„unbaubar“
11. Juli 2020 von Thomas Hartung
Er galt als einer der wichtigsten Vorkämpfer der modernen Architektur in Deutschland, als „Baumeister der deutschen Demokratie“, Verfechter eines Bauens ohne jede Status- und Machtsymbolik, allen Herrschaftsstrukturen gegenüber skeptisch. „Die erstrebenswerte Ordnung unserer Gesellschaft möchte ich nicht in geometrische Klein- und Großraster, sondern eher in ihrer möglichen Vielfalt gespiegelt sehen“, sagte er einmal. Als er vor 10 Jahren, am 12. Juli 2010, in Stuttgart starb, erschien eine Fülle bewegender Würdigungen zu seinem Schaffen. Der Spiegel titelte „Der Mann, der Deutschland ein junges Gesicht gab“. Wie kein anderer habe er „Demokratie und Freiheit in eindrucksvolle Bauten übersetzt“. Seine Arbeit prägt bis heute den Stil jüngerer Generationen: Günter Behnisch.
Seine Skepsis gegen autoritäre Systeme und hierarchische Mächte wurzelte für viele in seiner Biografie. Geboren am 12. Juni 1922 als zweites von drei Kindern eines SPD-nahen Volksschullehrers in Lockwitz bei Dresden, zog er 1934 mit seiner Familie nach Chemnitz um: sein aus politischen Gründen kurzzeitig verhafteter Vater wurde dorthin strafversetzt. Nach der Reifeprüfung meldete er sich mit 17 Jahren, drei Monate nach Kriegsbeginn, am 1. Dezember 1939 freiwillig zur Marine als Offiziersanwärter und wurde nach dem Ausbildungslager auf der Ostseeinsel Dänholm und dem Besuch der Marineschule in Flensburg zum Leutnant zur See ernannt. Zuerst als Wachoffizier auf einem U-Boot eingesetzt, wurde er 1944, mittlerweile zum Oberleutnant zur See befördert, mit 22 Jahren einer der jüngsten U-Boot-Kommandeure der deutschen Kriegsmarine.
Nach Übergabe und Überführung seines U-Bootes U 2237 an die Engländer ging er bis November 1946 in Kriegsgefangenschaft. Sein Entschluss, eine Architekturausbildung aufzunehmen, entsprang einem Zufall. Während des Krieges habe er in einem Hotel im italienischen La Spezia ein Buch gefunden; es „handelte davon, wie man Häuser konstruiert. Der Krieg war zu Ende, und irgendetwas musste ich ja machen.“ Ende 1946 kehrte Behnisch nach Deutschland zurück und kam zunächst bei einem ehemaligen Kriegskameraden in Osnabrück unter, wo er ein viermonatiges Praktikum als Maurer bei der Baufirma Hagedorn absolvierte. Sein Versuch, ein Architekturstudium an der Universität in Hannover aufzunehmen, scheiterte jedoch. An der TH Stuttgart dann konnte er 1947 endlich „irgendetwas machen“ und Architektur studieren. 1952 eröffnete er sein Büro in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, daneben heiratet er und wird mit seiner Frau drei Kinder bekommen. Er bleibt ihr und der Stadt bis zu seinem Tod treu.
„Durchsichtigkeit ihrer geistigen Ordnung“
Renommee erwarb er schnell mit einer Vielzahl von (Hoch-)Schulbauten und Sporthallen in dem Bundesland, darunter dem Schulensemble in Lorch, dem inzwischen denkmalgeschützten Hohenstaufengymnasium in Göppingen und der Fachhochschule in Aalen. Die am Hang über Terrassen gestaffelten Bauten der 1959 fertig gestellten Vogelsang-Schule mit ihrem sorgsam gefügten Sichtmauerwerk sind noch Ausdruck der Stuttgarter Tradition – und weisen doch schon weit darüber hinaus. Denn zu dieser Zeit experimentierte er bereits mit Rasterfassaden und Fertigteilen. Die Fachhochschule Ulm wurde 1963 als erstes größeres Bauprojekt aus vorgefertigten Elementen gebaut. Lastende Schwere und übertrieben lange Achsen waren für Behnisch ebenso tabu wie extreme Symmetrie – und deshalb war zum Beispiel der Berliner Reichstag für ihn lange ein „Monster“, ein Ausbund „wilhelminischer Machtarchitektur“. Er wollte es anders machen.
