„Er ist ein Satan!“
5. Mai 2020 von Thomas Hartung
Die Adelsspezialisten rätseln bis heute über einen genealogischen Fauxpas, der wohl kaum jemals aufgeklärt werden dürfte: die potentielle Verwandtschaft zwischen Camilla Parker Bowles, der heutigen Kronprinzessin und Herzogin von Cornwall, und ihrem Mann, dem britischen Kronprinzen Charles. Die Erklärung: Alice Keppel, die letzte und innigste Mätresse von Kronprinz Albert Edward, schenkte 1900 einer Tochter das Leben, Camillas Großmutter Sonia, von der bis heute unklar ist, ob dem Kronprinz oder Keppels Mann die Vaterschaft gebührt. Wie durch eine merkwürdige Fügung des Schicksals wurden beide Frauen, blutsverwandt und im Abstand von vier Generationen, zu Mätressen eines Prince of Wales.
Die Freimaurer dagegen feiern ihn noch heute als Protektor der britischen Freimaurerei und, bis zu seiner Krönung, Großmeister der Vereinigten Großloge von England. Die Zahl der aktiven Logen stieg in der Zeit seiner Großmeisterschaft von 1200 auf über 3000. Zwei seiner Brüder und seinen ältesten Sohn, den Herzog von Clarence, nahm er persönlich in den Bund auf. Bis heute kündet ein Denkmal in Marienbad (Mariánské Lázně), einem der drei berühmten Bäder in Westböhmen, in dem er jährlich kurte, vom ungleichen Treffen zweier Monarchen: Am 16. August 1904 begegneten sich hier Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, in dem die Freimaurerei schon mehr als hundert Jahre verboten war, und Edward. Eine Heilquelle vor dem Marienbader Hotel Cristal Palace heißt nach ihm, sie soll Magen- und Darmbeschwerden lindern.
Edward, der erste britische Herrscher aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha, das in Großbritannien seit 1917 Haus Windsor genannt wird, starb am 6. Mai 1910. Die neun Majestäten, die wenige Tage darauf hoch zu Roß seinem Sarge folgten, sollen ein so überwältigendes Bild geboten haben, dass die schwarzgekleidete Menge ehrfurchtsvoll schwieg. Scharlachfarben, blau, grün und purpurrot ritten die Herrscher jeweils zu dreien nebeneinander, mit nickenden Helmbüschen, goldenen Tressen, karmesinroten Schärpen und juwelenbesetzten Orden, die in der Sonne aufblitzten. Ihnen folgten fünf Thronerben, dann weitere vierzig kaiserliche oder königliche Hoheiten, sieben Königinnen – davon drei Regierende und vier Königinwitwen – und eine Schar von Sondergesandten aus Ländern, deren Herren keine Krone trugen.
Man hatte Eduard oft den „Onkel Europas“ genannt, und diesen Titel konnte man, soweit es sich um die regierenden Häuser Europas handelte, ganz wörtlich nehmen. Er war der Onkel nicht nur Kaiser Wilhelms, sondern durch die Schwester seiner Frau, die Kaiserinwitwe Marie von Rußland, auch des Zaren Nikolaus II. Seine Nichte Alix war die Zarin, seine Tochter Maud Königin von Norwegen; eine andere Nichte, Ena, war Königin von Spanien, eine dritte, Marie, sollte bald Königin von Rumänien werden. Insgesamt waren siebzig Nationen vertreten in dieser größten Versammlung von Königen und Würdenträgern, die sich je an einer Stelle zusammengefunden hat und die in ihrer Art die letzte sein sollte.
„Sein Intellekt ist schwach“
Prinz Albert Edward wurde am 9. November 1841 als ältester Sohn und zweites von neun Kindern von Königin Victoria und ihres Prinzgemahls Albert von Sachsen-Coburg-Gotha im Londoner Buckingham Palace geboren. Bereits vier Wochen nach seiner Geburt wurde ihm der Titel eines Prince of Wales verliehen. Das Königspaar war entschlossen, „Bertie“, wie er im engeren Familienkreis genannt wurde, eine Ausbildung zukommen zu lassen, die ihn zu einem vorbildlichen konstitutionellen Monarchen machen sollte. „Ich hoffe und bete, dass er wie sein liebster Papa werden möchte“, schrieb die Königin in einem Brief an ihren Onkel Leopold I. von Belgien. Sein überaus strenger Vater bestellte Privatlehrer und Erzieher und übergab ihnen den siebenjährigen Prinzen, der jedoch von unstetem Wesen war und sich nicht als Musterschüler erwies.
