„Klang der Extreme“
6. Juli 2020 von Thomas Hartung
Allein bis 1996 griffen 38 Filme auf seine Musik zurück. Rechnet man Dokumentarfilme hinzu, waren es gar 46. Gleich zweimal bediente sich Woody Allen; die japanische Kultkomödie „Tampopo“, der vielleicht „witzigste Film aller Zeiten über die Verbindung von Essen und Sex“, so Hal Hinson in der Washington Post, nutzte genüsslich seine Motive. Luigi Visconti hat das Adagio seiner fünften Sinfonie in der Mann-Verfilmung „Tod in Venedig“ zum „Leidmotiv“ erhoben, selbst Hannibal Lecter mordete mit ihm: Gustav Mahler. Der österreichische Wirtssohn war nicht nur einer der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik, sondern auch einer der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit und als Operndirektor ein bedeutender Reformer des Musiktheaters. Am 7. Juli vor 160 Jahren wurde er im böhmischen Kalischt geboren.
In seinem Geburtsjahr verkauften seine Eltern ihren Gasthof und zogen in die mährische Stadt Iglau, wo Mahler den überwiegenden Teil seiner Jugend verbrachte. Sie sollte traumatisch werden. Er musste mit ansehen, wie der Vater die Mutter schlug, und erleben, wie sechs seiner vierzehn Geschwister früh starben. Sein älterer Bruder Isidor war bei seiner Geburt schon gestorben, so dass er mit dieser Fehlstelle zum ältesten Kind wurde. Als 15jähriger machte ihm besonders der Tod seines 13jährigen Bruders Ernst sehr zu schaffen. Zudem starben beide Eltern, als Mahler noch keine dreißig war, so dass er sich danach verpflichtet fühlte, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen, bis sie selbstständig waren. Mahler nahm seine Schwester Justine zu sich, die ihm bis zu ihrer Heirat viele Jahre den Haushalt führte.
Schon als Vierjähriger hatte er seinen ersten musikalischen Unterricht auf dem Akkordeon, kurz danach auch auf dem Klavier. Seine Begabung war so herausragend, dass er mit sechs Jahren, als er zur Schule kam, bereits selbst in der Lage war zu unterrichten. Mahler war von schneller Auffassungsgabe und von großer Wissbegierde. Er komponierte, befasste sich mit Literatur und interessierte sich für alle Musikrichtungen, die ihm in Iglau zu Ohren kamen. Elemente der jüdischen Musik, der Militärmusik oder der Volks- und Tanzmusik flossen mehrfach in seine späteren Werke ein. 1870 bekam er Gelegenheit, im Iglauer Theater erstmals als Pianist öffentlich aufzutreten. Auch im Gymnasium, an das er zwischenzeitlich gewechselt war, konnte er sein großartiges Können am Klavier zeigen.
1875 ging Mahler nach Wien, um am Konservatorium Klavier und Komposition zu studieren. Für den Abschluss am Gymnasium in Iglau lernte er nebenbei weiter und schaffte ihn schließlich 1877 im zweiten Anlauf: er war trotz seiner Intelligenz ein recht mittelmäßiger Schüler. Während seiner Studienzeit entstanden mehrere Kompositionen, außerdem begann Mahler mit der Arbeit an seiner Märchen-Kantate „Das klagende Lied“, die er nachträglich als Op.1 bezifferte. Zusätzlich besuchte er Vorlesungen in Germanistik, Philosophie und Bildender Kunst an der Universität. Auch bei Anton Bruckner saß er im Hörsaal, wenn dieser über Musikgeschichte referierte.
In seinen Konservatoriumsjahren arbeitete er an zwei Opern, die unvollendet blieben: „Die Argonauten“ nach einem Drama von Franz Grillparzer und „Rübezahl“. Mit einer öffentlichen Aufführung seines heute verschollenen Klavierquintetts, für das er zuvor wiederholt einen Konservatoriums-Preis bekommen hatte, beendete er erfolgreich sein Studium. Er hatte inzwischen Freundschaften mit Musikerkollegen, Literaten und Philosophen geschlossen und war allen neuen Einflüssen zugänglich. Das ging soweit, dass er sich sogar mehrere Jahre als absoluter Vegetarier ernährte.
