„Stalins Frankenstein“
19. Juli 2020 von Thomas Hartung
Kann man einen Menschen mit einem Affen kreuzen? Allein die Frage jagt den meisten einen kalten Schauer über den Rücken. Wenige wissenschaftliche Themen wecken ähnlich schwere ethische Bedenken und entfachen hitzigere Diskussionen zwischen Darwinisten und Kreationisten. Doch auch dieses heikle Thema ist dem ehernen Gesetz der Wissenschaft unterworfen: Was erforscht werden kann, wird früher oder später erforscht. Stets taucht zu dem Thema derselbe Name als Erstes auf: Ilja Iwanowitsch Iwanow, Professor an der Universität Charkiw (Ukraine) und hochrangiger Wissenschaftler am Zoologischen Institut in Moskau. Am 20. Juli vor 150 Jahren wurde er in Schtschigry bei Kursk geboren.
Seine Familie sowie seine Kindheit und Jugend liegen, nicht zuletzt seinem Lebens- und Karriereende geschuldet, im Dunkeln. Verbürgt ist, dass er in Charkow studierte und bereits 1910 einen Vortrag auf dem Internationalen Zoologenkongress in Graz zur Kreuzung von Menschen und Affen hielt. Von 1917 bis 1921 und von 1924 bis 1930 war er am Staatlichen Institut für experimentelles Veterinärwesen tätig und arbeitete in den Jahren dazwischen in einer Forschungsstation, die sich mit der Züchtung und Fortpflanzung von Haustieren befasste. Seine ersten praktischen Erfolge erzielte er bei Pferden. Iwanow befruchtete edle Stuten mit dem Sperma von ebenso sorgfältig ausgewählten Hengsten, um ein Superpferd zu kreieren. Ein bedeutsames Unterfangen in einer Zeit, da die Streitkraft der Kavallerie noch nicht von Panzerdivisionen abgelöst worden war, und zugleich wegbereitend für die künstliche Befruchtung, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Die von ihm dazu entwickelten Methoden bei landwirtschaftlichen Nutztieren waren in der Sowjetunion weit verbreitet.
Iwanow ging aber über die ursprüngliche Forschungsfrage hinaus und kreuzte unterschiedliche Tierarten miteinander. Die Ergebnisse blieben zwar hinter den Erwartungen zurück, allerdings erwiesen sich Iwanows Methoden der Befruchtung durchaus als erfolgreich und breit einsetzbar. Es gelang ihm, ein Zebra und einen Esel zu etwas zu kreuzen, das er „Zebroid“ nannte. Und einen Wisent und eine Kuh vermählte er zu einem „Zubron“. Nach und nach setzte Iwanow seine Arbeit mit anderen Tieren fort, die zoologisch gesehen etwas weiter auseinanderlagen. Er kreuzte Antilope und Kuh, Maus und Ratte, Maus und Meerschweinchen. Das Tor zum ultimativen Experiment stand nun weit offen.
„sehr unerfreuliche Folgen“
Das war gedacht als Test auf Darwins Hypothese, dass die Schimpansen die nächsten Verwandten des Menschen seien. Pläne, zum Experiment bereite Frauen mit Schimpansensperma zu befruchten, scheiterten mangels männlicher Schimpansen. Um diese zu beschaffen, nahm er 1926 Kontakt zu Rosalía Abreu auf, die seit mehr als 20 Jahren auf Kuba eine Gruppe von Schimpansen hielt. Sie war die Tochter eines wohlhabenden kubanischen Plantagenbesitzers und weltweit die erste Tierhalterin, der es gelang, Schimpansen über deren gesamte Lebenszeit in Gefangenschaft zu halten und zu züchten. Ihre Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die erfolgreiche Haltung von Großen Menschenaffen in den Zoologischen Gärten weltweit. Doch sie zog sich aus dem Vorhaben zurück nach einem an sie gerichteten Drohbrief des Ku-Klux-Klans, der die „Verunreinigung reinrassiger weißer Frauen“ fürchtete.
Dann lud das renommierte französische Institut Pasteur Iwanow nach Westafrika ein und stellte ihm frisch gefangene Affen zur Verfügung: Das Institut unterhielt im damaligen Französisch-Guinea eine Forschungseinrichtung, die sich auf Menschenaffen spezialisiert hatte. Iwanow erhielt die Erlaubnis, seine Forschung dort durchzuführen, und warb die finanziellen Mittel für die Reise im eigenen Land ein. Auch das menschliche Sperma organisierte Iwanow selbst. „Es wurde von einem Mann gewonnen, dessen Alter nicht genau bekannt ist. Auf jeden Fall nicht älter als 30“, schrieb er in sein Notizbuch, aus dem sich der Ablauf des Experiments rekonstruieren lässt. Spermien in die Vagina eines Schimpansenweibchens zu bekommen, erwies sich als schwierig: Schimpansen sind kräftiger als Menschen und schlagen um sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Am 28. Februar 1927 im botanischen Garten von Conakry, einer Stadt im westafrikanischen Guinea, wollte er es mit der Unterstützung der russischen Akademie der Wissenschaften, des US-amerikanischen Vereins für den Fortschritt des Atheismus und des Instituts Pasteur dennoch wissen.
