„selbst Fisch zu werden“
10. Juni 2020 von Thomas Hartung
Die Liste seiner Verdienste sei ebenso lang wie die Zahl seiner Fehltritte, so dass man sich „wundert, wie dieser Mann zu einer Ikone der Meeresforschung aufsteigen konnte“, zeigte sich Hanno Charisius in der Süddeutschen Zeitung irritiert. Zu seinen Lebzeiten war er laut Umfragen jahrelang der beliebteste Franzose, beriet Weltbank, UNO und Unesco, bekam den Nationalen Verdienstorden und die Ehrendoktorwürde von Harvard. Er drehte mehr als 100 Dokumentarfilme und bekam für drei den Oscar, schrieb Dutzende Bücher und verwandelte die Meeres-Biologie von einem exotischen Fach in einen Modestudiengang. Eine Viertelmilliarde Menschen verfolgte die Episoden seiner TV-Serie „Geheimnisse des Meeres“. Doch eines bleibt ihm zeitlebens verwehrt: die Anerkennung der etablierten Meereswissenschaftler.
Die Akademiker beargwöhnten den begnadeten Selbstdarsteller mit asketischer Aura, sie betrachteten ihn als Wilderer, ja Besessenen, mit dem die Phantasie durchgegangen war. So träumte er von operativen Eingriffen, mit denen sich Menschen zu Unterwasseratmern umbauen lassen sollten – eine Science-Fiction-Idee, die der russische Autor Alexander Beljajew in seinem Roman „Der Amphibienmensch“ (1928) entwickelt hatte. Und er träumte von riesigen Unterwassersiedlungen, die von Menschen bewohnt werden sollten, und versenkte 1964 eine Art bewohnbares Aquarium im Roten Meer, wo er mit seinem Sohn Philippe wochenlang unter Wasser lebte – in klimatisierten und beleuchteten Räumen, rauchend und Champagner schlürfend: Jacques-Yves Cousteau, der am 11. Juni 1910 bei Bordeaux als Sohn eines Anwalts geboren wurde. Als Schüler war ihm übrigens das Schwimmen wegen seiner schwächlichen Konstitution untersagt worden.
Beinahe wäre er nach der Marineschule in Brest, die er von 1930 bis 1933 besucht, Marineflieger geworden, doch ein Autounfall kommt ihm dazwischen. 1936 überschlug sich sein Wagen, Cousteau brach sich zwölf Knochen. Sein linker Arm war derart zertrümmert, dass Ärzte zur Amputation rieten, um einen womöglich tödlichen Wundbrand zu vermeiden. Cousteau wagte alles und gewann: Der Arm verheilte. So stillte der 26-Jährige sein Entdeckerbedürfnis im entgegengesetzten Element: Seit er im Sommer 1936 erstmals mit einer Unterwasserbrille im Mittelmeer tauchte, träumte er von den Tiefen der Meere: „Ich tauchte meinen Kopf unter, und die ganze Zivilisation schwand mit dieser einen Bewegung dahin. Ich war wie in einem Dschungel, der noch nie von all denen erblickt worden war, die sich auf der undurchsichtigen Erdoberfläche bewegten.“ Es war ein Erweckungserlebnis. Im Jahr darauf heiratet er Simone Melchior, mit der er zwei Söhne hatte, Jean-Michel und Philippe, der 1979 beim Absturz seines Wasserflugzeugs sterben sollte.
„Ich bin das Meer“
Zunächst erklimmt Cousteau die militärische Karriereleiter, arbeitet als Agent der Aufklärungsabteilung der Marine in China, Japan und der Sowjetunion und unterstützt nach dem deutschen Sieg gegen Frankreich 1940 die Résistance. Er verdient sich mehrere Orden und bringt es bis zum Korvettenkapitän, als er 1956 ausscheidet. Den Beinamen le commandant (englisch „captain“) behält er. Parallel dazu wird er zum Tauchprofi und riskierte wieder sein Leben – um „selbst Fisch zu werden“: Weiter als auf Schnorcheltiefe waren die Meere noch nicht erforscht. Da ihm das mit den damals üblichen, von außen mit Luft versorgt schweren Tauchhelmen und –anzügen unmöglich erschien, experimentierte er und verlor mehrmals unter Wasser das Bewusstsein.
