„Meine Heimat ist die Literatur“
1. Juni 2020 von Thomas Hartung
Nicht nur als Überlebender des Warschauer Ghettos – er war in mehrfacher Hinsicht eine lebende Legende. Wie Willi Winkler für die Süddeutsche Zeitung bereits 2000 recherchierte, hat er seit 1960 achtzigtausend Bücher rezensiert. Seit Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand so viel Einfluss auf den deutschen Buchmarkt ausgeübt wie der „Literaturpapst“ – der mehrfach betonte, dass er nicht die Autoren, sondern die Leser beeinflussen wolle. Auf das Verhältnis von Schriftstellern zu Literaturkritikern angesprochen, soll er einmal darauf hingewiesen haben, dass die Vögel nichts von Ornithologie verstehen, aber auch noch kein Ornithologe einem Vogel das Fliegen beibringen konnte: Marcel Reich-Ranicki.
„Man musste ihn lieben, weil er gesagt hat, was er dachte – und sich keine Sekunde darum scherte, was andere davon halten würden. Fürchten musste man ihn, weil er dabei weder Freund noch Feind kannte. Was ihm nicht in den Kram passte, wischte er unwirsch zur Seite. Das konnte auch mal ein Fernsehpreis sein“, erklärte Entertainer Thomas Gottschalk anlässlich seines Todes im Spiegel. Damit meinte er sich selbst: als er ihm für sein Lebenswerk und seine ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ am 11.10.2008 den Deutschen Fernsehpreis verleihen wollte, lehnte der Kandidat unter spontanem Hinweis auf den „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“, die Auszeichnung ab. Gottschalk bot ihm daraufhin eine einstündige Diskussionsrunde zur Qualität des deutschen Fernsehens an – die auch stattfand.
Aufgrund seiner rigorosen Urteile zürnten ihm manche der von ihm Rezensierten bis ins Grab. Rolf Dieter Brinkmann giftete ihn 1968 an: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen“. Peter Handke sagte in einem Interview mit André Müller, dass er es nicht bedauern würde, wenn Reich-Ranicki sterben würde. Elfriede Jelinek bezeichnete Reich-Ranickis Äußerung, sie (Jelinek) sei zwar eine tolle Frau, aber ein gutes Buch sei ihr nicht gelungen, als „größte Demütigung“. Aber auch Kollegen urteilten nicht minder scharf: „Das selbstgerechte, wahllos wütende Hassgebrüll des entfesselten Kulturspießers“, kommentierte Andreas Kilb eine Äußerung Ranickis in der Zeit. Der so Gescholtene kam am 2. Juni vor 100 Jahren zur Welt.
„wurzelloser Kosmopolit“
Geboren als Marceli Reich in Włocławek (Leslau, Provinz Kujawien-Pommern), war er das dritte Kind einer jüdischen Mittelstandsfamilie: Sein Vater David besaß eine kleine Fabrik für Baumaterialien, ging aber 1928 Konkurs. Während er seine deutsche Mutter Helene zeitlebens als „liebevoll, aber weltfremd“ verehrte, hielt er seinen polnischen Vater für einen Versager. Marceli durfte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Leslau besuchen und wurde, um ihm seine berufliche Zukunft nach dem väterlichen Geschäftsruin offenzuhalten, zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin geschickt. Trotz des Gleichbehandlungsgebots der jüdischen Schüler, das am Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf noch galt, blieb er von Schulausflügen oder Sportfesten ausgeschlossen und vertiefte sich stattdessen in die Lektüre der deutschen Klassiker und besuchte Theater, Konzerte und Opern. 1938 machte er sein Abitur, wurde aber an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo er Germanistik studieren wollte, wegen seiner jüdischen Abstammung nicht mehr immatrikuliert.