Seine Architektur charakterisiert sich durch die Verwendung neuer Materialien wie Stahlbeton, Stahl, Glas oder Acryl. Gegenüber älteren Bauweisen mit natürlichen Materialien wie Holz und Stein zeichnen sich diese neuen Baustoffe durch hohe Leistungsfähigkeit, Präzision und kurze Bauzeiten aus. Seine U-Boot-Zeit verleitete später viele Architektur-Kritiker dazu, seinen Baustil – offene Gebäude, meist mit viel Glas – als Kontrapunkt zur klaustrophobischen Kriegserfahrung unter Wasser zu deuten. Unsinn, beschied der Meister und sagte der Zeit: „Meine Liebe fürs Licht kommt von ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit’“, dem berühmten Arbeiterlied. Während lange Zeit die tragende Struktur identisch war mit der Begrenzung des Raumes, führte Behnischs neue Bauart zur Einführung der Skelettkonstruktion.
Der sorgsame Umgang mit der Landschaft, mit den Baustoffen und den Ressourcen der Natur war Behnisch Pflicht und selbstverständlich, schon Jahrzehnte bevor man vom „ökologischen Bauen“ sprach. In einem Text von 1965 beschwor er „den faszinierenden Ausblick und die Hoffnung auf eine Architektur, die im Gegensatz zur kalten Pracht der Architekturmonumente und im Gegensatz zur Geistlosigkeit der Architekturstile immer lebendig sein wird, die nie fertig sein wird, die anbaut, abreißt, ändert, erneuert, und die ihre Schönheit nicht von einem übergestülpten System sogenannter harmonischer Maße bezieht, sondern von der Durchsichtigkeit ihrer geistigen Ordnung“. In seinen Worten zeichnete sich schon jene Spaltung ab, die auf der einen Seite in die technische Perfektion industriell gefertigter Großprojekte führte, von denen sich Behnisch bald nachdrücklich distanzierte. Und sie waren bereits ein Hinweis auf seine späteren Experimente mit der Eigensinnigkeit, auch Gegenläufigkeit von Strukturen. Die Architektur sollte dem Menschen dienen, der Mensch in der Architektur leben, nicht von ihr beherrscht werden. Kompromisse lehnte Behnisch immer ab: „Ich will nicht mehr ins Mittelmäßige hineingezogen werden“, zitiert ihn der Spiegel.
1966 wurde die Architektengruppe Behnisch & Partner gegründet, die Behnisch unter wechselnden Namen jeweils mit einem oder mehreren Partnern führte und erst 2005 auflöste. 1967 übernahm er bis zu seiner Emeritierung die Nachfolge Ernst Neuferts auf dem Lehrstuhl für Entwerfen, Baugestaltung und Industriebaukunde an der TH Darmstadt. Gleichzeitig wurde er Direktor des dortigen Instituts für Normgebung. Im Wettbewerb um die Bauten für die Olympischen Spiele in München entschied er sich für das Abenteuer eines Entwurfs, der im Preisgericht zunächst als „unbaubar“ galt: ein weiträumig modelliertes Gelände wird mit einer scheinbar schwebenden Zeltlandschaft überdacht, dabei höchst funktional allen Anforderungen der Wettkämpfe tauglich und zudem für die Gäste aus aller Welt ein unvergesslicher Erlebnisraum der intendierten „Heiteren Spiele“, die dann ob des PLO-Anschlags so heiter doch nicht wurden. Die virtuose Inszenierung der Heterogenität von Materialien, Elementen und Strukturen machte die Qualität dieses Projekts auf dem Münchner Oberwiesenfeld aus, das Behnisch schlagartig weltbekannt machte.
