„eine Kriegstrompete“
4. August 2020 von Thomas Hartung
Als BILD nach der Wahl Benedikts XVI. am 20. April 2005 titelte: „Wir sind Papst!“, stellte der Publizist Robert Leicht fest, dass das Blatt damit, sicher unbewusst, aus einer Schrift Luthers zitierte, verfasst in frühneuhochdeutscher Sprache. Darin brach er eindeutig mit der römisch-katholischen Kirche und bezeichnete den Papst – Leo X. aus dem Hause Medici – als Antichrist, der die Kirche in eine erbärmliche Gefangenschaft geführt hat. Die Missstände, die unter seiner Herrschaft eingerissen sind, hätten das gesamte Kirchenwesen verdorben. Stattdessen formulierte er den Grundsatz des Priestertums aller Getauften: „denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof oder Papst geweihet sei…“ Damit wurde die Zweiteilung der Christenheit in Klerus und Laien faktisch aufgegeben.
Die Schrift war nur eine von vieren Luthers aus dem Jahr 1520, die große Bedeutung erlangten. Doch „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ war die erste, in der er seine theologischen Erkenntnisse in praktische Reformvorschläge umsetzte. Der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann bezeichnet die „Adelsschrift“ als „Manifest der Reformation“: nicht schon mit dem Thesenanschlag von 1517, sondern erst hier sei von Luther ein Entwurf zur Neugestaltung von Kirche und Gesellschaft vorgelegt worden.
Der provokante Ton schockierte; der Mitreformator Johannes Lang nannte das Buch eine „Kriegstrompete“. Luther gab zu, dass er die Schrift in prophetischer Radikalität verfasst habe, ohne Rücksichten zu nehmen. Dabei bietet sie in ihrer Offenheit und Unbestimmtheit Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Reformationstypen, wie Kaufmann feststellt: „städtische oder bäuerliche Gemeindereformationen; Ratsreformationen; ritterschaftliche Reformationen; territorialfürstliche und Königsreformationen“. Der Grundsatz vom Priestertum aller Getauften hat im Spektrum der evangelischen Kirchen immer wieder Neuaufbrüche angeregt, ist er doch vieldeutig: besitzen Priester einen allgemeinen Anspruch oder partizipiert die Allgemeinheit in Form aller Menschen oder fließen beide Varianten zusammen?
Auch der Titel gibt zahlreiche Fragen auf: Wie sieht die Besserung des christlichen Standes aus? Um welche Art von Besserung geht es, welche Schritte sind dafür notwendig, wer soll diese Schritte vollziehen (tatsächlich der Adelsstand?) und warum? Dessen ungeachtet war die innerhalb weniger Wochen verfasste und am 5. August 1520 in der relativ hohen Auflage von 4000 Exemplaren erschiene Schrift nach drei Tagen vergriffen. In kurzer Folge schlossen sich 14 Nachdrucke an, die Gesamtauflage soll bei 68.000 Exemplaren gelegen haben – der erste Bestseller vor der Lutherbibel.
„wie er sich kirchlichen Neubau vorstellt“
Luthers Beweggründe, diese Schrift im Jahr 1520 zu verfassen, verortet Karlheinz Blaschke schlüssig in drei Bereichen: Erstens war Luthers innerer Reifeprozess, der ihn zu neuen Erkenntnissen über den christlichen Glauben und einer kritischen Haltung gegenüber der römischen Kirche brachte, weit vorangeschritten. Zweitens erfuhr Luther von Reichsrittern und Humanisten, mit denen er sich in der Reflexion von weltlichen und national-patriotischen Problemstellungen verbunden fühlen durfte, Zustimmung und Ermutigung zur offenen Stellungnahme. Drittens dürften die damals aktuellen Bestrebungen, den Prozess gegen Luther als Ketzer weiter voranzutreiben, eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ein konkreter Schreibanlass kann allerdings bis heute nicht eindeutig benannt werden, im Gegensatz zur Zueignung: Er widmete das Werk einem Kollegen an der Wittenberger Universität, Nikolaus von Amsdorf, der 22 Jahre später als Bischof von Naumburg der erste lutherische Bischof im deutschsprachigen Raum war.
Luthers Adelsschrift gliedert sich in drei größere Sinnabschnitte: Am Bild von drei Mauern, die das Papsttum (die Romanisten) errichtet habe, erläutert Luther zunächst das Ausbleiben von notwendigen Reformen: die erste Mauer bildet der Anspruch des Papstes auf die Oberherrschaft über die weltlichen Obrigkeiten, dem Luther energisch widerspricht. Das Monopol normativer Schriftauslegung und die Überordnung des Papstes über ein allgemeines Konzil bilden Mauer zwei und drei. Theologischer Kern der Schrift ist die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften. Dass Päpste irren können, lässt Luther ihre Schlüsselgewalt bestreiten.
Daran schließt sich eine Darstellung dreier Bereiche an, die im Rahmen eines Konzils behandelt werden müssten: die Selbstherrlichkeit des Papstes, die große Zahl der Kardinäle und der enorme Umfang des päpstlichen Hofes, dem Luther dann noch einen Exkurs über den römischen Rechtsmissbrauch folgen lässt. Beide Teile fügen sich zu einem zweiten Sinnabschnitt der Schrift zusammen. Im dritten Abschnitt bringt Luther vor, „was wol geschehen mocht und solt von weltlicher gewalt odder gemeinen Concilio.“ Er führt dabei 26 Verbesserungsvorschläge an, von denen sich zwölf auf genuin römische Missstände beziehen und die folgenden die Christenheit im Allgemeinen betreffen. Der 27. Punkt kritisiert zahlreiche weltliche Übel. In seinen Forderungen und seiner Kritik am Luxus wird er sehr konkret: Er fordert die Einschränkung des ausuferndes Klosterwesens, die Abschaffung des Zölibats, eine Neuordnung des kirchlichen Sozialwesens und eine stärkere Schriftorientierung im Theologiestudium. „Der erste volkssprachliche Text Luthers, der zu erkennen gibt, wie er sich kirchlichen Neubau und den Aufbau einer deutschen Nationalkirche vorstellt“, befand Thomas Kaufmann in der FAZ.
