„Leben und Feingefühl“
20. Mai 2020 von Thomas Hartung
Was am 21. Mai 1990 in einer New Yorker Kathedrale als Trauergottesdient gemittelt war, entpuppte sich als großes Happening: keiner der mehreren hundert Trauergäste trug Schwarz, der Organist improvisierte fröhliche Melodien, ein als riesiger gelber Vogel verkleideter Mann sang vor dem Altar und die Anwesenden schwenkten Schaumstoff-Schmetterlinge. Am Ende traten sechs Muppet-Puppenspieler auf die Bühne und sangen mit den Stimmen ihrer Figuren ein Medley mit den Lieblingsliedern des Verstorbenen, ehe zum Abschluss alle Puppenspieler dazukamen und singend mit ihren Muppets auf der Bühne standen.
Dann trat der Sohn des Toten nach vorne und verlas die letzten Worte seines Vaters an die Hinterbliebenen: „Das alles kommt euch vermutlich total albern vor. Aber was zur Hölle soll’s, ich bin schließlich tot. Wer will sich da noch mit mir streiten?“ Und: „Seid nicht traurig, weil ich gestorben bin.“ Der Name des Toten: Jim Henson. Der fünf Tage zuvor verstorbene Erfinder der Muppets hatte genaue Regieanweisungen hinterlassen, die seine Beerdigung in ein kunterbunt-absurdes Singspiel verwandelten. Eine Beerdigung wie eine Fernsehshow – es hätte kein stimmigeres Ende für Hensons Leben geben können.
Dabei steht er nicht nur für Kermit, Miss Piggy und Fossi Bär, sondern auch für die Fraggles und war maßgeblich an den Filmen „Der dunkle Kristall“, „Die Reise ins Labyrinth“ und „Der kleine Horrorladen“ beteiligt. Aber auch Yoda, Jabba the Hutt, die Ewoks und viele andere Figuren und Puppen aus der Star Wars-Saga entstanden in Zusammenarbeit von Hensons Firma mit George Lucas. „Zwanghaft kreativ und rastlos“ nannte ihn die New Yorker Museumskuratorin Babara Miller im DLF. Noch nach seinem Tod wurden mit „Die Dinos“ und „Der Bär im großen blauen Haus“ zwei weitere Serien verwirklicht, die auf seinen Ideen basierten.
Marionette + Puppet = Muppet
Geboren am 24. September 1936 in Greenville, Mississippi, machte ihn seine Großmutter, die Malerin und Schneiderin war, mit der Arbeit mit Textilien und Nadeln vertraut und unterstützte Hensons künstlerische Ambitionen. Nach dem einschneidendsten Erlebnis seiner Jugend befragt, antwortete er: „Der Tag, an dem ein Fernseher in mein Elternhaus kam“. Er gehörte zur ersten Fernsehkinder-Generation Amerikas und war von Puppenspielern wie Burr Tillstrom begeistert, dessen Figuren Kukla, Fran und Ollie ab 1947 im US-Fernsehen zu sehen waren. Eigentlich für Kinder gedacht, wurde die Sendung wegen ihres Slapstick-Humors jedoch bald vor allem von Erwachsenen gesehen. Dieses Erlebnis entzündete Hensons lebenslange Liebe für das Puppenspiel.
Bereits während seiner Highschool-Zeit begann Jim 1954 für den lokalen Fernsehsender WTOP-TV Puppen für eine Kindersendung zu kreieren. Dabei ging es ihm nicht darum, bestehende Puppenformate für das Fernsehen anzupassen, sondern Formate zu entwickeln, die ausschließlich für das Fernsehen gedacht waren und nur darin funktionierten. So nutzte er Bildausschnitt und Blickwinkel aus, um die Puppenspieler vor dem Zuschauer zu verbergen, und verwendete viele nahe und große Einstellungen. Während seines Studiums der Fächer Kunst und Bühnenbild an der University of Maryland trat Henson 1955 in verschiedenen lokalen Fernsehsendungen auf. Schon nach seinem ersten Studienjahr bot ihm eine lokale NBC-Tochter eine fünfminütige Sendung im späten Abendprogramm an. Dafür erfand Henson zusammen mit seiner Kommilitonin Jane Nebel, die er vier Jahre später heiratet, die Sendung „Sam and Friends“. Die Puppen hatten bereits Ähnlichkeit mit den späteren Figuren, eine ähnelte Kermit dem Frosch.
Er wollte den Figuren „Leben und Feingefühl“ geben, um die Ausdrucksmöglichkeiten des Puppentheaters zu erweitern. Deswegen baute er seine Handpuppen schon bald nicht mehr aus Holz, sondern aus Schaumstoff – so ließen sie sich viel nuancierter steuern. Er lernte sogar, die Lippen seiner Puppen so zum Text zu bewegen, wie es Menschen beim Sprechen tun. Nachdem er während einer Europareise die Techniken klassischer Marionettenspieler studiert hatte, beschloss er, die Eigenschaften von Handpuppen und Marionetten zu verbinden – zu Handpuppen, deren Arme mit Stäben bewegt wurden. Er taufte seine Erfindung „Muppets“, zusammengesetzt aus „marionettes“ und „puppets“. Die Idee sollte bahnbrechend werden.
