Kaiser von Kalifornien
17. Juli 2020 von Thomas Hartung
Manchen Menschen spielt das Schicksal unterschiedlich mit – einerlei, ob mit oder ohne eigenes Zutun. Mal wirft es sie hin und her, lässt sie in einer regelrechten Achterbahnfahrt in schwindelnde Höhen aufsteigen und mit atemberaubender Geschwindigkeit wieder abstürzen. Einen der merkwürdigsten solcher Lebensläufe hatte Johann August Sutter, der als Gründer von „Nueva Helvetia“ den amerikanischen Pioniergeist wie kaum ein anderer lebte. Das von ihm urbar gemachte Land bildete die Grundlage für den landwirtschaftlichen Aufstieg Kaliforniens und gleicht heute noch einem paradiesischen Garten. Doch was er erarbeitet hatte, verlor er im Zuge des kalifornischen Goldrauschs fast vollständig und erlitt verarmt und verbittert am 18. Juli 1880 einen Herzinfarkt – auf der Treppe des Kongreßhauses in Washington, wo er immer noch hoffte, seine Ansprüche durchzusetzen: Als Mann, den sein Reichtum arm machte.
Geboren am 23. Februar 1803 in Kandern bei Lörrach als Sohn eines Papierfabrikanten, absolvierte er eine kaufmännische Lehre in Basel und kam 1824 nach Burgdorf im Kanton Bern, wo er seine künftige Frau Annette kennen lernte. Bei der Überreichung des Verlobungsgeschenks, einem Seidentuchs, kam ihm seine erste Geschäftsidee: Seidentüchlein bedrucken. Am 24. Oktober 1826 heiratete er Annette, am Tag darauf wird ihr erster Sohn geboren. Vier weitere Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, folgten in kurzem Abstand. 1828 eröffnete er mit Mitteln der Schwiegermutter seine „Tuch- und Kurzwarenhandlung“, Anfang der 1830er Jahre wurde Sutter auch Unterlieutenant der Infanterie in der Berner Reserve.
Er wird als jovial, aber auch schlitzohrig beschrieben, der als Angeber und Tagträumer an der Seite seiner manchmal als griesgrämig charakterisierten Ehefrau ein biederes Familienleben geführt hat und die Abende oft im „Kaltwasserleist“ verbrachte – einem Lese-und Diskussionszirkel, in dem nach 20 Uhr kein Alkohol mehr konsumiert werden durfte und der ihm die große weite Welt näher bringt. Mangelnde kaufmännische Begabung, Betrug durch Geschäftspartner und die Tatsache, dass er über seine Verhältnisse lebte, führten im Frühjahr 1834 zum Konkurs. Steckbrieflich gesucht, floh er im Mai 1834 über Le Havre in die USA und ließ seine Familie sowie Schulden von über 50.000 Franken zurück. „Mit Einverständnis seiner tapferen Frau verliess er Burgdorf bei Nacht und Nebel“, weiß Roland Hübner, einer seiner Biographen; für andere ließ er sie im Stich.
Aufbruch nach Kalifornien
Im Juli 1834 angekommen, führte der umtriebige Sutter erst das unstete Leben eines mittellosen Einwanderers, machte geschäftlich erfolgreiche und kontaktbringende Abstecher über Hawaii und das russische Nowo-Archangelsk (heute Sitka) und etablierte sich als Pelzhändler in Kansas City. Doch es zog ihn in den „goldenen Westen“, das noch weitgehend unerschlossene Land „Kalifornien“. Er holte beim Gouverneur die Erlaubnis ein, für zehn Jahre im Sacramento-Tal zu siedeln, auf einem Gebiet von der Größe des Kantons Baselland. Zugleich schreitet sein Angebertum voran: Er kleidet sich in Phantasie-Uniformen, ist etwa „Captain John A. Sutter“, erlogener Hauptmann a.D. einer königlich-französischen Schweizergarde.