Nach kurzer Abschiebehaft nach Polen ausgewiesen, fuhr er mit der Bahn nach Warschau, wo seine Familie inzwischen lebte und von Bruder Alexander, einem Zahnarzt, ernährt wurde. Seine erfolglose Arbeitssuche – immerhin musste er die polnische Sprache neu lernen – endet abrupt zum Poleneinmarsch am 1. September 1939. Soldaten der Wehrmacht, die bei Zahnärzten Gold vermuteten, plünderten die Wohnung der Familie Reich. Am 21. Januar 1940 bat Helene ihren Sohn, sich um ein gleichaltriges Mädchen in der Nachbarschaft zu kümmern. Die Zwanzigjährige war verzweifelt, denn sie hatte gerade ihren Vater tot vorgefunden; er hatte sich erhängt, nachdem die jüdische Familie von den Deutschen enteignet und aus Lodz vertrieben worden war. Marcel Reich versuchte, Teofila („Tosia“) Langnas (1919 – 2011) zu trösten. Die beiden verliebten sich und wurden unzertrennlich.
Ab November 1940 wurde er mit mehr als 400 000 Juden hinter der 18 Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer des Warschauer Gettos zusammengepfercht. Die jüdische Kultusgemeinde (der sog. „Judenrat“) beschäftigt ihn als Schreiber und Übersetzer, daneben verfasste er für die Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“ unter dem Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen und arbeitete im Untergrundarchiv. Am 22. Juli 1942, dem ersten Räumungstag des Gettos, ließen er und Tosia sich von einem Rabbi trauen. Ihnen gelang im Februar 1943 die Flucht, sie wurden von dem polnischen Schriftsetzer Bolek Gawin und dessen Frau in einem Vorort Warschaus versteckt. Das Paar konnte auch eine Mappe mit Zeichnungen von Tosia Reich-Ranicki herausschmuggeln, die erst 1999 veröffentlicht wurden. Bis zuletzt überwies das dankbare Ehepaar der Tochter Gawins Geld. Reichs Eltern und sein Bruder fielen dagegen den Nazis zum Opfer, seine Schwester war nach England emigriert.
Die Sowjetische Armee befreit ihn, er tritt der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet in der Polnischen Militärkommission in Berlin, im Polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst im Range eines Hauptmanns. Seine Frau war in London als Korrespondentin für zwei Zeitungen beschäftigt. 1948 änderte die Familie den zu sehr an die Deutschen erinnernden Namen „Reich“ in „Ranicki“, im selben Jahr wurde Sohn Andrzej, später Andrew, geboren, ihr einziges Kind. Marcel galt als arroganter „Intelligenzler“, wurde von Geheimdienst und Außenministerium Anfang 1950 entlassen und wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Im Rahmen der ostblockweiten stalinistischen Aktion gegen „wurzellose Kosmopoliten“ und „zionistische Spionage“ verbrachte er einige Wochen in Einzelhaft im Gefängnis. Die später erhobenen Vorwürfe, er habe Exilpolen zur Rückkehr in die Heimat überredet, wo sie dann zum Tod verurteilt worden seien, blieben ungeklärt, er bestritt sie.
Danach durfte er, unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in jenem Reservat arbeiten, in dem man politisch „unzuverlässigen“ Individuen am ehesten gewisse Narrenfreiheiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und des literarischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für die Zeitung und für den Rundfunk, und er übersetzte – alles als Vermittler deutscher Literatur für polnische Leser. Nachdem er in der Schweiz weder eine Arbeits- noch eine Niederlassungsbewilligung bekam, kehrte er von einer Studienreise in die Bundesrepublik Deutschland im Sommer 1958 nicht mehr nach Polen zurück. Tosia, die sich mit ihrem Sohn nach London abgesetzt hatte, traf sich mit ihm in Frankfurt am Main. Heinrich Böll und Siegfried Lenz halfen ihm, hier Fuß zu fassen, Hans Werner Richter lud ihn zur Teilnahme an einer Sitzung der „Gruppe 47“ ein.