Wenn die örtliche Bevölkerung vom Experiment erfahre, könne das „sehr unerfreuliche Folgen“ haben, notierte er. Nur sein 22-jähriger Sohn stand ihm zur Seite, er hieß ebenfalls Ilja. Einmal sollte ihn ein Schimpanse so heftig prügeln, dass er ins Krankenhaus musste. Irgendwie schafften die Iwanows es offenbar, die Katheter mit den Spermien einzuführen. Nun mussten sie warten. Vermutlich war ihnen die politische Sprengkraft ihres Experiments bewusst. Ein Affenmenschenbaby würde die Lehre der Bibel widerlegen, dass dem Menschen eine Sonderstellung in der göttlichen Schöpfung zustehe. So hoffte ein Sowjetfunktionär, das Experiment könne Argumente im Kampf gegen die christliche Schöpfungslehre liefern, ja die Arbeiterklasse von der „Macht der Kirche befreien“ – knapp zehn Jahre nach der Oktoberrevolution waren in der Sowjetunion viele Arbeiter und Bauern religiös. Außerdem wäre das Affenmenschenbaby nicht nur der letzte Beweis für Charles Darwins Evolutionstheorie, sondern zugleich ein Prestigeerfolg für die Wissenschaft der Sowjetunion in Konkurrenz zu den Kollegen im Westen.
Das Experiment schlug fehl: Nach wenigen Wochen musste Iwanow einsehen, dass die Schimpansenweibchen nicht trächtig waren – er weiß noch nicht, dass diese Kreuzung durch die unterschiedliche Chromosomenanzahl von Menschen und Affen genetisch unmöglich ist. Er gab jedoch nicht auf und versuchte, das Experiment erneut zu spiegeln: mit menschlichen Frauen und Affensperma. Er fragte den Gouverneur von Guinea – damals Teil einer französischen Kolonie -, ob er in den örtlichen Krankenhäusern heimlich Versuche an Einwohnerinnen durchführen dürfe. Der Franzose lehnte ab. Iwanow nahm einige Affen mit zurück in die Sowjetunion, vielleicht mit dem Plan, seine Experimente mit fortschrittsbejahenden Sowjetbürgerinnen fortzusetzen. Die meisten Primaten starben jedoch bei der Überfahrt. So scheiterte ein renommierter Biologe mit einem ethisch fragwürdigen Experiment.
Wissenschaftler ohne Gewissen?
An dieser Stelle könnte die Geschichte von Iwanow und seinen Affenmenschen schon enden. Denn 1930 fiel Iwanow einer Säuberungswelle zum Opfer und wurde wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ nach Kasachstan verbannt. Mit seinen Experimenten hatte das wohl nichts zu tun: Unter Stalins Herrschaft verhaftete die Geheimpolizei den Großteil der Eliten – oft völlig grundlos. Zwei Jahre später, am 20. März 1932, starb er in Alma-Ata. Er galt als Wissenschaftler ohne Gewissen, seine Arbeit als Verirrung – zwar zu Unrecht, wie Spezialisten auf dem Gebiet der Fruchtbarkeitsforschung wissen. Doch interpretiert wird er als Monster.
Denn das Experiment sollte der Ausgangspunkt für eine wilde Verschwörungstheorie werden: Im Auftrag von Sowjetdiktator Stalin habe er Affenmenschen als Arbeiter oder Krieger gezüchtet und dazu ein geheimes Labor an der Schwarzmeerküste betrieben: Iwanow, der „Rote Frankenstein“. Stalin hatte viel davon gesprochen, die Gesellschaft und jeden einzelnen Einwohner umzubauen, umzugraben, umzukrempeln. Waren Iwanows Kreuzungen Teil von Stalins Plan zur Schaffung des „neuen Menschen“? Tatsache ist, dass Iwanow den Segen von Nikolai Petrowitsch Gorbunow hatte, damals Ranghöchster an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Tatsache ist auch, dass er am grundsätzlichen Gelingen des Experiments festhielt. Ob er aber seine Forschung in die sowjetische Stadt Sochumi am Schwarzen Meer verlagerte, wird bis heute bestritten.