Dann brachte er zwei französische Ingenieure dazu, mit ihm gemeinsam den vom österreichischen Taucher und Dokumentarfilmer Hans Hass ersonnenen Lungenautomaten weiterzuentwickeln, der es erstmals ermöglichte, Luft aus Pressluftflaschen zu atmen. Auf der Aqua-Lunge basiert bis heute das Prinzip des Tauchens: Per Atemregler ließ sich fortan komprimierte Luft aus Flaschen automatisch dem wechselnden Wasserdruck anpassen. „Befreit von Schwerkraft und Auftrieb flog ich durch das All“, jubilierte Cousteau nach dem ersten Tauchgang. Und später: „Ich bin das Meer, und das Meer ist in mir.“ Die neue Technik legte das eine Fundament für seinen Welterfolg. Das andere sind die wasserdichten Gehäuse für Kameras, die er entwickelt.
1942 dreht Cousteau bei der Insel Embiez nahe Toulon am Mittelmeer seinen ersten Unterwasserfilm „In 18 Metern Tiefe“ – mit einer simplen Kamera im wasserdichten Einmachglas. Mit dabei sind Philippe Tailliez und Frédéric Dumas – die drei „Mousquemers“ (Musketiere des Meeres). Für den nächsten Film „Wracks“ benutzen sie 1943 erstmals die „Aqualung“. Für die Taucher der Marine entwickelte er den ersten Scooter, ein motorisiertes Fortbewegungsmittel unter Wasser. Es folgten Forschungs-U-Boote, darunter die berühmte tauchende Untertasse „Denise“, sowie eine tiefseetaugliche Kamera. 1947 schaffte er mit 91,5 Metern den Weltrekord im Freitauchen.
1950 überlässt ihm der irische Bierbrauer Thomas Loel Guinness ein ehemaliges Minensuchboot für einen symbolischen Franc Miete im Jahr. Der Captain baut die Calypso für seine Zwecke um. Mit an Bord bei der ersten Reise ist der noch unbekannte Regisseur Louis Malle, mit dem Cousteau sich bei seinem bekanntesten Film „Die schweigende Welt“ die Regie teilt – und 1956 die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes. Nur 14 Jahre nach dem eher unscheinbaren Erstling stießen seine Taucher in der später auch oscargekrönten Doku mit unter Wasser brennenden Magnesiumfackeln wie tollkühne Eroberer in die Tiefe vor. Sie rasten mit Scootern hinter Fischschwärmen her, flogen über bunte Korallengärten und inspirierten damit James Bonds „Feuerball“ (1965). Sogar den Haien stellten sie sich, geschützt nur durch einen engen Käfig. Bald darauf kommt Malle als Spielfilmregisseur zu Weltruhm.
Mehr als 40 Jahre lang schipperte Cousteau mit der Calypso über die Weltmeere und verarbeitete seine Expeditionen in vielen Texten und Bildern. Geschickt machte er sich selbst zur Marke: In seinen Filmen und TV-Sendungen ließ er die Crew auf dem blendend-weiß gestrichenen Schiff stets seine bald weltberühmten roten Wollmützen tragen. Auf dem Boot herrschte strenge Hierarchie: „Le Commandant“ schickte bisweilen Mannschaftsmitglieder ohne Abendessen ins Bett, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzten. Um exorbitant teure Expeditionen zu finanzieren, schloss er auch Verträge mit der Öl-Industrie ab und sondierte den Meeresboden nach möglichen Bohrorten. Dem US-Sender ABC rang er die Rekordsumme von 4,2 Millionen Dollar für die zwölfteilige Fernsehsendung „Die Unterwasserwelt des Jacques Cousteau“ ab. Und doch reichte das Geld meist nicht. Um die Sensationslust des Publikums zu befriedigen, soll er sich nicht immer ökologisch korrekt verhalten haben: Biografen werfen ihm vor, er habe Haie massakriert und Tintenfische unter Drogen gesetzt. Frühere Crew-Mitglieder behaupten gar, sie hätten massenhaft Delfine getötet, um sie an Haie zu verfüttern.