„Sam and Friends“ lief insgesamt acht Jahre und brachte Henson einen lokalen Emmy ein. Seit 1957 drehte Henson auch Werbung mit seinen Figuren, die in ihrem Humor bereits der späteren Muppet-Show nahe kamen, so für die Kaffeefirma Wilkins: Eine Handpuppe sitzt hinter einer Kanone und fragt eine zweite: „Was hältst du eigentlich von Wilkins-Kaffee?“ „Nie probiert“, grummelt die und wird prompt aus dem Bild geschossen. Die Puppe dreht ihre Kanone zum Zuschauer. „Und? Was halten Sie von Wilkins?“ Dieser Spot brachte Hensons Vision auf den Punkt: Er wollte Puppenspiel für Erwachsene machen und zugleich ausloteten, welche Dinge man mit den unschuldig wirkenden Handpuppen anstellen konnte, die man echten Menschen nie durchgehen lassen würde. So wurde der Kaffeeverächter in weiteren Spots mit Baseballschlägern verprügelt, von Wagen überrollt, mit einem Kopfschuss niedergestreckt oder in die Luft gejagt. Die Kampagne war so erfolgreich, dass Henson über 300 weitere Werbeaufträge für Kaffee erhielt.
„Trommelfeuer der Absurditäten“
1961 gründete Henson zusammen mit seiner Frau „Muppets Inc.“ und begann seine lebenslange Zusammenarbeit mit dem Puppenspieler Frank Oz, mit dem er Figuren wie Ernie und Bert, Miss Piggy, Kermit oder Fossi Bär kreierte. Inzwischen absolvierte er zahlreiche Gastauftritte in Unterhaltungs- und Talkshows, die seine Figuren immer bekannter machten, darunter wöchentlich in der Today Show und der Jimmy Dean Show, später auch der Ed Sullivan Show. Nachdem er 1963 mit seiner Frau nach New York umgezogen war, begann er sich bis 1968 mit dem Filmemachen auseinanderzusetzen. Er produzierte eine Reihe von Experimentalfilmen wie „Time Piece“, der sogar für einen Oscar nominiert war. Daneben drehte er Sondersendungen mit Märchenmotiven für das Fernsehen wie dem Froschkönig, Cinderella oder den Bremer Stadtmusikanten.
Als 1968 eine Studie ergeben hatte, dass fast alle US-Kindersendungen erzieherisch wertlos seien, begann er mit dem Team des Children’s Television Workshop mit der Arbeit an der Sesamstraße, einer damals visionären Fernsehsendung für Kinder. Teil dieser Sendung waren einige lustige, farbenfrohe Puppen, die in der „Straße“ leben, darunter Oscar, Ernie und Bert, das Krümelmonster und natürlich Kermit der Frosch. Ihr Stil – langsam, vorsichtig und von zahlreichen Wiederholungen geprägt – sorgte für zahlreiche Parodien, hat sich aber bei vielen Kinderprogrammen im Fernsehen durchgesetzt. 1974 wurde Henson ein Emmy für die Sesamstraße verliehen. Heute gibt es sie immer noch, und sie ist politischer geworden. So gibt es seit 2011 die pinke Kleinmädchenpuppe Lily, deren Familie ihr Zuhause verloren hat und deshalb bei Freunden unterkommen muss – damit soll auf das Problem der Obdachlosigkeit hingewiesen werden. Ende 2019 wurde bekannt, dass mit Unterstützung die internationalen Hilfsorganisationen für Flüchtlinge und Kriegsopfer (IRC) vor allem für syrische Flüchtlingskinder eine „Sesamstraße“ auf Arabisch entstehen und ab Februar 2020 im Mittleren Osten ausgestrahlt werden soll.
Die Serie war für ihn gleichzeitig Segen und Fluch: Hensons Puppen waren nun weltberühmt, er aber seinem Ziel, Puppenspiel für Erwachsene zu machen, so fern wie nie zuvor. Er entschied, eine eigene Comedy-Sendung zu drehen, und produzierte 1975 eine Pilotfolge. Schon die ersten Sekunden ihres Vorspanns machten deutlich, befand Danny Kringiel im Spiegel, „dass der Puppen-Anarcho sich damit seinen Weg aus der Pädagogennische freiboxen wollte“. „The Muppet Show“ war ein Trommelfeuer der Absurditäten: Wo sonst gab es im Fernsehen einen dänischen Koch, der fröhlich ein Salatsandwich mit Stapeln aus Wurst, Käse, Topflappen, Tellern und anderen Salat-Sandwiches belegt, während er, mit asiatischen Schriftzeichen untertitelt, Dinge in Phantasie-Dänisch vor sich hinplappert? Oder eine Figur wie Laborassistent Beaker, der bei den Experimenten seines Chefs Dr. Honigtau Bunsenbrenner sein Leben riskiert, wenn er mit angespitzten Bananen beschossen, von Menschen fressenden Müllschluckern verfolgt oder von einem Stahlhasen angegriffen wird, während er magnetische Karotten in der Hand hält?
