„Träume für bare Münze nehmen“
9. Mai 2020 von Thomas Hartung
Von der Philosophie über die Mathematik und die Psychologie bis hin zum Bergsport: so kann man die Karriere allein einer seiner vielen Flunkergeschichten zusammenfassen: die des wundersamen am Schopf aus dem Sumpf Ziehens, samt Pferd. In ersterer wurde daraus in Anlehnung an Nietzsches „Münchhausenscher Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn“, das Münchhausen-Trilemma des wissenschaftlichen Beweises eines „Urgrunds“. Von einer Münchhausenzahl spricht man, wenn die Summe ihrer einzelnen mit sich selbst potenzierten Ziffern wieder diese Zahl ergeben, sich also im übertragenen Sinne jede Ziffer selbst „hochzieht“, etwa 3435: 33 + 44 +33 + 55 = 27 + 256 + 27 + 3125.
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist das Erfinden, Übersteigern oder tatsächliche Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten, mehrheitlich Kindern, meist um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden zu übernehmen. Und als Münchhausen-Methode bezeichnet man im Bergsport eine Rettungstechnik, sich selbst mittels diverser Seiltechniken aus einer Gletscherspalte zu befreien, das engl. Bootstrapping ist eng damit verwandt. Immer jedoch geht es darum, sich ohne die im Grunde erforderliche Hilfe von außen durch eigene Kraft aus einer Notlage zu befreien.
Wie bei einem Großteil der Geschichten liegt der eigentliche Witz auch hier darin, dass physikalische oder biologische Bedingtheiten wie selbstverständlich ad absurdum geführt werden: der achtbeinige Hase, der sich einfach umdreht, wenn der eine Satz seiner Läufe müde geworden ist; der kranke Überrock, der durch den Biss eines tollwütigen Hundes infiziert wurde; und natürlich der Ritt auf der Kanonenkugel. Der Urheber all dieser prahlerischen Lügengeschichten, die als Münchhaus(en)iade mit einer eigenen literarischen Gattungsbezeichnung belegt sind, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, feierte am 11. Mai seinen 300. Geburtstag.
Vom russischen Soldaten zum Landadligen
Der Spross eines 1183 erstmals erwähnten niedersächsischen Adelsgeschlechts wächst mit sechs, nach anderen Quellen sieben Geschwistern im Herrenhaus eines Gutshofs in Bodenwerder bei Holzminden auf. Sein Vater, ein Kavallerie-Oberstleutnant, starb, als er vier Jahre alt war, die Mutter erzieht die Kinderschar. Im Alter von 12 Jahren wurde Hieronymus Page im Schloss Bevern, mit 15 Jahren am Braunschweiger Hof in Wolfenbüttel. 1737 wurde er Page von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem künftigen Gemahl der designierten russischen Zarin Anna Leopoldowna. Der Herzog lebte bereits in Sankt Petersburg und sollte sich in der russischen Aristokratie bewähren, was natürlich den Militärdienst einschließt.
Nach dreimonatiger Reise kommt Münchhausen im Februar 1738 in Russland an und folgte offenbar noch im selben Monat seinem Herrn in den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg, der ihm als Folie für die ersten der ihm zugeschriebenen Lügengeschichten diente. Der „Ritt auf der Kanonenkugel“ könnte die Belagerung der osmanischen Krim-Festung Otschakow durch den russischen Oberbefehlshaber zum Hintergrund haben – auch wenn heute die Festung Bender in Transnistrien für sich in Anspruch nimmt, Ausgangs- und Rückkehrort des Kanonenkugelritts gewesen zu sein. Nach Kriegsende 1739 wurde Münchhausen zum Fähnrich, ein Jahr später zum Leutnant der von Anton Ulrich befehligten russischen „Braunschweig-Kürassiere“ ernannt, die in Riga in Garnison lagen und wohl auch am Russisch-Schwedischen Krieg teilnahmen.
