in einem Beitrag für die Zeit auch die Ostpolitik Willy Brandts vorweg. Seit 1964 Kirchentagspräsident, lehnt er ein Jahr später eine Bundestagskandidatur ab, für die ihn der rheinland-pfälzische CDU-Fraktionschef Helmut Kohl vorgeschlagen hatte: ein politisches Mandat lasse sich nicht mit seiner Funktion als Kirchentagspräsident vereinbaren. 1966 wird er, wiederum auf Kohls Vorschlag, Mitglied des CDU-Bundesvorstands, dem er bis 1984 angehört. Zwei Jahre später wurde Weizsäcker, erneut von Helmut Kohl, zum ersten Mal als CDU-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen, unterlag aber in der Kampfabstimmung im CDU-Auswahlausschuss deutlich mit 20 zu 65 Stimmen gegen den damaligen Verteidigungsminister Gerhard Schröder.
1969 zog er in den Bundestag ein, dem er bis 1981 angehörte. 1971 wurde Weizsäcker, nun von Rainer Barzel, zum Vorsitzenden der CDU-Grundsatzkommission berufen, doch erst sieben Jahre später konnte das neue Parteiprogramm nach vielen Diskussionen beschlossen werden. Während der Debatten über die Ostverträge hält Weizsäcker zwei viel beachtete Reden im Bundestag, die dazu beitragen, dass die CDU/CSU-Opposition durch Stimmenthaltung die Ratifizierung ermöglicht – Weizsäcker sprach später von einem „furchtbaren Kampf“. Und als seine Parteifreunde etwas später die KSZE-Schlussakte von Helsinki kippen wollten, sei ihm seine eigene Fraktion „wie von Sinnen“ vorgekommen. 1973 unterlag er Karl Carstens in einer Kampfabstimmung um den Vorsitz der Unionsfraktion und wurde Fraktionsvize. Im selben Jahr nimmt er für die CDU an der ersten Reise einer Parlamentarierdelegation in die Sowjetunion teil.
„Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte“
Bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 1974 war Weizsäcker Unionskandidat – im Bewusstsein, aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung nur „Zählkandidat“ zu sein; gewählt wurde Walter Scheel (FDP). 1976 gehörte er Kohls für die Bundestagswahl aufgestelltem Schattenkabinett an. 1979 war Weizsäcker CDU-Spitzenkandidat in Berlin und holte mit 44,4 % der Stimmen zwar den Wahlsieg, doch die Koalition aus SPD und FDP wurde fortgesetzt. Als es 1981 zu vorgezogenen Neuwahlen in Berlin kam, war Weizsäcker Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Bei diesen Neuwahlen wurde er nach 48,0 % der Stimmen zum Regierenden Bürgermeister gewählt und stand bis 1984 einem Senat vor, der zunächst als Minderheitsregierung und erst ab März 1983 als Koalition mit der FDP fungierte. Zu seinen innenpolitischen Herausforderungen gehörten Hausbesetzungen wie in Kreuzberg – bei der praktischen Umsetzung von Räumungen profilierte sich Innensenator Heinrich Lummer.
Zum zweiten Mal als Unionskandidat für das Bundespräsidentenamt benannt, gewann Weizsäcker am 23. Mai 1984 gegen die von den Grünen vorgeschlagene Schriftstellerin Luise Rinser. Weizsäcker sah nach eigenen Angaben seine Hauptaufgabe nicht in bloßen Repräsentationspflichten, sondern in der Begegnung mit Menschen; dazu gehören auch Jugendliche, Randgruppen oder Staatskritiker. Auf seinen vielen Reisen kümmert er sich besonders um die Probleme der Entwicklungsländer; so als Schirmherr der Welthungerhilfe. Zudem setzt er sich für eine Aussöhnung mit dem Ostblock ein, regt Gespräche mit der DDR an und plädiert dafür, die Reformprozesse in Gorbatschows Sowjetunion ernst zu nehmen.
Die Schonungslosigkeit und Offenheit, mit der von Weizsäcker dann zum 40. Jahrestag der Kapitulation die Ursachen analysierte, die zum Krieg, zum Holocaust, zur Vertreibung und zum geteilten Europa führten, und daraus Konsequenzen für die Gegenwart zog, war bis dahin für eine öffentliche Rede eines bundesdeutschen Staatsoberhauptes ohne Beispiel. Mit den Worten „Es gab keine ‚Stunde Null‘, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn“ zog Weizsäcker die Summe aus vierzig Jahren westdeutscher Nachkriegsgeschichte. Der 8. Mai sei nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen. „Wir alle, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagte Weizsäcker damals. Zu seinen auffälligen Auslassungen zählt die Verantwortung der alten Oberschichten, zu denen seine Vorfahren gehörten: Kein Wort verlor er über deren Anteil am Untergang der Weimarer Republik.
