Der Vater des Kapitalismus
16. Juli 2020 von Thomas Hartung
Der Ex-Notenbankchef der USA, Alan Greenspan, fand es verblüffend, dass unsere heutigen Vorstellungen von der Wirksamkeit des Marktes und des freien Wettbewerbs im Wesentlichen schon in seinen Gedanken enthalten seien. Der indische Philosoph Amartya Sen bezeichnete seinen Beitrag für unser Verständnis dessen, was später Kapitalismus genannt wurde, als monumental und nannte seine Erkenntnisse bis zum heutigen Tag bedeutend. Ganz anders der US-Ökonom Murray Rothbard, für den er den theoretischen Unterbau für den Marxismus gebildet, die Fortschritte seiner Vorgänger negiert und die Wirtschaftswissenschaften auf den falschen Weg gebracht habe. Der so polarisiert, heißt Adam Smith und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. Am 17. Juli vor 230 Jahren starb er in Edinburgh.
Zuvor hatte er im Beisein einiger Freunde alle Notizen und Manuskripte verbrannt, um zu verhindern, dass er der Welt etwas Unfertiges überlässt. Sein Freund, der Philosoph David Hume, beschrieb ihn in einem Brief: „Sie werden in ihm einen wahrhaft verdienstvollen Mann finden, wenngleich seine sesshafte, zurückgezogene Lebensweise sein Auftreten und Erscheinungsbild als Mann von Welt getrübt hat.“ Er lebt nicht nur auf der 20-Pfund-Sterling-Note der Bank of England sowie gleich zwei Adam-Smith-Preisen zweier Ökonomie-Institutionen weiter, sondern vor allem in seinen Texten, die bis heute in vielen Wirtschafts-Studiengängen Pflichtlektüre sind.
Geboren am 5. Juni 1723 in Kirkcaldy in der schottischen Grafschaft Fife, hatte er eine enge Bindung zu seiner Mutter Margaret, mit der er bis zu ihrem Tod 1784 lebte: Vater Adam sen., ein Rechtsanwalt und Zollkontrolleur, war vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Im Alter von vier Jahren soll das schwächliche Einzelkind entführt, doch schon nach kurzer Zeit wieder nach Hause gebracht worden sein: Die Entführer hätten ihn bei der Verfolgungsjagd verloren. Er besucht die Burgh School in Kirkcaldy und studierte ab seinem 14. Lebensjahr Philosophie und Ökonomie – damals ein Teilgebiet der Moralphilosophie, das sich „Lehre vom richtigen Haushalten“ nannte. Zunächst blieb er drei Jahre an der Universität Glasgow, mit einem Stipendium weitere drei am Balliol College in Oxford. Die Atmosphäre im beschaulichen Oxford empfand er im Vergleich zu Glasgow als rückständig; unter seinen Kommilitonen hatte er kaum Freunde.
Nachdem er 1746 nach Kirkcaldy zurückgekehrt war, aber keine Anstellung fand, konnte er 1748/49 in Edinburgh eine Serie thematisch breit gefächerter öffentlicher Vorlesungen halten – damals eine Voraussetzung für eine Tätigkeit als Universitätsdozent. Zeitgenossen berichten über riesigen Andrang. Spätestens 1751 wurde er im Alter von nur 27 Jahren Professor für Logik an der Universität Glasgow und folgte 1752 als Professor für Moralphilosophie seinem Lehrer Francis Hutcheson nach. Das Fach deckte ein weites Spektrum von Theologie über politische Ökonomie bis hin zu Ethik ab. Smith‘s Unterrichtsniveau galt als hoch, er war einer der ersten, die statt Latein als Unterrichtssprache Englisch nutzen. In dieser Zeit freundete er sich mit Hume an: Als er in Oxford beim Lesen eines Buches von Hume erwischt wurde, hatte er dafür einen Tadel erhalten.
Professor und Privatlehrer
1759 erschien sein erstes großes Werk, die „Theorie der ethischen Gefühle“ („The Theory of Moral Sentiments“), das sich mit der menschlichen Natur und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft befasste und ihn rasch bekannt machte. Im Mittelpunkt steht die „Sympathie“ des Menschen – sie sei die moralische Begründung des Kapitalismus. Als Gefühl ermögliche sie erst die Bildung von Gemeinschaften und sichere so das Überleben. „Wie selbstsüchtig der Mensch auch immer eingeschätzt werden mag, so liegen doch offensichtlich bestimmte Grundveranlagungen in seiner Natur, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen lassen“, schrieb er.