Doch seine Karriere geriet ins Stocken, als sich Elisabeth, Tochter Peters des Großen, 1741 auf den Zarenthron putschte und Anton Ulrichs Familie für lange Jahre in Gefangenschaft nahm. Zwar überstand Münchhausen den Umsturz heil, weil er zu dieser Zeit in Finnland kämpfte, aber seine weitere Beförderung zum Rittmeister ließ ein ganzes Jahrzehnt auf sich warten. Die Garnisonsstadt Riga wurde in diesen Jahren sein hauptsächlicher Aufenthaltsort, die baltischen Jahre ein Quell seiner Erzählungen.
Denn der befreundete Landadlige Georg Gustav von Dunten lud ihn wiederholt auf sein Landgut nahe dem einst livländischen, jetzt lettischen Ort Ruthern (Dunte) ein, wo beide der Entenjagd nachgingen und er sich in Duntens junge Tochter Jacobine verliebte. Beide heirateten 1744 in der Kirche zu Pernigel (heute: Liepupe) unweit von Dunte. Die Einheimischen behaupten heute noch, dass es eben die Kirche zu Pernigel war, an deren Turmspitze das Pferd Münchhausens im Winter angebunden gewesen sein soll. In einer Rutherner Schenke soll er sich erstmals als Geschichtenerzähler betätigt haben. Sowohl die Schenke als auch das Landgut sind heute Museum – wie ihn Lettland überhaupt bis heute hoch schätzt.
1750 nahm Münchhausen seinen Abschied, kehrte mit seiner Frau nach Bodenwerder zurück und lebte 47 Jahre das Leben eines Landedelmanns, der sein Gut bestellt, geselligen Verkehr mit seinen Gutsnachbarn pflegt und dessen liebster Zeitvertrieb die Jagd ist. 1763 ließ er die berühmte „Münchhausen-Grotte“ in seinen Berggarten bauen, in der er im Kreise seiner Freunde und Jagdgäste seine abenteuerlichen Erzählungen zum Besten gab. Sein Erzähltalent begann auch über seinen Freundeskreis hinaus allmählich berühmt zu werden. Gäste kamen nach Bodenwerder, auch von weit her, um die fabelhaften und humorvollen Geschichten zu hören.
Verwitwet und verbittert
Die ersten drei dieser Erzählungen publizierte schon 1761 Graf Rochus Friedrich zu Lynar, ein gemeinsamer Bekannter aus Petersburg, unter dem Titel „Der Sonderling“ zur moralischen Erziehung seiner Bediensteten. Zwanzig Jahre später erschienen in einem anonym veröffentlichten „Vademecum für lustige Leute“ sechzehn Anekdoten, die einem Herrn „M-h-s-n“ in den Mund gelegt wurden. Der für seine öffentlichkeitsscheue Zurückgezogenheit bekannte Münchhausen selbst war von der Veröffentlichung keineswegs begeistert, denn dieses Büchlein, erst recht die nachfolgenden, machte ihn zwar berühmt, ruinierte aber seinen Ruf: nun galt er als der „Lügenbaron“ und war – in seinen Augen – der Lächerlichkeit preisgegeben.
Erster Nachfolger war „Baron Munchhausens Narrative of His Marvellous Travels und Campaigns in Russia” des verschuldeten Universalgelehrten und Kustos Rudolf Erich Raspe, gelegentlicher Gast in Bodenwerder. Er war nach einem entdeckten Diebstahl nach England geflohen und veröffentlichte, um an Geld zu kommen, 1785 in London eine Reihe von Anekdoten und Reiseabenteuern unter Münchhausens Namen. Raspes Buch wurde ein ungeheurer Erfolg und zog vier stets erweiterte Neuauflagen nach sich, darunter mit Seeabenteuern, Geschichten von Lukian, dem antiken Erfinder der Lügengeschichte, und englischen Kriegsberichten.
Zweiter Nachfolger war „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt“, die im September 1786 Gottfried August Bürger in Göttingen veröffentlichte. Sie gelten heute als bekannteste Fassung der Abenteuer des Lügenbarons und stellen teilweise eine Übersetzung von Raspes Vorlage, teilweise Bürgers eigene Schöpfung dar. Seither wurden auch Vorwürfe der Blasphemie laut, die mit der Lüge offensichtlich zusammengehört – nach der Offenbarung des Johannes sind ja Prahlen, Lästern, Lügen und Gott verleugnen dasselbe: Sünde und Teufelswerk. 1788 veröffentlicht Bürger einen zweiten Band.