Als gesichert gilt, dass Iwanow eine Gruppe Affen nach Sochumi brachte, Weibchen und Männchen. Danach verschwimmt sein Treiben wieder im Nebel der Geschichte. Ließ er tatsächlich menschliche Eierstöcke in ein Weibchen transplantieren? Und stimmt es, dass er vergeblich versuchte, es künstlich zu befruchten? Bis heute sind die Antworten unklar. Dies gilt auch für den nächsten Schritt: die künstliche Befruchtung von Frauen mit Affensperma. Historische Dokumente belegen anscheinend, dass Iwanow öffentlich nach Freiwilligen suchte. Laut historischen Aufzeichnungen meldeten sich daraufhin tatsächlich fünf Frauen, und von diesen „Heldinnen des Vaterlandes“ wurden sogar Fotos verbreitet.
In Sochumi lernten die Wissenschaftler bald, die Affen im Schwarzmeerklima und in Gefangenschaft am Leben zu halten. Sie testeten an den Primaten Antibiotika sowie Impfstoffe gegen Tetanus und Diphtherie. Gemeinsam mit ihren Kollegen vom Raumfahrtprogramm erforschten sie, wie Primaten Schwerelosigkeit verkraften. Iwanow arbeitete dort allerdings nie. Bei seinem einzigen Besuch im Sommer 1928 waren nicht einmal Primaten vor Ort. Ein weiteres Fragezeichen. Doch noch immer tuschelten die Einwohner der Sowjetunion über Stalins Geheimlabor.
Als 1989 die Sowjetunion zusammenbrach und sich ehemals geheime Archive öffneten, wühlte sich der Science-Fiction-Autor Jeremei Parnow durch die Akten und fand angeblich belastendes Material. „Ein Blick in die geheimen Dokumente würde selbst die Herzen der härtesten Kerle in Angst versetzen“, schrieb er in einem Text, der in einer russischen Zeitschrift namens Medizinische Mysterien erschien. Er galt rasch als Experte für das Sochumi-Institut und raunte in Fernsehsendungen über das geheime Forschungsprogramm, dessen Ziel darin bestehe, „dumme, gehorsame Sklaven hervorzubringen, die schwere Arbeit verrichten.“ Die angeblich erstrebte Kreatur nannte er „Yahoo Sovieticus“, in Anspielung auf Jonathan Swifts Romanklassiker „Gullivers Reisen“, in dem „Yahoos“, menschenähnliche Wesen, die Sklaven von pferdeähnlichen Wesen sind.
Vermutlich setzte Parnow auch das Gerücht in die Welt, dass Stalin höchstpersönlich in einem Brief ans Politbüro Affenmenschenkrieger bestellt habe. Das russische Staatsfernsehen drehte die Dokumentation „Roter Frankenstein“, die auf einem gleichnamigen Buch des Journalisten Oleg Schischkin basiert. Die Doku kam zu dem Schluss, dass Iwanow keine Affenmenschen gezüchtet hatte. Und doch machte sie die Verschwörungstheorie eher bekannt, als sie einzudämmen. Die meisten Biologen bezweifelten zwar, dass Affen und Menschen überhaupt überlebensfähige Nachkommen zeugen können – über Versuche nach Iwanows Experiment in Afrika ist nichts bekannt. Aber den Boulevardblättern aus den USA, Großbritannien, Italien und Deutschland war das egal. Aus Iwanows Notizen, den Briefen der freiwilligen Probandinnen und Parnows Science-Fiction schufen sie steile Schlagzeilen. Bild etwa titelte: „Irrer Geheimplan enthüllt: Stalin züchtete Affen-Menschen für den Krieg“. So wurde Ilja Iwanow Jahrzehnte nach seinem Tod noch einmal weltberühmt. Nicht wegen seiner zweifellos vorhandenen Verdienste für die Biologie, sondern als Stalins „roter Frankenstein“.
Doch inzwischen ist klar, dass sich derartige Experimente meist nicht nur einem dubiosen Wissenschaftler, einem zweifelhaften Regime zuschreiben und in der fernen Vergangenheit verorten lassen. Bereits 1717 riet Jean Zimmermann in Paris zur Produktion einer Arbeiterschaft ein „leichtes Mädchen“ von einem Orang-Utan bzw. ein Menschenaffenweibchen von Männern schwängern zu lassen. 1889 schlug der Rassismustheoretiker Georges Vacher de Lapouge in Montpellier vor, durch solche Kreuzungen „gelehrige Arbeiter – Halbmenschen – herzustellen“. Er hielt dies für möglich, denn „der Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen ist geringer als z. B. der zwischen Makaken und Langschwanzaffen. Und diese Affen aus unterschiedlichen Familien haben schon mehrfach erfolgreiche Kreuzungen hervorgebracht.“
Der niederländische Autor und Historiker Piet de Rooy schildert 2015 in seinem Buch „De Nederlandse Darwin“ die Geschichte von Herman Marie Bernelot Moens (1875 – 1938). Der Anthropologe und Biologielehrer hatte in Deutschland studiert und war den Theorien von Ernst Haeckel zugetan, einem renommierten deutschen Zoologen, der zu Zeiten Bismarcks für den Darwinismus und gegen den Kreationismus der Kirche kämpfte. Laut dem „Biografisch Woordenboek van Nederland“ wollte Moens Anfang des 20. Jahrhunderts einen gemeinsamen Nachkommen von Mensch und Affe schaffen, und Haeckel hielt einen Erfolg angeblich für möglich. Moens wollte damit der Evolutionstheorie handfeste Argumente liefern und warb öffentlich für sein Anliegen, erntete aber viel Empörung. In dieser Phase blieb sein Vorhaben 1908 anscheinend stecken.