1838 macht er ernst, verkauft, was er hat, begleicht seine Schulden in der Schweiz und rüstet mit dem Rest seines Vermögens einen Schiffstreck aus, der, nach der Landung, in der weiten kalifornischen Ebene zunächst von den Mokelumne-Indianern bedroht wird, die wegen ihrer Giftpfeile gefürchtet sind. Sutter verbietet zu schießen und geht allein den Indianern entgegen, verhandelt mit ihrem Häuptling und sichert einen „vorläufigen Frieden“, so dass die Expedition ungeschoren kalifornischen Boden betreten kann. 1839 hat sich Sutters Karawane auf über 400 Büffelwagen mit Zelten, Werkzeugen, Kleidern, Lebensmitteln, Waffen und Munition sowie Geschenken für die Wilden vergrößert. Hinzu kommen Hunderte von Pferden, Kühen, Büffeln und als Deckung ein langer Zug von Allround-Gesellen, die es ins kalifornische Abenteuer lockte.
Ohne Verzug ging es seit Juni 1839 ans Bauen: Sutter erweist sich als Planer ersten Ranges, tatkräftig unterstützt von einigen vortrefflichen Handwerkern und Bauern aus aller Welt, die er wie ein Magnet angezogen und um sich versammelt hatte. Er berechnet und vermisst sogleich die erste Siedlung, die er „Fort Sutter“ nennt, die Ortschaft ringsherum soll „Suttersville“ heißen. Lehm ist genügend vorhanden, so dass man außer Holz auch solide von der Sonne getrocknete Ziegel verwenden kann: Wirtschaftsgebäude, Stallungen, Kornkammern, Schulen, Kasernen, Werkstätten, Schmieden, Tischlereien, eine Gerberei und vieles andere mehr entstehen.
Die Tiere bevölkern Weideflächen, die für die 30-fache Viehmenge reichen würden. Wild gibt es ebenfalls reichlich. Auch monetär bewährt sich das Geschick Sutters: Den anfänglichen Bargeldmangel behebt er durch Prägung von „Suttergeld“, einfache Blechtaler, die er in seinen Schmieden anfertigen lässt, und wofür man in den Läden von Sutterland alles kaufen kann. Der Handel entfaltet sich in unglaublichem Tempo, Wege, Kanäle, neue Umschlagplätze werden geschaffen, denn Sutter versorgt jetzt auch Hafenstädte von Sitka bis Lima mit seinen Waren.
Er gründet den „San Francisco Reporter“ und ruft die „San Francisco Bankers Union“ ins Leben, bestellt Obst- und Weinreben aus Europa, die er neben ausgedehnten Orangen-, Zitronen-, Weizen-, Korn-, Spargel- und Tabakplantagen auf den Hügeln von Sacramento anzupflanzen beginnt. Sein „Reich“ wächst und wächst, die ersten ausgesetzten Sorten tragen bis zu fünfmal mehr als in Europa. Er hat Mühe, genügend Viehhalter für die inzwischen auf mehrere zehntausend Stück angewachsenen Rinder- und Pferdeherden zu finden. Zugleich vertrieb er die ortsansässigen Indianer und gründete die Stadt Sacramento als Verwaltungssitz.
Der Traum von einem „eigenen Reich“, von einer kleinen Schweiz im kalifornischen Paradies, scheint Wirklichkeit zu werden: „Neu-Helvetien-Sutterland“ ist in voller Blüte, ein gut ausgebildetes Militärkorps sichert den Frieden. Man nannte ihn „Captain“, und er durfte sich als der „Kaiser von Kalifornien“ fühlen: „Ich war alles: Patriarch, Priester, Vater, Richter. Im Fort herrschte militärische Zucht“, erinnert er sich später. Nicht emigrierende Indianer rekrutiert er für seine Mannschaft und schafft ihre „Vielweiberei“ ab: „Ich stellte Männer und Mädchen in je einer Reihe einander gegenüber. Dann befahl ich den Mädchen, eines nach den andern vorzutreten und aus der Reihe der Männer einen Gatten auszuwählen. Den Häuptlingen erlaubte ich ebenfalls nur eine oder höchstens zwei Frauen.“
„Gold ist das einzige Gesetz“
1841 erhält Sutter vom mexikanischen Gouverneur Don Juan Alvarado „das Land am Sacramento“ mit über 12 Leguas, etwa 6.000 Quadratkilometer, als „erbliches Eigentum legal verschrieben“, mit dem „souveränen Recht, selbst Besitzrechte zu verleihen, das oberste Richteramt auszuüben, Pässe auszustellen und oberster Kriegsherr zu sein.“ Das Land rings um den Zusammenfluss von Sacramento und American River wurde „Nueva Helvetia“ benannt und umfasste die gesamte fruchtbare Landschaft zwischen dem Küstengebirge und der Sierra Nevada. Einige Jahre später ziehen die Russen ab, die hier Pelzhandel betrieben, und verkaufen ihm vorher Bodega und Fort Ross mit allen ihren reichen Besitzungen und Ländereien. Sutter verfügt damit über den größten Privatbesitz im Süden Nordamerikas.