„notwendiger Quell der Verunsicherung“
Luthers Adelsschrift und sein Verständnis vom Allgemeinen Priestertum berührten, ja symbolisierten zentrale Fragen und Probleme der damaligen Zeit. Sie bewegten sich im Spannungsfeld von Freiheit und Begrenztheit, Recht und Pflicht, Macht, oder besser Vollmacht, und Ohnmacht, weltlichem und geistlichem Handeln, Ordnung und Anarchie, Mittel- und Unmittelbarkeit – und nicht zuletzt von Hierarchie und Egalität, Gleichheit und Ungleichheit. So formulieren der Memminger Kürschnergeselle Sebastian Lotzer und der Prädikant Christoph Schappeler 1525 das zentrale Dokument des Bauernkrieges, die „12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben“. War es in den meisten regionalen Vorläufern noch allein das „alte Recht“, auf das man Bezug nahm, so bemühen die 12 Artikel nun das „göttliche Recht“.
Damit knüpfen sie ausdrücklich an das reformatorische Verständnis an: Göttliches Recht ist biblisches Recht, also das Recht des Evangeliums. Explizit benennt der erste Artikel des Memminger Programms das protestantische Gemeindeprinzip und fordert die Wiederherstellung des Rechts der freien Pfarrerwahl durch die Gemeinde. Der selbst gewählte Pfarrer soll das Wort der Bibel „lauter und klar predigen, ohne allen menschlichen Zusatz“. Aber auch die ausschließlich den wirtschaftlichen und sozialen Problemen gewidmeten Artikel zeigen die Präsenz des reformatorischen Gemeindegedankens in seiner ganzen politischen Dynamik. So soll die Verwaltung des Kirchenzehnten der Gemeinde übergeben werden, ebenso wie die Allmenderechte sowie die Nutzungsrechte am Fischfang, an der Jagd und am Wald, die künftig „der ganzen Gemeinde anheimfallen“ sollen, wie es Artikel 12 sagt.
Was bedeutet es für das Verständnis von Kirche, Gemeinde und Gemeinschaft der Gläubigen, wenn Luthers Verständnis vom Allgemeinen Priestertum konsequent, ja radikal zu Ende gedacht wird? Der Zugang von Frauen zur Priester- beziehungsweise Bischofsweihe, wie jüngst selbst die Synodalversammlung der katholischen Kirche diskutierte? Kardinal Walter Brandmüller kritisierte in Die Tagespost prompt den „synodalen Weg“ als offenkundigen Versuch, „der Kirche säkulare, demokratische Strukturen“ aufzuzwingen, der „sich im Grunde gegen das Wesen der Kirche“ richte. Es sei „ebenso bezeichnend wie befremdend zu sehen, wie wenig die Verfasser unseres Textes verstanden haben, dass die Kirche Jesu Christi weder Monarchie noch Demokratie oder etwas ähnliches ist. Sie ist ein mit menschlichen Kategorien nicht adäquat zu fassendes Mysterium des Glaubens, über das selbst die Heilige Schrift nur in Bildern zu sprechen vermag.“
Das recht unscharfe Bild der „neuen“ Kirche, das Luther in der Adelsschrift zeichnete, changiere zwischen Momenten einer zentralistischen landesherrlichen oder gar kaiserlichen, einer synodal verfassten und einer ganz an den Erfordernissen und Realitäten der Ortsgemeinde orientierten kongregationalistischen Verfassungsstruktur, weiß dagegen Kaufmann. In der Geschichte des Protestantismus habe das allgemeine Priestertum tiefgreifende Wirkungen hinterlassen. In den Gemeinden wachten Aufseher aus dem „Laienstand“ über die Verwendung der Gelder aus dem „gemeinen Kasten“ und wirkten als Organisatoren des Schulwesens und der Armenversorgung. An der Wahl der Pfarrer beziehungsweise der Amtseinsetzung waren „Laien“ kraft des allgemeinen Priestertums beteiligt. „Laien“ aus dem Fürsten-, Adels- oder Ratsherrenstand leiteten die Kirche. Auf den Kirchentagen noch unserer Tage melden sich, wenn irgendwo, evangelische Nichtkleriker zu Wort.
Im Priestertum aller Gläubigen hat der Protestantismus das Prinzip seiner permanenten Selbstkritik bei sich – ein notwendiger Quell der Verunsicherung, erklärt Kaufmann. „Das Priestertum aller Gläubigen steht für eine egalitäre und partizipatorische Religion, die allen Menschen beiderlei Geschlechts gleiche Rechte eröffnet und den ‚Professionellen’ Grenzen steckt, den Popen, Pfaffen, Mullahs, Oberkirchenräten, den Theologieprofessoren und Berufsreligionsdeutern, den Klerikalfunktionären dieses Äons“. In Luthers „Adelsschrift“ bräche dies erstmals auf. Mit diesem Text begann ein Projekt der Umformung des bestehenden Kirchen- und Gesellschaftswesens, das nach und nach das Gesicht Europas verändern sollte.