„halb Mensch, halb Schimpanse“
Einen anderen Weg in dieselbe Richtung nahm ab 1930 Wladimir Petrowitsch Demichow. Der geniale russische Chirurg und Pionier der Transplantationschirurgie führte unter anderem die erste Herztransplantation bei einem Warmblüter, die erste Lungentransplantation und die erste Herz-Lungen-Transplantation in der Geschichte der Chirurgie durch. In der Öffentlichkeit wurde er vor allem durch Operationen bekannt, bei denen er Köpfe und Vorderkörper von und an Hunden verpflanzte. Seine Versuche wurden in der Sowjetunion als „Sputnik der Chirurgie“ bezeichnet. Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard, der 1967 die erste erfolgreiche Herztransplantation bei einem Menschen durchführte, hat 1960 und 1963 Demichows Labor besucht und betrachtete ihn als seinen Lehrer.
Der Science-Fiction-Autor Gert Prokop kreierte in der DDR der 70er Jahre den Begriff „Demichont“: einem todgeweihten Senior, der damit den Erbschleichereien verhasster Angehöriger ein Schnippchen schlagen will, wird der Oberkörper eines gesunden jungen Mannes transplantiert. Überhaupt erfreuten sich Gedankenspiele zur menschlichen Optimierung in der Science Fiction des Ostblocks großer Beliebtheit. Als namhaftester Ahne in dieser literarischen Tradition muss Alexander Beljajew gelten, der zu Lebzeiten Iwanows „Der Kopf des Prof. Dowell“ (1925) und „Der Amphibienmensch“ (1928) schrieb. In letzterem implantiert ein Chirurg seinem Sohn Kiemen, da der an einer unheilbaren Lungenkrankheit litt. So kann er nun an Land und im Ozean leben.
Unklar ist bis heute die Rolle von Erich Traub (1906 – 1985), einem deutschen Veterinärmediziner, der ab 1942 Laborchef in einem NS-Geheimlabor auf der Ostseeinsel Riems war und dessen Forschungen für die biologische Kriegsführung von Bedeutung waren. Er arbeitete von 1949 bis 1955 in Fort Detrick, wo die US-Army ihr Hauptquartier für biologische Kriegsführung hatte, sowie auf Plum Island, wo er mit mehr als 40 tödlichen Keimen arbeitete. Unter anderem wird seinen Aktivitäten auf Plum Island die Verbreitung der Lyme-Borreliose angelastet, er soll aber auch an der Züchtung von Mensch-Schwein-Hybriden im geheimen Labor der Insel beteiligt gewesen sein.
2018 offenbarte der Evolutionspsychologe Gordon Gallup von der New York State University, er wisse von einem „Affenmenschen“, der in den 1920er Jahren im Primatenforschungszentrum Orange Park in Florida geboren wurde: „Sie befruchteten ein Schimpansenweibchen mit menschlichem Sperma und behaupteten, die vollendete Schwangerschaft habe zu einer Geburt geführt“, wird der Forscher zitiert. Nach ein paar Tagen oder Wochen, so heißt es weiter, hätten sie das Neugeborene wegen moralischer und ethischer Bedenken getötet. Auch für den Evolutionsbiologen David P. Barash, Professor für Psychologie an der University of Washington, soll der Mensch der Zukunft halb Mensch, halb Schimpanse sein: „Die Schaffung eines Affenmenschen mittels Genmanipulation ist nicht nur denkbar, sondern könnte eine hervorragende Idee sein. Der Mensch wäre so gezwungen zu erkennen, dass er sich im Grunde nicht von Tieren unterscheidet. Das könnte helfen, dem grotesken Missbrauch von anderen Lebewesen auf der Erde ein Ende zu setzen.“ Mit anderen Worten: Zu einem der umstrittensten wissenschaftlichen Szenarien ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.