Bald macht die Mutter keinen Hehl daraus, dass sie ihren ältesten Sohn für einen vollkommen ungeeigneten Thronfolger, die ältere Schwester dagegen für begabt und intelligent hält. „Sein Intellekt – ach! – ist schwach“, schreibt sie über ihren Sohn. Zweisprachig erzogen, meisterte er die deutsche Sprache zuerst, während er sich mit dem Englischen zunächst schwer tat. Der Privatunterricht des Jungen an sechs Tagen die Woche gerät zum Desaster. Die Lehrer schaffen es kaum, seine Aufmerksamkeit zu fixieren. „Sie ließen seinen Kopf vermessen, um zu sehen, was mit ihm nicht stimmte“, sagt Historikerin Jane Ridley im WDR. Dabei hat der Junge durchaus Eigenschaften der königlichen Mutter geerbt. „Er war jähzornig, scharfsinnig, aber kein Akademiker“, so Ridley. Dennoch hätten die Eltern gerne einen Intellektuellen mit hohen moralischen Prinzipien aus ihrem ältesten Sohn gemacht.
Tatsächlich entwickelt sich Prinz Edward genau ins Gegenteil: Bücher sind ihm ein Leben lang ein Graus. Auch die Studienreisen durch Europa und Ägypten, die seine Eltern ihm als Teenager verordnen, wecken nicht das erhoffte Interesse an Kunst, Kultur und Geschichte. Mit einer Ausnahme 1855: Während eines Besuchs in Paris mit seinen Eltern entwickelt Eduard eine lebenslange Liebe zu Frankreich. Zu Napoleon III. sagte er: „Sie haben ein schönes Land. Ich wäre gern Ihr Sohn.“ Diese Vorliebe für alles Französische, die im Gegensatz oder vielleicht auch im Widerspruch zu den deutschen Neigungen seiner Mutter stand, hielt sein Leben lang an; er machte sie nach ihrem Tode nutzbar. Dennoch erhielt er ab 1859 die standesgemäße Ausbildung in Oxford und Cambridge. Seine erste diplomatische Erfahrung sammelte er 1860: Erstmals besuchte ein britischer Thronfolger Kanada und die Vereinigten Staaten. Eduard zeigte dabei großes diplomatisches Geschick, und der Besuch wurde als außenpolitischer Erfolg gefeiert.
Doch vorerst widmet er sich den leichten Dingen des Lebens: Jagd, Mode, Glücksspiel, Zigarren – und Damen. Im irischen Armeelager Curragh wollten Offizierskollegen dem Prinzen ein besonderes Geschenk bereiten und „schmuggelten“ die junge irische Schauspielerin Nellie Clifden in sein Bett. Als das Stelldichein der Königin zu Ohren kam, war die Panik groß, denn „Berties“ Hochzeit mit der jungen Prinzessin Alexandra von Dänemark war bereits ausgemachte Sache. Es galt, die Affäre möglichst unter Verschluss zu halten und einen Skandal für den zukünftigen König zu vermeiden – mit ungeahnt schweren Folgen.
Der gesundheitlich schwer angeschlagene Albert ließ es sich wegen des Ernsts der Lage nicht nehmen, seinen Sohn selbst aufzusuchen und ihm eine persönliche Standpauke zu halten. Ein langer Spaziergang im Regen hatte fatale Folgen. Sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich und er starb kurz nach seiner Rückkehr am 14. Dezember 1861. Es war ein prägendes Ereignis, das Victorias Beziehung zu ihrem Sohn für den Rest ihres Lebens belasten sollte. Für sie war „Bertie“ allein schuld am Tod seines Vaters. Ihrer Tochter Vicky schrieb sie in einem Brief: „Ich kann und werde ihn nie wieder ohne Schaudern anschauen.“
„übergewichtiger Ehebrecher“
Victoria wird jahrzehntelang zögern, ihn mit offiziellen Aufgaben zu betrauen, und trieb ihn damit indirekt in ein müßiges Leben zwischen Jagd, Banketts und Bettgeschichten. Daran ändert auch die Heirat mit Alexandra am 10. März 1863 nichts, die ihm in sieben Jahren sechs Kinder schenkt. „Alexandra ist meine Zuchtstute, die anderen sind meine Reitpferde“, pflegt er zu sagen. Äußerlich ist der britische Prinz alles andere als gut aussehend, aber er kann Menschen in seinen Bann ziehen. „Jeder, mit dem er sprach, fühlte sich wertgeschätzt“, so Biographin Ridley. Diesem Charme – und wohl auch dem königlichen Titel – erliegen zahlreiche Damen der feinen und weniger feinen Gesellschaft. Beachtliche 55 Affären sagt man ihm nach, darunter auch mit der Mutter von Winston Churchill. Eduard war insgesamt 59 Jahre lang Prince of Wales und galt als „ewiger Thronfolger.“