„Es ist nun alle Not vorüber“
Bis 1891 sammelte er dann quer durch Europa Erfahrungen als Kapellmeister in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Kassel, Prag und Leipzig sowie die letzten drei Jahre als Königlicher Operndirektor in Budapest. Sein Anfangsverdienst am Kurtheater Bad Hall betrug 30 Gulden, das wären für gegenwärtige Verhältnisse etwa 240 Euro. Mahler konnte dieser Anstellung nichts abgewinnen, er konnte nur seinen Lebensunterhalt damit verdienen. Wie fatal ihm diese drei Monate waren, zeigte sich darin, dass er sie in Bewerbungen einfach unterschlug. Während der elf Jahre kristallisierte sich ein Muster heraus, dem er bis zu seiner Hochzeit folgen sollte: in jeder Stadt fand er eine „große Liebe“, die ihn musikalisch inspirierte und die doch mit jedem Wegzug endete. In Kassel etwa war es die Sopranistin Johanna Richter; in Leipzig schrieb er, berauscht durch seine Liebe zu Marion von Weber, der Frau eines Enkels von Carl Maria von Weber, und durch den Roman „Titan“ von Jean Paul in sechs Wochen die 1. Sinfonie, die er dann in Budapest uraufführte, und erste Lieder zu „Des Knaben Wunderhorn“, einer Textsammlung mit Volksdichtungen, die er sehr schätzte.
Während seiner Jahre als Kapellmeister dirigierte er zahlreiche Opern und hatte Gelegenheit, zwischendurch immer wieder Konzertaufführungen anderer Musiker zu erleben. Er wurde mit Richard Strauss bekannt und lernte bei einem Besuch in Bayreuth Cosima Wagner und ihren Sohn Siegfried kennen. Der Ruf als hervorragender Dirigent eilte ihm voraus, als er 1891 an das Stadt-Theater Hamburg ging. Seine Arbeit reformierte den Musiktheater-Stil nachhaltig und hatte weitreichende Auswirkungen auch auf andere Bühnen. Das Opernhaus erlangte dank seines Chefdirigenten den Status, eine der besten deutschen Operbühnen zu sein. Eine Hommage an die Stadt und an den Hamburger Michel findet sich in Mahlers „Auferstehungs-Symphonie“ wider. Spektakulär waren Mahlers Erst-Aufführung des „Te Deum“ in C-Dur von Anton Bruckner, das als dessen bedeutendstes Chorwerk in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches galt, sowie, in Anwesenheit des hochzufriedenen Komponisten, die deutsche Erstaufführung von Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“. Mit der auch im Alltag hochdramatischen Anna von Mildenburg ging er die leidenschaftlichste Liebesbeziehung vor seiner Ehe ein, die er jedoch mit seinem nächsten Wechsel wiederum ad acta legte.
Nach sechs Jahren beendete Mahler seine Hamburger Tätigkeit und konvertierte vom jüdischen Glauben zum Katholizismus. Er hat seinem Glauben nie besonders nahe gestanden, seine Weltanschauung war, wie an seinen Angaben und Texten zur 3. Sinfonie, zur 8. Sinfonie und zum Lied zu erkennen ist, eher eine naturreligiöse und philosophische. Allerdings befasste er sich auch intensiv mit dem Auferstehungs- und Erlösungsgedanken des Christentums, was unter anderem in der 2. und 3. Sinfonie deutlich wird. Dennoch befürchtete Mahler nicht zu Unrecht, dass seine jüdische Herkunft der Grund sein könnte, ihm weitere Aufstiegsmöglichkeiten zu versperren. „Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. – Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen.“
Dennoch wurde sein Anschreiben aus München abschlägig beantwortet. Das freute die Wiener Hofoper, die ihn kurz darauf zum Kapellmeister mit einem Jahreshonorar von 5000 Gulden machte. Mahlers erste Wiener Aufführung – er dirigierte den „Lohengrin“ von Richard Wagner – wurde ein sensationeller Erfolg. An Anna von Mildenburg schrieb er euphorisch: „Es ist nun alle Not vorüber! Ganz Wien hat mich geradezu mit Enthusiasmus begrüßt…“ In den nächsten zehn Jahren wird er seine an Richard Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks orientierte Vorstellung von Oper als Einheit von Musik und Darstellung verfeinern und eine Rollendarstellung durchsetzen, die situativ und psychologisch genau war und mit der sängerisch-musikalischen Gestaltung im Einklang stand. Während der Wiener Jahre reiste er durch ganz Europa, um zu dirigieren und seine eigenen Kompositionen – mit unterschiedlichem Erfolg – aufzuführen.