„so effektvoll wie unaufrichtig“
Weil ihn die Zeit am 1. Januar 1960 als Literaturkritiker einstellte, zog er nach Hamburg. Vierzehn Jahre lang schrieb er für die Wochenzeitung und eroberte sich in dieser Zeit den Ruf eines „Großkritikers“. Nebenbei verbrachte Reich-Ranicki 1968 und 1969 jeweils einige Zeit als Gastprofessor in den USA. Von 1971 bis 1975 war er ständiger Gastprofessor für neue deutsche Literatur in Stockholm und Uppsala. Vortragsreisen führten ihn 1972 bis ans andere Ende der Welt, nach Australien und Neuseeland. 1973 kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Frankfurt zurück, wo er die Leitung der „Redaktion für Literatur und literarisches Leben“ der FAZ übernahm und sie zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands machte. Im selben Jahr wurde er Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln und im Jahr darauf Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1979 hielt er sogar in China Vorträge. Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte er 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbe und -preise wurde.
Als er sich 1988 aus Altersgründen aus der Leitung des Literaturteils zurückziehen musste, blieb ihm zunächst nur noch die wöchentliche „Frankfurter Anthologie“, die er seit dem 15. Juni 1974 bis zu seinem Tod betreute und auch die jährlich erscheinenden Buchausgaben herausgab. In jeder Samstagsausgabe der FAZ erschien ein Gedicht mit einem Kommentar eines Lyrikkenners unter dem Motto: „Der Dichtung eine Gasse.“ Doch dann fand er in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ ein neues Wirkungsfeld. Der temperamentvolle Medienstar bewies, dass Literaturkritik unterhaltsam sein kann. Mit außergewöhnlichem Erfolg wurden vom 25. März 1988 bis 14. Dezember 2001 siebenundsiebzig Folgen des „Literarischen Quartetts“ ausgestrahlt. Es sei erst das Fernsehen gewesen, das ihn zu einem Helden der Öffentlichkeit werden ließ, befand Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, „und wenn er Bestseller schuf oder verhinderte (keiner konnte das so wie er), dann waren die Form des Urteils, der Witz, die Pointe, aber auch die Schmähung und das Indiskrete etwas, das die Menschen ebenso bewegte wie der Inhalt des Urteils.“ Er beendete die Sendung mit einem Brecht-Zitat, das die Offenheit literaturkritischer Urteile unterstrich: „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ein Zitat übrigens, mit dem er bereits in den frühen Sechzigern eine Radiosendung über Literatur beschlossen hatte, die er zusammen mit Hans Mayer moderierte.
Zwischendurch ging er 1990 als Gastprofessor nach Düsseldorf und ein Jahr später nach Karlsruhe. Das Altern empfand er als Zumutung: „Das Leben ist scheußlich, wenn man alt ist. Sehr unangenehm. Ich kann Ihnen nur sagen, es ist kein Vergnügen, so alt zu sein“, sagte er der Zeit. Weniger erfolgreich als mit „Das Literarische Quartett“ war Marcel Reich-Ranicki 2002 mit seiner Sendung „Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen“. 1999 veröffentlichte er seine Autobiografie „Mein Leben“, die zehn Jahre später mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt wurde. Zu Beginn seiner Autobiographie schreibt Reich-Ranicki, dass er „kein eigenes Land, keine Heimat und kein Vaterland“ hat. Seine Heimat sei im Letzten die Literatur gewesen. Und er schreib darin zur „arithmetischen Formel“, wonach er einst zu Grass gesagt habe: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“, dass sie „so effektvoll wie unaufrichtig“ gewesen sei: „Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.“
Nachdem er bereits 2001 in einem Spiegel-Gespräch einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ entwickelt hatte, gab Reich-Ranicki 2002 im Insel-Verlag unter dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ das erste von bislang drei Buchpaketen heraus. 2007 verlieh ihm die Humboldt-Universität als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität, die ihm ein Studium verwehrt hatte, die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr wurde an der Universität Tel Aviv ein Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur eingerichtet, 2010 in seinem Beisein eine „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ an der Uni Marburg als Teil des Forschungsschwerpunkts „Literaturvermittlung in den Medien“ eröffnet.