1875 wird er zum Feldmarschall ernannt, im selben Jahr stärkt seine Reise nach Indien die Verbindung zwischen beiden Ländern. 1878 setzt er sich als Präsident der britischen Sektion der Pariser Ausstellung für ein gutes Verhältnis zwischen Großbritannien und Frankreich ein. Als „Bertie“ 1901 schließlich den Thron besteigt er und er sich wohl kaum zufällig gegen den Namen Albert entschied, sind die Erwartungen an den fast 60-jährigen niedrig. „Viele sahen Edward VII. als übergewichtigen Ehebrecher“, so Ridley. Zur allgemeinen Überraschung arbeitet der Lebemann hart und wird ein beim Volk beliebter Monarch, der vor allem die bis dato miserablen Beziehungen zwischen Frankreich und Großbritannien verbessert. In den neun kurzen Jahren seiner Regierung hatte England notgedrungen seine splendid isolation aufgegeben. An ihrer Stelle war, da die englische Politik seit je weniger zu regelrechten Bündnissen neigte, eine Reihe von „Abkommen“ und Vereinbarungen mit zwei alten Feinden getreten, nämlich Frankreich und Russland, und mit einer vielversprechenden neuen Macht: Japan.
1903 wird er zum Kaiser von Indien proklamiert. Während eines Besuchs in Paris bereitet Eduard VII. den Boden für ein britisch-französisches Bündnis vor, die „Entente cordiale“. Am 8. April 1904 wird sie offiziell besiegelt; durch die Einbeziehung Russlands entwickelt sich daraus 1907 die Tripelentente. Die daraus resultierende Veränderung des Gleichgewichts war in der ganzen Welt zu spüren und wirkte sich in den wechselseitigen Beziehungen aller Staaten aus. Obwohl Eduard den politischen Kurs seines Landes weder bestimmte noch beeinflusste, gab sein persönliches diplomatisches Geschick bei dieser Umstellung doch den Ausschlag. Nur das Verhältnis zu Deutschland, mit dem England seit geraumer Zeit im Marine-Wettrüsten verstrickt ist, verschlechtert sich zusehends. „Ich habe nicht mehr lang zu leben. Und dann wird mein Neffe in den Krieg ziehen“, prognostiziert er im März 1910. Für Wilhelm II. ist der Bruder seiner Mutter, dem er weder befehlen noch imponieren konnte, ein böser Geist, Anstifter der Einkreisung Deutschlands: „Er ist ein Satan! Man glaubt gar nicht, was für ein Satan er ist.“ Dieser Ausspruch des Kaisers fiel 1907 in Berlin bei einem Essen vor dreihundert Gästen.
In gesellschaftlichen Kreisen gefiel er durch sein ungezwungenes und einnehmendes Wesen. Aufsehen erregte sein Empfang einer indianischen Delegation aus dem Westen Kanadas im Jahr 1906. Innenpolitisch macht er die strikte Zurückhaltung des Monarchen gegenüber Regierungshandlungen zum Bestandteil des Verfassungslebens. Gleichzeitig nimmt er die unter Königin Viktoria in Verfall geratene Tradition glanzvoller Selbstdarstellung der Monarchie wieder auf. Er betätigte sich seit langem als Patron der Künste und Wissenschaften und war bei der Gründung des Royal College of Music beteiligt. Der exzessive Kettenraucher, der mit zunehmendem Alter an Bronchitis litt, brach im März 1910 während eines Aufenthalts in Biarritz zusammen, erlitt mehrere Herzinfarkte und verstarb schließlich, in Anwesenheit von Alice Keppel, am 6. Mai. Robert Scott benannte eine antarktische Halbinsel nach ihm, auch zwei Stadtparks im australischen Perth und in Lissabon tragen seinen Namen.
Alice war 78, als sie 1947 in Florenz starb. Ihre Urenkelin Camilla hat sie nicht mehr kennen gelernt. Vermutlich hätte sie sich über deren Liaison mit Charles amüsiert. Ob sie allerdings die Ehe mit dem Prinzen gutgeheißen hätte, ist fraglich. Als Edward VIII. 1936 wegen der geschiedenen Wallis Simpson auf den Thron verzichtete, schüttelte sie sich und sagte: „Zu meiner Zeit wurden diese Dinge besser geregelt.“ Sie wusste eben noch, wo sie als Geliebte hingehörte, meint Stefanie Rosenkranz im Stern: „ins Bett und nicht auf den Thron.“