„Der Mensch ist schuldig“
Allen Kritiken zum Trotz wurde Cousteau zum Präsidenten der französischen Ozeanographischen Gesellschaft gewählt. Er war Mitglied der Académie Française, leitete jahrzehntelang das Ozeanographische Museum in Monaco und betrieb Museumsschiffe in Übersee. Und er konnte durchaus auch anders: „Ich habe gesehen, wie die Fische sterben, die ich liebe, ich habe nach dem Grund gesucht. Der Mensch ist schuldig“, erklärte Cousteau. Mit zunehmendem Alter wandelte er sich zum beflissenen Umweltschützer, der mit Vorträgen zum Thema Überbevölkerung um die Welt reiste. Erlöse aus Lizenzverträgen und Forschungsaufträgen stiftete er der wissenschaftlichen Meeresforschung und gründete 1973 in den USA die millionenschwere „Cousteau-Society“ zur Erforschung und zum Schutz der Meere. Er entdeckte 1976 in der Ägäis mit seinem Taucherteam zwischen den Inseln Kea und Makrónissos einer Tiefe von 120 Metern das Wrack der Titanic-Schwester HMHS Britannic.
1987 lieferte er einen eigenartigen Beweis dafür, wie „harmlos“ Frankreichs Atombomben strahlten: er schwamm eine Runde im Wasser des Mururoa-Atolls. 1991 errang Jacques Cousteau seinen größten Sieg als Umweltaktivist: Er bewegte die Mächtigen der Welt dazu, in einem Moratorium den Schutz der Antarktis für 50 Jahre zu garantieren. Selbst Georg Bush, Freund der Öl-Multis, unterschrieb. Und als der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac 1995 im Mururoa-Atoll wieder Atombombentests durchführen ließ, reagierte der ehemalige Mururoa–Schwimmer empört. Ein Jahr später sank die legendäre Calypso, sein „Zuhause“, im Hafen von Singapur und lebt heute vor allem musikalisch weiter: John Denver schrieb sein populäres „Calypso“ (1975) in Anerkennung von Jacques-Yves Cousteau und der Besatzung des Schiffs; Jean Michel Jarre nannte sein 1990 erschienenes Album „Waiting for Cousteau“ und widmete darauf ebenfalls ein Stück der Calypso.
Schon 1985 war Cousteau mit einem Rotorschiff, der „Alcyone“, in See gestochen. Sie ist noch immer im Auftrag der Cousteau-Society unterwegs und wird heute von seiner zweiten Ehefrau, Francine Triplet, geleitet. Die Langzeitgeliebte, die ihm bereits zwei uneheliche Kinder gebar, hatte er nach dem Krebstod Simones 1991 geheiratet. Am 25. Juni 1997 starb Costeau mit 87 Jahren an einem Herzinfarkt. „Oft wird der Selfmade-Forscher mit Bernhard Grzimek, dem Verhaltensforscher und Tierfilmer, auf eine Stufe gestellt. Vielleicht wäre Reinhold Messner der bessere Vergleich“, befand Charisius. Cousteau hinterließ eine Unterwasserwelt, die es heute nicht mehr gibt. Seine Enkelin Alexandra erklärte im Spiegel: „Ich tauche nicht mehr gern. Ich bin zu oft an Orte zurückgekehrt, an denen es heute kaum noch einen Fisch zu sehen gibt. Die Meere, die mein Großvater erforscht hat, existieren so nicht mehr.“