Damit entpuppte er sich als Aufklärer und stellte sich gegen das etwas rohe Weltbild, das sich z. B. in Thomas Hobbes’ „Leviathan“ manifestiert. Die Fähigkeit der Selbstkritik, glaubte Smith, hält die egoistischen Züge im Zaum. Da diese Fähigkeit als Kontrollinstanz nicht ausreiche, forderte er Gesetze, die ein Ausufern der Eigenliebe in hemmungslose Selbstsucht verhindern sollen. Die Gesellschaft sollte aber auf keinen Fall das Streben nach persönlichem Wohlstand unterdrücken. Die Eigenliebe, die uns von der Geburt bis zum Grab begleite und ohne die freie Marktwirtschaft undenkbar wäre, sei ein positiver Charakterzug, eine Eigenschaft, die Achtung verdiene. Diese Theorie machte Smith schlagartig bekannt.
Vier Jahre später legte er seine Professur nieder und begleitete den Sohn des Duke of Buccleuch, Henry Scott, als Privatlehrer auf eine fast dreijährige Bildungsreise durch Frankreich und die Schweiz – der Job war finanziell lukrativer und brachte Smith eine lebenslange Rente von 300 Pfund Sterling jährlich ein. Die Reise lieferte ihm viele neue Erkenntnisse und vor allem Bekanntschaften, darunter mit Voltaire, Diderot und d’Alembert. Zugleich hatte er Muße zum Lesen und Schreiben – die ersten Entwürfe seines Hauptwerks fallen in diese Zeit. Die Reise musste 1766 abrupt abgebrochen werden, da der jüngere Bruder des Herzogs, der an dieser Reise teilnahm, plötzlich erkrankte und kurz darauf starb. Nach seiner Rückkehr nach Kircaldy schreibt er „Der Wohlstand der Nationen“ („An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“) fertig, das Buch erscheint 1776.
Zwei Jahre später beruft ihn Premierminister Lord Frederick North zum Zollkommissar von Schottland, das Amt übte er bis seinem Lebensende aus. Im Kampf gegen militante Tee- und Branntweinschmuggler soll er rigoros agiert haben: In Briefen ist überliefert, wie er das Militär zu Hilfe rief und zusammen mit seinen Kollegen an der Küste alte Schiffsrümpfe als Truppenstützpunkte einrichten ließ. Innerhalb von zwei Jahren gelang ihm die Sanierung des schwer maroden schottischen Geldwesens. Smith machte mehreren Frauen Heiratsanträge, die jedoch alle abgelehnt wurden, und so steckte er sein Geld in karitative Projekte und baute eine ansehnliche Privatbibliothek auf. Anekdoten berichten von einer vorwiegend geistigen Existenz: Er soll zeitlebens Selbstgespräche geführt haben und auch einmal im Schlafanzug durch Edinburgh gegangen sein. Drei Jahre vor seinem Tod wird er noch zum Lord Rector der Universität Glasgow ernannt. Er liegt auf dem Canongate Kirkyard in Edinburgh begraben, wo seit 2008 vor der St.-Giles-Kathedrale ein Denkmal an ihn erinnert.
„durch eine unsichtbare Hand geleitet“
Sein 900seitiges Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“, das Greenspan als eine der größten Errungenschaften der Geistesgeschichte pries, ist zunächst eine Art eklektische Enzyklopädie des ökonomischen Wissens der Zeit. Darin verhandelte Smith fünf Hauptthemen: neben den Rollen von Arbeitsteilung und freiem Markt auch Fragen der Verteilung, des Außenhandels und der Rolle des Staates. Mit seinen Ansichten vollzog er zunächst einen Paradigmenwechsel vom Merkantilismus, der typischen Wirtschaftsform zu Zeiten des Absolutismus, hin zum Liberalismus. War bis dahin vorrangiges Ziel, den Reichtum der herrschenden Fürsten vor allem durch den Export von Fertigwaren zu maximieren, um die stehenden Heere, aber auch den wachsenden Beamtenapparat und nicht zuletzt die Prunkbauten der Herrscher zu finanzieren, setzt Smith auf die Bedeutung freier Produzenten sowie die Rolle von Käufer und Preis.
Zunächst erklärt und rechtfertigt er den internationalen Handel. Mit der Theorie des absoluten Kostenvorteils beweist er, dass es sich für jedes Land lohnt, mit seinen Nachbarn Handel zu treiben, und wendet sich damit gegen die protektionistischen Wirtschaftsauffassungen seiner Zeit, die besagten, möglichst wenige Waren zu importieren, um die Produktion im eigenen Land nicht durch Konkurrenz aus dem Ausland zu gefährden. Für Smith bestimmt sich der Wert einer Ware durch die Arbeitsstunden, die zu seiner Produktion nötig waren. „Sie enthalten den Wert einer bestimmten Menge Arbeit, von der wir zum Zeitpunkt des Erwerbs annehmen, dass sie die gleiche Menge Arbeit enthält, wie das Gut, das wir erwerben.“ Durch den Wettbewerb des freien Marktes stimmt der Preis am Ende mit dem Wert der Ware überein – niemand kann mehr verlangen, als die Produktion der Ware ihn wirklich an Arbeit gekostet hat. Unterschiede im Preis einer Ware hängen also mit einer unterschiedlichen Produktivität der Länder zusammen.