„Werkhalle der Demokratie“
In rascher Folge realisierte er jetzt bis zur Wiedervereinigung weitere namhafte Projekte: das Studien- und Ausbildungszentrum sowie die Landesgeschäftsstelle der Evangelischen Landeskirche Württemberg in Stuttgart, die Zentralbibliothek der Katholischen Universität in Eichstätt, das Bundespostmuseum/ Museum für Kommunikation in Frankfurt, das Hysolar Forschungs- und Institutsgebäude der Universität in Stuttgart, den Marco-Polo-Tower sowie die Unilever-Zentrale in Hamburg und das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. 1982 wurde Behnisch Mitglied der Akademie der Künste in Berlin in der Sektion Baukunst. 1984 wurde ihm von der Universität Stuttgart die Ehrendoktorwürde verliehen.
Sein zweites prestigeträchtiges Großprojekt nach München – den Wettbewerb dazu hatte er bereits 1973 gewonnen – war der Umbau des Zentralbereichs und des Plenarsaals des Deutschen Bundestages in Bonn – auch wenn der erst fertig wurde, als der Umzug nach Berlin bereits beschlossen und im Gang war. Die transparent gestaltete „Werkhalle der Demokratie“ (Behnisch) war damals das modernste Parlamentsgebäude der Welt. 1989 gründete sein Sohn Stefan Behnisch ein Zweigbüro in Stuttgart, das 1991 eigenständig wurde und inzwischen unter dem Namen Behnisch Architekten weltweit agiert.
1991 wurde er zum Ehrenprofessor an die Internationale Akademie der Architektur in Sofia berufen, ein Jahr darauf zum Ehrenmitglied der Königlichen Vereinigung der Architekten in Schottland. Im gleichen Jahr wurde er auch Ehrenmitglied des Bundes Deutscher Architekten (BDA). 1996, inzwischen mehrmals nach Dresden zu Besuchen und Architekturwettbewerben zurückgekehrt, wurde er Gründungsmitglied der Sächsischen Akademie der Künste, deren Klasse Baukunst er bis 2000 leitete. Zu seinen Dresdner Arbeiten gehörten der Bau des futuristisch anmutenden Katholischen St.Benno-Gymnasiums sowie das „Blumenhaus“, ein Wohn- und Geschäftskomplex im Rahmen des Wiederaufbaus des Neumarkts rings um die Frauenkirche. Seinen Dialekt legte er übrigens zeitlebens nicht ab.
Nach dem Entwurf zur Umgestaltung des Bayerischen Landtags von Günter Behnisch sollte das Maximilianeum in München eine gläserne Krone erhalten: ein Plenarsaal aus Glas. Der Entwurf wurde 2000 im Wettbewerb um die Neugestaltung des Sitzungssaales mit einem Sonderpreis bedacht. 2001 eröffnete das von ihm entworfene Museum der Phantasie – auch Buchheim-Museum genannt – am Starnberger See. Zwei Jahre zuvor ging sein Kontrollturm am Nürnberger Flughafen in Betrieb – seinerzeit der modernste Deutschlands. Sein drittes und zugleich letztes, und umstrittenstes, Großprojekt war der Neubau für die Akademie der Künste in Berlin, den er zusammen mit Werner Durth von 1999 bis 2005 für 56 Millionen Euro errichtete.