Er baut die „Hockfarm“, einen vornehmen Landsitz, der für seine ihm nun nachziehende Familie aus der Schweiz und später als Alterssitz gedacht ist. Doch im Vertrag von Guadalupe Hidalgo, der den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg beendete, fiel das Gebiet des heutigen Bundesstaats Kalifornien (damals Oberkalifornien) und damit auch Neu-Helvetien 1848 an die USA. Sutter wird Amerikaner und ist ein Mitunterzeichner der Verfassung Kaliforniens, das dann 1850 als 31. Bundesstaat in die Union aufgenommen wird.
Bei Coloma am Südarm des American River lässt Sutter ein Sägewerk durch seinen Zimmermeister James W. Marshall errichten. Der steht am 28. Januar 1848 atemlos vor seinem Chef: Er sei beim Graben des Abflusskanals für die Sägemühle auf golden schimmerndes Gestein gestoßen. Er vermute, das sei Gold. Es war welches. Sutter war sich der Brisanz dieser Entdeckung bewusst und versuchte, sie geheim zu halten – vergeblich. Der berühmte Kalifornische Goldrausch begann und löste eine unvergleichliche Zunahme der Bevölkerung aus, denn Hunderttausende strömten nach dem „neuen El Dorado“. Zwischen 1848 und 1849 wuchs allein San Francisco von 1.000 auf 25.000 Einwohner.
Die ohnehin fragile staatliche Ordnung im fernen Westen brach unter dem Ansturm zusammen, die Glücksritter ruinierten Sutters Imperium. Goldgräbersyndikate schießen aus dem Boden und betreiben ihre unsauberen Geschäfte, indem sie Parzellen im Goldgräbergebiet, ohne einen Rechtstitel zu besitzen, an die goldsüchtigen Digger verpachten. „Was wissen diese Horden schon von Sutters verbrieften Rechten? Was schert sie sein altmodisches Bauernparadies? Sie schlagen ihre Zelt- und Hüttensiedlungen auf seinen Feldern, in seinen Hainen auf. Rücksichtslos hacken sie die Fruchtbäume um, nehmen die Bretter der Sägewerke, schlachten sein Vieh und nisten sich in den verlassenen Farmen ein. Gold ist das einzige Gesetz, das die Menschen anerkennen“ entsetzt sich sein Biograph Siegfried Hagl.
Sutter liefen die Arbeiter davon; auch die Soldaten, die er anforderte. Bevor sich der verzweifelte Patriarch umsieht, haben sich über 17000 kleine Siedler (sog. „Squatter“) auf seinen Ländereien eingenistet, ganz zu schweigen von den Leuten, die „seine Wassermühlen, Sägewerke, seine Schiffe, Hammerwerke und Bauernhöfe fortgenommen haben. An allen Wasserläufen entstehen wilde Ansammlungen von Goldgräberdörfern: künstliche Bretterkanäle, Waschbecken, Schüttelwerke, Gruben und das dazugehörige Gewucher von ‚Saloons‘, Spielhöllen, Hütten und Tanzlokalen“, beschreibt Otto Zierer die Situation. Doch Sutter strengt eine Monsterklage an und fordert vom Bundesstaat Kalifornien Schadenersatz.