1899 engagierte er Selma Kurz, die erst 17-jährige, österreichische Sängerin an seine Wiener Bühne. Es dauerte nicht lange, und die beiden Künstler wurden, ungeachtet des Altersunterschiedes, ein Liebespaar. Da die Bestimmungen der Hofoper den Künstlern verboten, untereinander eine Ehe einzugehen, zog die Sängerin nach der kurzen Affäre ihre Karriere vor und blieb, von Mahler gefördert, als erfolgreiche Diva am Haus. Im Frühjahr 1901 erkrankte Mahler so schwer, dass eine Operation unumgänglich war. Danach widmete er sich wieder mehr seinen Kompositionen und ließ sich dazu an seinen Urlaubsorten kleine „Komponierhäuschen“ errichten, in denen er ungestört arbeiten konnte: Bereits seit 1893 in Steinbach am Attersee, seit 1901 in Maiernigg am Wörthersee und seit 1908 in Toblach in Südtirol. Deshalb wird er oft auch als „Sommerkomponist“ bezeichnet. Die Natur diente ihm als stärkste Inspirationsquelle.
Schicksalsjahr 1907
1901 lernte Mahler die 20 Jahre jüngere Alma Schindler kennen. Er verliebte sich in die schöne Frau, deren Elan als musikalisch aktive Künstlerin abgeklungen war und die es stattdessen vorzog, ihre Schönheit zu Markte zu tragen, um namhaften Künstlern eine Muse sein zu können. Nach kaum zwei Monaten verlobten sich beide. Die Verbindung erregte nicht nur wegen des Altersunterschiedes großes Aufsehen: Mahler war nur ein Meter sechzig klein, fiel eher durch seine hohe Stirn als durch ebenmäßige Züge auf, litt unter Hämorrhoiden und galt dennoch als dominant. Prompt legte er seiner Zukünftigen in einem zwanzig Seiten umfassenden Brief dar, was er von ihr erwartete, und stellte sie vor die Wahl, ihre eigenen Kompositionen einzustellen oder von der Heirat Abstand zu nehmen.
Alma willigt ein und lebt acht Jahre nur für ihren Mann und sein Werk: Als Muse, Managerin, Haushälterin und Mutter. Am 9. März 1902 fand die Trauung in der Wiener Karlskirche statt. Die Hochzeitsreise, die gleichsam eine Konzertreise war, führte das Paar nach Sankt Petersburg. Anschließend ging Mahler nach Maiernigg und stellte dort die im Jahr zuvor begonnen „Kindertotenlieder“ fertig. Seine schwangere Frau war sichtlich befremdet über diese Arbeit. 1902 wurde Mahlers Tochter Maria Anna geboren, 1904 seine zweite Tochter Anna Justine. Im Sommer desselben Jahres vollendete Mahler seine 6. Sinfonie.
Mahlers Ungeduld mit Personal, das seinen Ansprüchen nicht genügte, seine Tourneen als Dirigent eigener Werke, eine Pressekampagne gegen ihn mit antisemitischen Tendenzen und Streitigkeiten mit seinen Vorgesetzten bei Hof über häufige Abwesenheiten und die Programmgestaltung, deren Gipfel das Verbot der Uraufführung von Richard Strauss’ „Salome“ war, brachten schließlich beide Seiten 1907 dazu, Mahlers Wiener Amtszeit zu beenden. Die tiefgreifenden Konflikte zeigten sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass Mahler nicht offiziell verabschiedet wurde. Dennoch bekam er eine hohe Abfindung, die Kaiser Franz Joseph persönlich bewilligte.
Das Jahr sollte zu Mahlers Schicksalsjahr werden: neben dem Ende seines Wiener Engagements musste er im Sommer 1907 den Tod seiner älteren Tochter Maria verkraften, die an Scharlachdiphterie qualvoll starb, und unmittelbar darauf die Diagnose einer schweren Herzerkrankung, die eine rigorose Änderung der Lebens- und Arbeitsgewohnheiten des bislang robusten, sportlichen Mannes erzwang. Heute nimmt man an, dass immer wiederkehrende, nie wirklich auskurierte Mandelentzündungen die Ursache für seine Herzinnenhautentzündung war, der er letztlich erliegen sollte. Mahler nahm daraufhin zum 1. Januar 1908 eine Stelle an der Metropolitan Opera an. Hier ergänzte er seine Operntätigkeit durch ein breites Wirken als Konzert- und Tourneedirigent, zumal mit dem New Yorker Philharmonischen Orchester. Er kehrte im Sommer stets nach Europa zurück und schrieb noch zwei Meisterwerke: „Das Lied von der Erde“, eine Symphonie für Alt, Tenor und Orchester nach Dichtungen von Hans Bethges „Die chinesische Flöte“, die später seine 9. genannt wurde, und die 10. Symphonie.