Am 27. Januar 2012 schilderte Reich-Ranicki in der Rede zur Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, wie er im Warschauer Ghetto den ersten Tag der Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka als Übersetzer des „Judenrats“ erlebte. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen würdigte den Vortrag mit der Auszeichnung „Rede des Jahres“. Im März 2013 machte Reich-Ranicki seine Krebserkrankung öffentlich und bilanzierte kurz vor seinem Tod in der Zeit bitter: „Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben. Ich war es nie. Ich war nie in meinem Leben glücklich. Das ist etwas, was ich nicht kenne.“ Er starb, zwei Jahre nach seiner Frau, die bis zuletzt als Illustratorin und Übersetzerin gearbeitet hatte, am 18. September 2013.
„Kritik ist immer pädagogisch“
Marcel Reich-Ranicki hat für seine Arbeit als Literaturkritiker und die frühere Arbeit im politischen Bereich bis heute zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen in Deutschland und Polen erhalten. Ähnlich wie Robert Lembke hatte er Umfragewerte, von denen Politiker nur träumen können: 2010 kannten ihn 98 Prozent der deutschen Bevölkerung mit Namen. Zu seinen schärfsten Feinden zählt Martin Walser, der 2002 den Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte, in dem er seinen Einfluss durch das Literarische Quartett thematisierte. Hellmuth Karasek, sowohl mit Reich-Ranicki als auch Walser lange beruflich verbunden, wertete die postmoderne Generalabrechnung im Tagesspiegel als „Dokument eines schier übermenschlichen Hasses, der den Autor überwältigt, weil er sich sein Leben lang unter der Fuchtel von Reich-Ranicki sah“. Auch Antisemitismus-Vorwürfe wurden laut, die Walser als absurd zurückwies.
Doch das focht Reich-Ranicki nie an: „Die Kritiker sind dazu da, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Unter uns: Sie können es getrost tun, denn je mehr man an ihm sägt, desto fester wird er.“ Sein Grundsatz war: Der Kritiker reagiere auf ein Buch „von Fall zu Fall“, ohne verbindliche Normen, ohne Theorie. Indem er über Autoren schrieb, schrieb er immer auch über sich selbst, erkennt Hajo Steinert im DLF. So habe er sich von Lessing die Legitimation des kritischen Urteils geholt, so vernichtend es auch für den Verfasser des Kunstwerks ausfallen möge. Von Fontane übernahm er Schlüsselbegriffe wie „unmittelbare Empfindung“ oder „gesunder Menschenverstand“. Selbst Walter Benjamin zitierte er inbrünstig: „Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren“.
Realistische Literatur, Natürlichkeit, lebensnahes Erzählen gehen dem belesenen Autodidakten über Postmoderne und Avantgarde. Von Genre-Literatur wie Science-Fiction und Fantasy hielt Reich-Ranicki wenig, ohne sich aber je umfassend mit ihr beschäftigt zu haben; insbesondere von der Science-Fiction glaubte er, dass ihre Vorzüge „mit Kunst nichts zu tun“ hätten. Aus seinem erzieherischen Auftrag, seinem aufklärerischen Impetus machte er keinen Hehl: „Kritik ist immer pädagogisch.“ So protegierte er Heinrich Böll, um ihn als Repräsentant der deutschen Nachkriegsliteratur gegen Gerd Gaiser durchzusetzen. Der Adressat seiner „Belehrungen“ ist allerdings nicht der Schriftsteller, sondern einzig und allein der Leser: „Schriftsteller sind nicht lenkbare, nicht erziehbare Wesen.“ Und so meint Steinert treffend: „Sein größter Verdienst besteht darin, dass er die Literaturkritik aus dem akademischen Milieu befreit hat.“