Grundlegend war seine positive Beurteilung des menschlichen Erwerbsstrebens. Smith forderte, die Regulierung der Produktion dem Markt selbst zu überlassen. Aufgrund des Preises, das heißt durch die Verbraucher, solle entschieden werden, was produziert wird. Um die Bedürfnisse der Käufer optimal zu befriedigen, müsse ein Wettbewerb freier und rechtlich gleicher Produzenten herrschen. Nicht dem Wohl der Produzenten, sondern dem der Käufer sollte die neue Wirtschaftsordnung dienen, in die der Staat möglichst wenig eingreifen dürfe. Smith forderte die Abschaffung von Preis- und Lohnordnungen, von Zünften, Privilegien und Monopolen – also die Freiheit für alle Produzenten, Art und Umfang der Produktion selbst zu bestimmen (Freie Marktwirtschaft). Allerdings reicht die Liste der von Smith für gerechtfertigt erachteten Staatseingriffe von der Regulierung des Bankgeschäfts und der Kontrolle der Zinsen über Steuern zur Eindämmung des Alkoholkonsums bis hin zur Förderung der Kunst.
Das Ziel war eine dynamische Wirtschaftsordnung, angetrieben durch das „natürliche“ Erwerbs- und Besitzstreben des Menschen und die Konkurrenz der Produzenten. Der Wettbewerb würde für reelle Preise sorgen und eine stete Innovation erzwingen, das heißt eine Verbesserung der Produkte und Produktionsmittel, die Fortentwicklung der Arbeitsteilung – und damit des „Wohlstands der Nationen“: Der einzelne habe „weder die Absicht, das öffentliche Interesse zu fordern noch weiß er, wie sehr er es fördert … Er beabsichtigt nur seinen eigenen Gewinn, und er wird dabei, wie in vielen anderen Fällen, durch eine unsichtbare Hand geleitet, die ein Ziel befördert, das nicht Teil seiner Absichten war.“ Diese berühmt-berüchtigte Metapher, die die vielen Einzelinteressen zum Gemeinnutzen zusammenfügt, ist nun in Tatsachen erfahrbar, „auch wenn ihr Wirken in der Realität durch Interventionen so sehr abgelenkt wird, dass es kaum noch auffindbar ist“, meinte Ralf Dahrendorf schon 1984 in der Zeit.
Das Buch erlebte bis zur Jahrhundertwende neun Auflagen und wurde auch rasch ins Deutsche übersetzt, doch blieb seine Wirkung hier begrenzt. Hardenberg berief sich zwar gerne auf Smith, doch sah die deutsche Schule der Nationalökonomie in ihm den britischen Individualisten, der die Aufgaben des Staates verkannte, dessen Interessen deutsche Ökonomen näherstanden als der unsichtbaren Hand. Für Marx und Engels war der „ökonomische Luther“ ein „Inbegriff kapitalistischer Ideologie; sie priesen ihn, um ihn in der Kritik umso tiefer zu stürzen“, so Dahrendorf. Der Knackpunkt: Smith verteufelt nicht den Unternehmergewinn, sondern verteidigt ihn als lebensnotwendig. Denn weil ein Unternehmer auch künftig Gewinne erwirtschaften will, investiert er in Arbeit nicht aus Nächstenliebe dem Arbeitsuchenden gegenüber, sondern wegen seiner Gewinnziele. Er schafft keine Arbeitsplätze aus Mitgefühl, sondern im Hinblick auf seinen Gewinn, er denkt bei der Investition nicht ans Gemeinwohl, sondern nur an sein eigenes Interesse (self-interest). Diese Kopplung von Eigennutz und Wohlfahrt ist der entscheidende Gedanke der liberalistischen Wirtschaftstheorie.
Dennoch betrachtete Smith Fabrikanten und Kaufleute mit großer Skepsis, sah in ihnen zuweilen „Verschwörer“, die die Preise hochtreiben und die Löhne niedrig halten. So forderte er Gewerkschaften, denn der einzelne Arbeiter hat gegen diese „Kaste“ keine Chance. Sein Traum war ein sittlich reifer, moralischer Kapitalismus. „Die altruistische Forderung der utilitaristischen Ethik, nach der eine Handlungsweise gut genannt wird, deren Folgen geeignet sind, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl zu erreichen, wird bei Smith nicht um den Preis des Egoismus erreicht, sondern vermittels des Egoismus“, bilanziert Josef Bordat 2007 auf dem Webportal philosophieren. Der Grazer Volkswirtschaftsprofessor Heinz D. Kurz verweist vor allem auf Smith‘ Erkenntnis, dass eine Gesellschaft „zwar ohne Wohlwollen auskommen kann, die Vorherrschaft von Ungerechtigkeit sie jedoch letztlich zerstören muss“. Das klingt hochaktuell.