„Tod dem Sutter“
1855 dann die Urteilsverkündung im Operntheater von San Francisco. Kurz zuvor wurde Sutter von General Riley in Würdigung seiner Verdienste um Kalifornien zum General befördert und ihm der goldene Säbel der kalifornischen Miliz verliehen: „Bürger von San Francisco, Kalifornier, stimmt mit mir ein in den Ruf: Es lebe General Sutter!“ Und die Menge brach in ein Freudengeschrei aus, immer wieder tönt es: „General Sutter, General Sutter!“ Doch nach der Urteilsverkündung schrie die gleiche Menge: „Tod dem Sutter“. Denn das Gericht hat die Rechtmäßigkeit aller Ansprüche und Forderungen Sutters sowie die Unversehrbarkeit aller seiner Ländereien bestätigt, was ihn als Eigentümer des Bodens von San Francisco und des goldreichen Gebiets abermals zum reichsten Mann der Erde machte. Doch jeder fühlte sich betroffen und an seiner Goldader angezapft, es kam zum Aufruhr: Die Bevölkerung akzeptierte den Urteilsspruch nicht und brannte den Justizpalast nieder. Seine Söhne wurden gelyncht, Sutter konnte sich mit seiner Frau knapp retten.
Er beginnt, sich ins Elend zu trinken. Zwischendurch versucht er sich als Hotelier. Während die Zuwanderer früher bei ihm im Fort gratis übernachten durften, verlangt er nun 100 Dollar pro Nacht und Person. Als ein Landstreicher, dem Sutter aus Mitleid Unterkunft angeboten hat, ihn bestiehlt, lässt Sutter ihn auspeitschen. Der Landstreicher revanchiert sich, indem er die Hock-Farm anzündet. Mit dem Herrenhaus werden alle persönlichen Gegenstände Sutters zu Asche. Er sieht ein, dass er Kalifornien verlassen muss, zieht mit seiner Frau nach Pennsylvania, wo er auch begraben liegt, und reist oft ins nahe Washington, um sich mit seinen Anwälten zu besprechen, die vor dem amerikanischen Kongress Sutters Recht auf Entschädigung einfordern sollen.
Der Prozess zieht sich in die Länge, vor allem die Juristen verdienen jetzt. De iure hat er Recht, de facto wird er arm trotz seiner Rente als General. Er nahm zwar weiter Anteil an vielen Geschehnissen Kaliforniens und gilt auch als Mitinitiator des Bahnbaus zwischen dem Atlantik und dem Pazifischen Ozean. Doch bald war er nur noch von dem einen Gedanken besessen, sein Recht durchzusetzen. Als Relikt aus der inzwischen vergangenen Pionierzeit, das keiner mehr ernst nahm, schlägt er sich zwei Jahrzehnte um den Justizpalast herum und stirbt kurz vor der endgültigen Kongressentscheidung. Seine Frau folgt ihm nur Monate später ins Grab.
Sutters Persönlichkeit wird unterschiedlich beurteilt. Nicht alle Autoren sehen in ihm das unschuldige Opfer des „Gold Rush“, das zwangsläufig scheitern musste. Sein Verhalten war zwiespältig. Er hörte nicht auf den Rat ehrlicher Freunde, ließ sich von Gaunern betrügen, vergraulte kompetente Mitarbeiter und verstand nicht, seine Geschäfte ehrlich und anständig zu führen. „In entscheidenden Situationen fehlten ihm menschliche Größe, Bescheidenheit und Zuverlässigkeit, was aufgrund seines Lebenslaufes fast zu erwarten war“, befindet Bernard R. Bachmann in der NZZ. So verstand er auch nicht, sich wenigstens als Händler an dem Goldrausch zu beteiligen, wozu er eigentlich beste Voraussetzungen hatte.
„Fort Sutter“ wurde an gleicher Stelle eins zu eins wieder aufgebaut und ist heute Gedenkstätte für den „Gründer Kaliforniens“. Stefan Zweig hat ihm mit der Skizze „Die Entdeckung Eldorados“ in seinem Essayband „Sternstunden der Menschheit“ (1927) ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt. Ein filmisches Denkmal setzte ihm Luis Trenker 1936 mit seinem Film „Der Kaiser von Kalifornien“. „Sutter`s Gold“ nannte ein Züchter namens Swim seine Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA gezüchtete gelb-orange Rose: überreich blühend, stark duftend und, da anspruchslos, für Anfänger geeignet.