Stattdessen sagte er: „Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen.“ Der Text wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, in einer Auflage von über zwei Millionen Exemplaren an interessierte Bürger verteilt und erschien auf Tonträgern, traf aber auch auf erheblichen Widerstand. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Lorenz Niegel und 30 weitere Abgeordnete blieben der Rede fern. 1995 wurde der Appell „8. Mai 1945 – gegen das Vergessen“ in der FAZ veröffentlicht, dem sich mehr als 200 Unterzeichner anschlossen, darunter Alfred Dregger, Heinrich Lummer und Alexander von Stahl. Die Unterzeichner sprechen sich gegen ein Geschichtsbild aus, das nur auf „Befreiung“ fixiert sei, denn dies könne nicht „Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein“.
„teilen lernen“
Der Höhepunkt seiner zweiten Amtsperiode war die Wiedervereinigung. Im Gegensatz zu Kohl gehörte Weizsäcker zu den Warnern vor einem überstürzten Prozess: Deutschland müsse zusammenwachsen, nicht zusammenwuchern, sagte er. Seine mahnenden Worte sind in einer Phase der Macher jedoch missverstanden worden. Zwar sprach er sich, naheliegend, vehement für Berlin als Bundeshauptstadt aus, prägte am 3. Oktober auf dem Festakt zur Wiedervereinigung in Berlin aber auch die Worte „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen“. Er mahnte zur Behutsamkeit im Umgang mit den Bürgern der ehemaligen DDR und einem wirklichen Lastenausgleich. In einer Rede vor dem Bundesverband der deutschen Industrie räumt Weizsäcker 1992 Fehler der Politik bei der Finanzierung der deutschen Einheit ein.
Im selben Jahr sorgt er bei Politikern aller Parteien für das, was man heute „Shitstorm“ nennen würde. Er kritisiert in einem Zeit-Interview den Zustand der Parteien und warf der „Politikerschicht“ vor, sie erliege einer „Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge“. Zugleich attackierte er seine Politikerkollegen als „Generalisten mit dem Spezialwissen, den politischen Gegner fertig zu machen.“ Prompt wurde ihm vorgeworfen, zur Politikverdrossenheit beizutragen. Doch er beharrte darauf, dass sich bestimmte Themen, darunter etwa Arbeitslosigkeit, nicht dazu eigneten, „parteipolitisch instrumentalisiert“ zu werden.
Noch lange beharrt er darauf, Kohls Koalition habe „auf Anhieb keine glückliche Hand mit der von ihr angekündigten geistig-moralischen Wende“ gehabt, weshalb er dieses Manko offenbar selbst zu kompensieren trachtete. Er begnadigte ehemalige RAF-Terroristen, warb in der Debatte über die Änderung des Grundrechts auf Asyl dafür, Quoten und Kontingente für Einwanderung zu schaffen, und rief zu mehr Sachlichkeit im Wahlkampf bei der Auseinandersetzung mit der PDS auf. Auch drang er darauf, dass Europa mit einer Stimme spricht. Dabei klang mitunter Kapitalismuskritik durch, wenn er mit Blick auf die EU forderte: „Es gilt, die Wall-Street-Abhängigkeit zu mildern.“
Nicht zufällig ist er nach dem Ausscheiden aus dem Amt 1994 ein weltweit gesuchter Ansprech- und Interviewpartner geblieben. Der Uno-Generalsekretär berief ihn in die Kommission zur Reform der Weltorganisation, zwischen Tokio und Aspen bemühen sich Stiftungen und Kuratorien um seine Mitgliedschaft. Der geschliffen formulierende Staatsmann zählt mit seinem vornehmen Auftreten zu den herausragenden Repräsentanten der Zivilmacht Bundesrepublik. Von der französischen Deutschland-Kennerin Brigitte Sauzay stammt das Urteil, Weizsäcker sei unter den Politikern der Bundesrepublik „derjenige, der die Aura und das Charisma des Deutschland von ehedem am meisten bewahrt hat“.
Weizsäcker starb am 31. Januar 2015 im hohen Alter von 94 Jahren und wurde nach einem Staatsakt in Berlin-Dahlem begraben. Gewürdigt wurden seine Intelligenz, Lauterkeit und Souveränität, aber auch seine Besonnenheit, wenn es darum geht, Urteile zu fällen oder Entscheidungen zu treffen. „Aber was ihn wirklich zur Integrationsfigur macht, ist seine Glaubwürdigkeit“, weiß Dönhoff. Er war kein Volkstribun, wollte Menschenmassen nicht entflammen, sondern zum Nachdenken zu bringen. Dazu besaß er die seltene Gabe, ohne Leerformeln und Phrasen zu formulieren.
Keiner der bisherigen Bundespräsidenten entsprach so genau dem Idealbild, das die Bürger von einem Staatsoberhaupt haben, wie Richard von Weizsäcker: Wenn man einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen könnte, würde dabei kein anderer als er herauskommen, schrieb Gräfin Dönhoff. „In den zehn Jahren seiner Amtszeit wusste er in diesem Amt ohne Macht wie kaum ein anderer die Macht der Rede zu nutzen und wurde allein dadurch zum wohl politischsten Präsidenten der Bundesrepublik“, meinte Margarethe Limberg im DLF und nannte ihn einen „Glücksfall für die Bundesrepublik“. Gar „Bundeskönig“ nannte ihn Oliver Das Gupta in der Süddeutschen Zeitung: „Er hat Deutschland gut getan“. Das kann man getrost unterschreiben.