Hart traf Münchhausen 1790 der Tod seiner Ehefrau, mit der er eine glückliche, aber kinderlose Ehe hatte. Er warb dann um sein Patenkind Bernhardine, die erst 17-jährige Tochter des Majors von Brunn aus Polle. Die Ehe scheiterte schon nach kurzer Zeit wegen erwiesener Untreue seiner jungen Frau. Ein von Münchhausen angestrengter Scheidungsprozess wurde von Advokaten in die Länge gezogen – nicht zuletzt mit einem Münchhausenbuch, das auf dem Richtertisch landete und ihn als unglaubwürdigen Lügenbaron erscheinen lassen sollte. Der Freiherr verlor im Prozess fast sein ganzes Vermögen und musste 1794 das Gut Bodenwerder formell an seinen Neffen Wilhelm abtreten, blieb jedoch dort wohnen. Sein Ruf, sein Ruin und seine Scheidung ließen ihn zunehmend verbittern.
„Verbeugung vor der Fantasie“
Der Scheidungsprozess war noch nicht beendet, als Münchhausen am 22. Februar 1797 verstarb und in der nahen Klosterkirche Kemnade beigesetzt wurde. Seine Heimatstadt trägt seit 2013 offiziell den Titel Münchhausenstadt, das Herrenhaus dient heute als Rathaus. Beim jährlichen Münchhausen-Musical können Besucher die fantasievollen Geschichten des Barons als Freilichtspiel verfolgen. Die große Bedeutung des Adligen für Bodenwerder zeigt sich auch in der jährlichen Verleihung des Münchhausen-Preises, mit dem die Stadt seit 1997 Menschen mit „besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ ehrt. Zu den Preisträgern gehörten etwa Ephraim Kishon, Rudi Carell und Dieter Nuhr. Einige deutsche und lettische Münzen und Briefmarken sind ihm gewidmet, ein Asteroid ist nach ihm benannt.
Insgesamt sind allein für die deutschen Ausgaben über 100 Lügengeschichten überliefert und von verschiedenen Autoren –zigfach adaptiert worden, so 1839 von Karl Leberecht Immermann, 1906 von Paul Scheerbart und 1934, als Schauspiel, von Walter Hasenclever. Seit Georges Méliès Stummfilm 1911 wurden Münchhausen-Geschichten auch mehrfach sowohl als Real- wie auch Zeichentrickfilm verfilmt. Zu den bekanntesten gehört der UFA-Film „Münchhausen“ von 1943 mit Hans Albers in der Titelrolle, für den Erich Kästner unter Pseudonym das Drehbuch schrieb und der mit rund 6,5 Millionen Reichsmark Produktionskosten nach „Kolberg“ die zweitteuerste Filmproduktion der NS-Zeit war. In einem französischen Trickfilm 1979 lieh Harald Juhnke Münchhausen seine Stimme. 1988 drehte Ex-Monty-Python Terry Gilliam eine aufwändige Produktion unter anderem mit Oliver Reed, Robin Williams und Sting.
Die letzte große Verfilmung lieferte unter dem Titel „Baron Münchhausen“ die ARD zu den Weihnachtsfeiertagen 2012: einen zweiteiligen 180-minütigen Streifen mit Jan Josef Liefers in der Titelrolle. Münchhausen wird gezeigt als mittelloser Baron, wortgewandter Tausendsassa und weltreisender Charmeur mit einem Händchen für glaubhafte Ausreden und spektakuläre Heldentaten – und das weibliche Geschlecht – der sich dank seines Talents ein ums andere Mal aus brenzligen Situationen rettet. „Unser Münchhausen ist eine Verbeugung vor der unbändigen Fantasie, vor dem Kind in uns allen“, sagte Liefers über die Rolle. „Und er ist ein Dankeschön an alle Spinner und weltfremden Außenseiter, die vielleicht nicht mit der Realität klar kommen, aber trotzdem nicht an ihr scheitern, weil sie Träume für bare Münze nehmen und uns an das erinnern, was wir irgendwann in unserem Leben auch mal gerne sein wollten.“