Einige der Charaktere hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit bekannten Persönlichkeiten aus dem US-Fernsehen, die Jim Henson aber in einigen Fällen abstritt. US-amerikanische Sender zeigten kein Interesse, doch der britische Produzent Lew Grade glaubte an das Konzept, so dass die Muppet Show in Großbritannien gedreht wurde. Kermit der Frosch, Jim Hensons alter Ego, führte in ihr als Gastgeber durch ein buntes, ja chaotisches Varieté-Programm mit Miss Piggy, Gonzo oder Statler und Waldorf. Die Show wurde ein riesiger Erfolg: Rund 235 Millionen Zuschauer verfolgten in den besten Zeiten jede Woche die Sendung – in mehr als hundert Ländern der Welt.
In Deutschland wurde die Synchronfassung zwischen 1978 und 1981 vom ZDF ausgestrahlt. Die Serie gewann vier Emmys. „Muppets“-Kinofilme wurden gedreht, Kinder wollten Kermit-Bettwäsche und Miss-Piggy-Puppen. Stars wie Harry Belafonte, Liza Minelli und Roger Moore waren zu Gast in der Show. Das Buch „Miss Piggy’s Guide to Life“ war 29 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times. „Henson hatte es tatsächlich geschafft, mit einem vollkommen exzentrischen Showkonzept den Fernseh-Mainstream für Handpuppen einzunehmen“, bilanziert Kringiel.
Kopf einer Truppe hoch motivierter Fantasten
Nach fünf Staffeln stellte Henson die Serie 1981 ein, da er sie für auserzählt hielt. Doch auch danach hatten die Figuren noch Auftritte in verschiedenen Filmen. Von all seinen Figuren war ihm der Frosch wohl am nächsten: Kermits nachgiebige Führung der Chaotentruppe wurde oft mit eben jener Art verglichen, mit der Henson die Geschicke seiner Firma „Muppets Inc.“ lenkte. So berichtete etwa im Dezember 1978 das Time-Magazin, der große, aber sanftmütige Visionär, der stets mit leiser Stimme sprach und aus dessen Althippie-Bart ständig ein strahlendes Lächeln hervorblitzte, habe seine Mitarbeiter in etwa so fest im Griff wie man „eine Explosion in einer Matratzenfabrik im Griff haben kann“. Dabei war Henson privat alles andere als ein Anarchist oder Exzentriker: Carroll Spinney, Darsteller der „Sesamstraßen“-Puppe Bibo, sagte 1990 im Interview mit dem Magazin People, Henson habe es nicht einmal über sich gebracht, Mitarbeitern zu sagen, wenn er eine Idee schlecht fand. Seine höchste Ablehnungsbekundung sei ein zögerndes „Hmmm“ gewesen.
Bereits 1979 rief er den „Jim Henson’s Creature Shop“ ins Leben, der vor allem für die Erschaffung von Figuren in Fremd-Produktionen wie etwa für das Star Wars Universum gedacht war. Henson persönlich war beteiligt an den Kostümen und Effekten für das britische Filmdrama „Dreamchild“ von 1985 und „Hexen hexen“ von 1990. Bis zur Übernahme durch Walt Disney erfanden seine Mitarbeiter immer neue, unglaubliche Geschöpfe: die Turtles oder Figuren für die auf dem Babelsberger Studiogelände entstandene „Unendliche Geschichte III“.
In der erstmals 1987 von NBC ausgestrahlten Fernsehserie „Jim Henson’s The Storyteller“ stellte er in neun Episoden internationale Märchen in einer Mischung aus Animations- und Realfilm dar. Diese Serie geht auf eine Idee von Hensons Tochter Lisa zurück, die an der Harvard Universität einen Kurs Volkskunde besuchte, wurde von Publikum und Kritik gleichermaßen bejubelt und mit vielen Auszeichnungen geehrt. Daraus entwickelte Henson eine Nachfolgeserie als zweite Staffel mit vier Episoden zur Griechischen Mythologie. Um 1989/1990 befand sich Henson in Verhandlungen mit Walt Disney, der seine Unternehmen und Rechte für 150 Millionen US-Dollar aufkaufen wollte. Bevor diese Verhandlungen zu einem Ergebnis kamen, starb Henson jedoch überraschend mit gerade 53 Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung.
Unternehmen und Rechte gingen dann dennoch an die Disney Company, die ihn 2011 postum als Disney-Legende ehrte. 2017 fand er gar postum Aufnahme in der Science Fiction Hall of Fame. Während Kermit der Frosch schon länger im National Museum of American History ausgestellt ist, kamen 20 weitere von Hensons Puppen im Jahr 2013 hinzu. Seit Juli 2017 gibt es im American Museum of the Moving Image eine neue Dauerausstellung über Hensons Lebensleistung. Die USA legten 2005 ihm zu Ehren eine elfteilige Briefmarkenserie auf. Georg Seeßlen nannte ihn treffend den Kopf einer Truppe hoch motivierter Fantasten, die angetreten war gegen die „Vertreibung des Menschen aus seinen eigenen Fantasien“.