„melancholisch-morbide Grundtönung“
Die entstand in der Auseinandersetzung mit seiner Ehekrise: Alma war eine Affäre mit dem Architekten Walter Gropius eingegangen. In einem Anfall rasender Leidenschaft bittet Gropius inständig Alma, alles zu verlassen und zu ihm zu kommen. Allerdings adressiert er den Brief nicht an die „Heißersehnte“, sondern an Gustav Mahler. Der öffnet nichts ahnend den Brief, seine Welt bricht zusammen. „Wahnsinn, fass mich an, Verfluchten! Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin! dass ich aufhöre zu sein, dass ich ver…“, schreibt er auf das Notenblatt der Partitur. Seine Gefühle leben in der Musik weiter, die Sinfonie pendelt zwischen Himmel und Hölle. Mahler konsultierte im holländischen Leyden sogar Sigmund Freud.
Im Januar 1911 gab Mahler seine letzten Konzerte in Europa, bevor ihn seine Krankheit immer mehr am Arbeiten hinderte. Er raffte sich noch einmal auf, am 21. Februar 1910 in New York ein Konzert zu dirigieren, und reist im April nach Paris, hoffend, dass ihm die Spezialisten des Pasteur-Instituts helfen können. Ein befreundeter Arzt empfahl Alma Mahler, mit ihrem Mann umgehend nach Wien weiterzureisen, da es keine Heilungsaussichten gäbe und Mahler jetzt gerade noch transportfähig sei. Die Reise wurde zu einem öffentlichen Ereignis. Unterwegs wurden Journalisten über den Zustand des im Sterben liegenden Künstlers informiert. Sechs Tage vor seinem Tod war der Künstler endlich in Wien angekommen. Am 18. Mai 1911 starb er und wurde auf dem Grinzinger Friedhof neben seiner geliebten Tochter begraben.
Nach Mahlers Tod heiratete Alma den Architekten Walter Gropius (1915) und später (1929), nach ihrer Scheidung von Gropius, den Dichter Franz Werfel und war Geliebte von Oskar Kokoschka. In ihren Memoiren schrieb sie, sie habe sich ihr Leben lang als „Mahlers Witwe“ gefühlt. Sie nannte ihn einmal ihren „Amokläufer”, weil er mit seinem musikalischen Temperament die ganze Welt auseinander nehmen wollte. Ein anderes Mal zeichnet sie das Bild des „vergessenen“ Kindes im Walde – des kleinen Gustavs, der furchtlos inmitten der Düsternis, versunken in sich selbst, auf seine Erlebnisse wartet. „Die melancholisch-morbide Grundtönung seiner Musik, zu der vielfache Einbeziehungen von Naturpoesie und volkstümlichen Zügen unvermittelt kontrastieren, wirken heute noch ergreifend. Mahlers Musik spiegelt das Lebensgefühl vieler Menschen seiner Zeit wider, geprägt ist sie durch Zerrissenheit, Unrast und Unruhe“, heißt es auf dem Portal judentum-projekt.
Er galt als neuer Musiker-Typus, ein Außenseiter als Böhme unter Österreichern, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt – zwischen 1933 und 1945 war er hierzulande mit einem völligen Aufführungsverbot belegt. Er habe den Glanz des Vergangenen noch einmal grandios aufleuchten lassen, den Schmerz über seinen Verlust und das Gefühl der Gebrochenheit im neuen Jahrhundert deutlich vorgestellt, befindet Axel Brüggemann auf dem Portal Klassik-Akzente: „Mahler wollte in der Musik über die Zukunft der Menschheit erzählen, als das etablierte Bürgertum noch gar nicht begriffen hatte, dass längst eine neue Zeit eingeläutet war.“ In der Welt ergänzt er: „Er hat eine Zwischenwelt von Traum, Psychoanalyse und Sehnsucht in den Klang der Extreme verpackt, ließ den Beelzebub zu Engelsstimmen lachen.“ Der Dirigent Rafael Kubelik sagte einst: „Beethoven bezeichnet man immer als Prometheus, er wollte den Menschen den Himmel bringen. Für die Zukunft sehe ich in Mahlers Werken diese Mission.“ Die Zeit wird zeigen, ob er Recht behält.