Er folgte auch hier seinem Prinzip des „transparenten Bauens“ – mit einer Glasfassade zum Pariser Platz und offenen Etagenübergängen im Inneren, was zu akustischen Problemen im Alltag führte und Kritik auslöste. Schon in der Entwurfsplanung gab es Konflikte mit den Berliner Stadtplanern, weil die Bausatzung an der historischen Stelle der Hauptstadt eigentlich keine durchgehende Hightech-Glasfassade erlaubte. Aber „ich bin gar nicht erst auf die Idee gekommen, da eine Steinfassade zu machen“, sagte Behnisch seinerzeit. „Wir wollten schon gar keine Assoziationen an die Großkotzigkeit der Hitler-Architektur und der wilhelminischen Architektur wecken.“ Die gigantomanischen Macht-Klötze der NS- und Kaiserzeit, so fürchtete er, feierten ein schleichendes Comeback in der neuen Hauptstadt. Er sei „traumatisiert von den ideologischen Architekturinszenierungen der Nazis“ und empfinde einen „heftigen Widerwillen gegen das Zurschaustellen steinerner, lastender Baumassen“, zitiert ihn das Portal baunetz.
Für Behnisch waren historisierende Bauten wie das Stadtschloss reine Sicherheitsarchitektur, die eine spießig-konservative Sehnsucht nach Gemütlichkeit bediente, wo doch eigentlich Wagnisse gefragt waren. Ein Sentiment, das er nur mit lakonischer Bissigkeit kommentieren konnte: „Wenn es jemand nach Gemütlichkeit verlangt, soll er sich eine Katze anschaffen.“ Berlins Senatsbauverwaltung stellte fest, dass „Undichtigkeiten an der vertikalen Fassade“ das Bauwerk schädigten. In den Archivräumen machte sich beizeiten Schimmel breit, so dass die umfangreichen Bestände der Akademie seit Jahren in einem Lager am Westhafen untergebracht sind. Eine andere Erklärung, bekannte Behnisch freimütig, sei seine landsmannschaftlicher Tradition, die ihn mit Berlin nie so recht warm werden lasse: „Ich bin ein Sachse, und wir haben immer zusammen gegen die Preußen gekämpft – und haben immer verloren. Friedrich der Große, das war ja ein Räuber. Die Österreicher waren mir immer sympathischer. Die kennen das auch, das Laufenlassen und das Schauen-wir-mal-wie’s-Geht.“
„Heiter und ernst“
1999 war Behnisch Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München und 2006 Ehrenmitglied der Architektenkammer Keyseri in der Türkei geworden. Er starb zu Hause, wo ihn seine Frau in den letzten Jahren gepflegt hat. Nach mehreren Schlaganfällen war er halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen, jedoch bis zum Schluss ansprechbar gewesen, sagte sein Sohn der FAZ: „Er hatte ein langes, erfülltes Leben.“ Eines ist den Gebäuden Günter Behnischs immer gemeinsam: Er entwickelte seine Grundrisse nie von außen, immer von innen mit einem offenen, der Kommunikation dienenden Mittelpunkt, um den die funktionalen Bereiche gruppiert wurden und so einen vielgliedrigen, von optischer Transparenz und Öffnung nach außen geprägten Baukörper bilden. Große Kubaturen werden aufgelöst in Linien und Flächen, geschlossene Mauern weichen filigran gegliederten Glasfassaden, das „große Ganze“ wird fragmentiert zugunsten der Vielfalt. Seine Entwürfe orientierten sich in erster Linie nicht an Formen und Fassaden (deshalb war für ihn die neuere Berliner Architektur überwiegend „Angeberei“), vielmehr strebte er Räume und Raumfolgen an, welche die Nutzer mit ihren Aktivitäten „besetzen“ können.
In bester moderner Tradition suchte er für lebendig interpretierte Bedürfnisse das richtige Maß zu finden, wie er es besonders für Schulen forderte: „Heiter und ernst, geordnet und neu geordnet, individuell und eingefügt ins Ganze.“ Behnisch kannte nach eigener Aussage weder die Zahl seiner Auszeichnungen noch die Zahl errungener Architekturpreise, darunter wiederholt der Deutsche Architekturpreis. „Die Preise sind wichtig für meine Mitarbeiter, die sich jahrelang mit einem Projekt beschäftigen, und für die Eigentümer“, sagte er einmal, „nicht für mich“. Schön sei es, als Architekt einiges mitbestimmen zu können. Und das hat er getan.