„Cary Grant der Ukraine“
30. September 2020 von Thomas Hartung
Als er 1937 seine erste Sozialversicherungskarte ausfüllte, gab er als zweiten Vornamen, in Anspielung auf seine Stimme, „Nebelhorn“ an – und hat das nie korrigieren lassen: Wolfgang Völz, seiner deutschen Synchronstimme, war es nur recht. Seine Paraderolle als schlurfender Kauz mit Knautschgesicht und Dackelblick hatte er sicher 1993 als „Mr. Wilson“ in „Dennis“, der ihm als Nachbarsjunge arge Streiche spielte. Und er ist Schöpfer mancher vielzitierten Bonmots, darunter „Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen“: Walter Matthau. Am 1. Oktober vor 100 Jahren wurde er als jüngerer von zwei Söhnen eines exiljüdischen Paares in New York geboren.
Sein Vater Milton Matthow, ein ukrainischer Ex-Priester, verließ die Familie, als Walter drei Jahre alt war. Seine Mutter Rose war eine litauische Näherin mit bescheidenem Einkommen, seine Kindheit galt als hart. In der Grundschule las er bei Versammlungen Gedichte vor und gehörte bereits als Elfjähriger zur Komparserie der jüdischen Theater an der 2nd Avenue in New York und spielte im Alter von 14 Jahren die Rolle des Polonius in einer Hamlet-Produktion. Er entschied sich, die Schreibweise seines Namens zu ändern, weil er Matthau eleganter fand. In dieser Zeit entwickelte sich auch seine später zur Sucht ausartende Leidenschaft für Sport und Wettspiele. Seine Spielverluste wird er mit 5 Mio. Dollar angeben; einmal setzte er sein gesamtes Jahresgehalt auf den Ausgang eines Baseball-Schauturniers.
Nach der High School versuchte er sich in unterschiedlichen Jobs – unter anderem als Eisverkäufer, Bodenreiniger, Box- und Baseballtrainer –, und verpflichtete sich schließlich während des Zweiten Weltkriegs bei der US-Luftwaffe, wo er mehrmals verwundet wurde. Nach dem Krieg profitierte Matthau von den großzügigen Ausbildungsstipendien, die die Regierung an ehemalige Soldaten vergab, studierte zunächst Journalismus und wechselte dann zu Erwin Piscators Dramatic Workshop. Zahlreiche bekannte US-Schauspieler wurden dort ausgebildet, seine Kommilitonen waren u.a. Rod Steiger, Tony Curtis oder Harry Belafonte. 1948 heiratete er Grace Geraldine Johnson und bekam mit ihr zwei Kinder. Im selben Jahr hatte er einen ersten Auftritt am Broadway, ab 1950 übernahm er Rollen im Fernsehen, bei dem damals kurze Stücke live aufgeführt wurden, was den Schauspielern ein hohes Maß an Können und Disziplin abforderte. 1954 wurde er mit dem „New York Drama Critics Award“ ausgezeichnet.
Mit Jack Lemmon zum Star
Sein Leinwanddebüt gab Matthau 1955 als „Bösewicht“ Stan Bodine in dem von und mit Burt Lancaster inszenierten Western „Der Mann aus Kentucky“. Später spielte er auch etwas differenziertere Figuren wie den Mel Miller in Elia Kazans Gesellschaftssatire „Das Gesicht in der Menge“ (1957). Wegen seiner unverwechselbaren Erscheinung und seiner speziellen Schauspielbegabung erwarb er sich den Ruf eines „scene stealers“, der den Hauptdarstellern auch in kleinen Szenen die Schau stehlen konnte. Nach seiner Scheidung von Grace Geraldine heiratete er 1959 erneut, diesmal die Schauspielerin Carol Grace, die ihm noch Sohn Charles schenkt, der ebenfalls Schauspieler wurde, sich aber auch als Regisseur und Produzent einen Namen machte. Mattau arbeitete in der Zeit für Alfred Hitchcock, aber auch an der Seite bekannter Kollegen wie Kirk Douglas („Einsam sind die Tapferen“, 1962) oder Cary Grant („Charade“, 1963) – Rollen, die ihn allmählich bekannt machten.
Den richtigen Kick erhielt seine Karriere aber erst, als der bekannte Bühnenautor Neil Simon ihm die Rolle eines mürrischen, jedoch liebenswerten Chaoten extra auf den Leib schrieb: Oscar Madison, den Mattau in der Komödie „Ein seltsames Paar“ bereits 1965 an der Seite von Jack Lemmon am Broadway spielt, bevor 1967 der gleichnamige Film entstand, der ihn zum Star machte und seine lebenslange Freundschaft mit Lemmon begründete. Die schnurrige Männer-WG war so erfolgreich, dass sie in den Sechziger- und Siebziger Jahren ihre Fortsetzung in einer gleichnamigen Fernsehserie fand. „Jeder Schauspieler“, sagte Matthau in einem Interview mit Time 1971, „sucht nach der Rolle, die seine Talente mit seiner Persönlichkeit verbindet. Oscar Madison war für mich diese Rolle, mein Plutonium. Alles, was danach geschah, begann für mich mit dieser Rolle.“ Für seine Rolle in Billy Wilders Komödie „Der Glückspilz“ erhielt er 1966 den Oscar als bester Nebendarsteller.
Fast hätte der exzessive Raucher seinen Durchbruch nicht mehr erlebt: In seinem Oscarjahr erlitt er einen schweren Herzinfarkt und wurde im Krankenhaus für einige Minuten bereits für tot erklärt. Matthau gab daraufhin das Rauchen auf und ging jeden Tag bis zu fünf Meilen zu Fuß, doch blieb er zeitlebens gesundheitlich angeschlagen. In den Folgejahren wurde das Duo Matthau/Lemon zu einem festen Gespann wie vor ihnen nur Laurel und Hardy und in der Dramaturgie als schmuddeliger Brummbär und akkurates Sensibelchen zum Kassengarant. In „Buddy Buddy“ und „The Front Page“ spielte sich Matthau zusammen mit Lemmon in die Spitze Hollywoods.
Neben Wilder setzten auch andere Regisseure auf das bewährte Komiker-Duo. So traten sie in den Filmen „Grumpy Old Men“ und „Grumpier Old Men“ auf – Neuauflagen des bewährten „Männer-WG“-Themas. Bis 1998 entstanden insgesamt zehn gemeinsame Filme, darunter „Extrablatt“, eine slapstick-geladene, bitterböse Satire auf Journalismus und Justiz und deren Verhältnis zu Geld, Ruhm und Macht, die, obwohl im Jahr 1929 angesiedelt, in Inszenierung, Inhalt, und Dialoge eindeutig auf die Watergate-Ära verwies. Matthau sagte in einem Interview: „Ich liebe Jack. Wäre ich eine Frau, hätte ich ihn geheiratet“. Wegen seiner knollennasigen, wülstig-runzeligen Physiognomie mit dichten Augenbrauen nannte er sich selbstironisch „Cary Grant der Ukraine“.
Ein schüchterner Musikliebhaber
Im Musicalfilm „Hello, Dolly!“ (1969) agierte Mattau unter der Regie von Gene Kelly neben Barbra Streisand, einem der Superstars dieser Ära, und spielte den „Halb-Millionär“ Horace Vandergelder, der nach allerlei Verwicklungen seine eigene Heiratsvermittlerin ehelicht. Matthau verstand sich bei den Dreharbeiten nicht mit Streisand und warf ihr „Größenwahn“ vor. Mit einer Produktionszeit von zwei Jahren und einem gigantischen Budget von rund 25 Millionen Dollar zählte der Streifen zu den aufwendigsten Produktionen der 1960er Jahre, spielte aber seine Produktionskosten nicht ein. Matthau, der sich als Charakterdarsteller empfand, missfiel es zunehmend, als Komödiant abgestempelt zu werden. Er trat zwar auch weiterhin regelmäßig in Filmen dieses Genres auf („Keiner killt so schlecht wie ich“, „Hotelgeflüster“, beide 1971), übernahm aber auch gezielt Rollen in ernsteren Filmen und Krimis. So trat er 1973 unter der Regie von Don Siegel in dem Actionthriller „Der große Coup“ in der ungewohnten Rolle eines glücklosen Bankräubers in Erscheinung und spielte im selben Jahr in „Massenmord in San Francisco“ einen Polizeidetektiv, der ein Bus-Massaker aufklären muss.
Seinen wohl bekanntesten Auftritt in einem Kriminalfilm hatte der 1,90 große Matthau 1974 in „Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 123“, in dem er als U-Bahn-Polizist mit der Entführung eines New Yorker Subway-Zuges konfrontiert wird und verzweifelt versucht, das Leben der Passagiere zu retten. Im selben Jahr stellte Matthau unter dem Namen Walter Matuschanskayasky in dem Katastrophenfilm „Erdbeben“ einen Trinker dar, der das titelgebende Erdbeben unbeschadet in einer Bar übersteht. Wenn er in Interviews darauf angesprochen wurde, antwortete er meist, dass dieser eigentlich sein richtiger Name sei, und schmückte die Auskunft oft noch mit Geschichten über eine angebliche Spionagekarriere seines Vaters aus. Er war bekannt dafür, dass er oft scherzhafte Geschichten erfand, die er aber ernst vortrug, vor allem wenn er in Interviews immer wieder die gleichen Fragen beantworten musste.
Nach einer Bypass-Operation 1976 nahm er sich nur wenig zurück. Zu seinen Glanzpunkten gehörten Herbert Ross‘ Komödie „Das verrückte California Hotel“ (1978) mit Jane Fonda, Roman Polanskis Abenteuerfilm „Piraten“ (1985) und seine Albert-Einstein-Verkörperung in Fred Schepisis Liebekomödie „I.Q. – Liebe ist relativ“ (1994). Und zweimal dreht er mit seinem Sohn: 1995 in der Truman-Capote-Verfilmung „Die Grasharfe“ sowie 1998 in „Papas zweiter Frühling“. In der Tragikomödie „Aufgelegt“ (2000), seinem letzten Film, legte Matthau einen vergnüglichen Leinwandtod hin und hinterließ drei unterschiedlich trauernde Töchter. Ziemlich genau drei Monate vor seinem 80. Geburtstag besiegelte ein zweiter Herzinfarkt nun sein reales Ende: In der Nacht auf den 1. Juli 2000 starb er in einem Krankenhaus in Santa Monica.
Er wurde in Los Angeles beerdigt; neben ihm fand sein langjähriger Freund Jack Lemmon, der knapp ein Jahr nach ihm verstarb, seine letzte Ruhestätte. Matthau lebte privat sehr zurückgezogen und bezeichnete sich selbst als schüchternen Menschen. Er war ein großer Liebhaber klassischer Musik. Im Laufe seiner bemerkenswerten, mehr als 50-jährigen Karriere in Film, Theater und Fernsehen hat er in nahezu 70 Werken mitgewirkt. Er konnte von Herzen „granteln“, ähnlich wie Hans Moser, ja abweisend sein bis zur Unhöflichkeit, und genoss die Rollen der kauzig-komischen Kratzbürste mit stoischer Mimik, über die viele noch heute ins Schwärmen geraten.