„Hilf mir, es selbst zu tun“
31. August 2020 von Thomas Hartung
Auf den ersten Blick haben Amazon-Chef Jeff Bezos, Architekt Friedensreich Hundertwasser, Schauspielerin Heike Makatsch, Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez und Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales gar nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten schon: sie alle sind Absolventen von Montessori-Schulen. So ganz falsch kann sie also doch nicht sein, die „Pädagogik vom Kinde her“, wie das reformpädagogische Experiment gern zusammengefasst wird. Seine Urheberin Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona als einziges Kind einer klassischen Bürgerfamilie geboren, die fünf Jahre nach der Geburt nach Rom umzieht.
Ihr Großonkel war der katholische Theologe und Geologe Antonio Stoppani, aus dessen Theorie zur Verbindung von Theologie und Naturwissenschaften Maria ihre „kosmische Erziehung“ entwickeln sollte. Schon in ihrer Schulzeit interessierte sie sich für Naturwissenschaften und besuchte daher – gegen den Widerstand ihres konservativen Vaters, eines Finanzbeamten – eine technische Oberschule. Nach ihrer Ablehnung für ein Medizinstudium studierte sie an der Universität Rom von 1890 bis 1892 zunächst Naturwissenschaften, bevor es ihr nach ihrem ersten Hochschulabschluss doch gelingt, Medizin zu studieren. Sie musste viel Kritik und Diskriminierungen über sich ergehen lassen, zum Beispiel durfte sie beim Sezieren der Leichen nicht mit Männern in einem Raum sein, was zur Folge hatte, dass sie abends und allein im Anatomiesaal arbeitete. Da sie den Geruch dort widerlich fand, soll sie kurzerhand einen Mann angeheuert haben, der abends mit ihr dort saß und Zigarre rauchte. Aufgrund ihrer Leistungen bekam sie verschiedene Stipendien, mit denen sie ihr Studium ganz alleine finanzierte.
Während des Studiums war Montessori als Assistentin, später Assistenzärztin an psychiatrischen Kliniken in Rom tätig. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde und interessierte sich für die nur notdürftig versorgten geistig behinderten Kinder. Von deren würdelosen und verwahrlosten Zustand tief bewegt, bemühte sie sich um Abhilfe. Überzeugt, dass die Behandlung der „Schwachsinnigen“ oder „Idioten“ kein medizinisches, sondern ein pädagogisches Problem ist, forderte die die Einrichtung spezieller Schulen für die betroffenen Kinder. Als sie kurz vor Ende ihres Studiums einen Vortrag hielt, dem auch ihr Vater lauschte, und donnernden Applaus erhielt, fanden beide wieder zusammen, denn er hatte das Medizinstudium seiner Tochter abgelehnt. Jahre später, zu Marias 30. Geburtstag, schenkte er ihr sogar ein Buch, in das er alle Zeitungsartikel über sie und ihre Arbeit eingeklebt hatte – es waren mehr als 200.
Geburtsstunde der Inklusion
1896 promovierte sie als eine der ersten Ärztinnen Italiens an der Universität Rom über „Antagonistische Halluzinationen“ im Fach Psychiatrie und ließ sich in einer eigenen Praxis nieder. Sie begegnet ihrem Kollegen Giuseppe Montesano – die Beziehung wird einen langen Schatten auf ihre Biografie werfen. Ihr erstes Kind hat Montessori abtreiben lassen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. 1898 bekommt sie mit Guiseppe unehelich ihren Sohn Mario und erhält 1899 vom italienischen Erziehungsminister den Auftrag, vor Lehrerinnen in Rom eine Vortragsreihe über die Erziehung geistig behinderter Kinder zu halten. Aus diesem Kurs ging die Scuola magistrale ortofrenica („Heilpädagogisches Institut“) hervor, die sie als Direktorin zwei Jahre leitete und für die sie spezielle didaktische Materialien zum Sprach- und Mathematikunterricht entwickelte. Montesano gehört zum Kollegium, beide gelten als Paar – obwohl Montesano schließlich eine andere Frau heiratet.
Er willigt ein, dass Mario seinen Familiennamen bekommt, verlangt dafür aber die Geheimhaltung der Existenz des Kindes. So wuchs Mario in einer Pflegefamilie auf und wurde von Montessori erst 1913 zu sich genommen. Erst als er über 40 Jahre alt war, bekannte sich Maria zu ihm als seine Mutter. Er diente ihr bis zu ihrem Tode als Sekretär. Ihr eigenes Kind nicht selbst erziehen zu können war vielleicht ein Grund, warum sie sich so sehr um die bestmögliche Erziehung aller Kinder bemühte. Hier ähnelt sie Rousseau, der seine Kinder ins Findelhaus brachte, um ungestört Bücher über Erziehung zu schreiben.
1901 verließ Montessori menschlich enttäuscht das Institut und nahm ein weiteres Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie auf. Am 6. Januar 1907 übernahm sie im neugegründeten Casa dei Bambini, eine Tagesstätte für Kinder aus sozial schwachen Familien, im römischen Arbeiterbezirk San Lorenzo die wissenschaftliche Leitung. Sie hatte beobachtet, dass die pädagogisch aufbereiteten Materialien den Kindern mit Behinderungen so sehr halfen, dass einige von ihnen genauso gut in der Schule abschnitten wie nicht Nichtbehinderte, die keine Förderung erhielten. „Warum sollten dann nicht auch diese normalen Kinder, wenn man die gleichen Methoden bei Ihnen anwendete, zu einer viel günstigeren Entwicklung angeregt werden als in jenen Schulen, in denen alle Freude der Kinder am Lernen erstickt wurde?“ Das kann man im Nachhinein auch als Geburtsstunde der Inklusion sehen.
„sich zu offenbaren
Aus den in dieser Zeit gemachten Erfahrungen entwickelte sie die Montessori-Methode, die sie erstmals in „Il metodo della pedagogia scientifica“ (1909) sowie „L’autoeducazione“ (1916) darlegte und ständig erweiterte. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als „Baumeister seines Selbst“ und kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess optimal zu fördern. Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf mir, es selbst zu tun“. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel von der Lehrer- zur Kindorientierung: „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Montessori glaubte, dass sowohl Belohnungen als auch Strafen schädlich sind für die innere Einstellung des Menschen, dass Kinder ganz natürlich aus ihrer eigenen Motivation lernen wollen.
Die Montessorimethode konzentriert sich als Pädagogik auf die Bedürfnisse, Talente und Begabungen des einzelnen Kindes, das dazu ermutigt wird, das Tempo, das Thema und die Wiederholung der Lektionen selbstständig zu steuern. Das Leitmotiv der Methode ist die Pflege der natürlichen Freude des Kindes am Lernen, die einen Kernbestandteil des Wesens eines jeden Kindes darstelle und zur Entwicklung einer in sich ruhenden und ausgeglichenen Persönlichkeit führe. Kinder, die in ihrem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernen, erleben Selbstvertrauen und Selbstständigkeit und verinnerlichen das Gelernte so am besten. Selbstständigkeit wird durch die Arbeiten des täglichen Lebens (Fähigkeiten, die direkt im praktischen Leben anwendbar sind) unterstützt.
Dazu entwickelte sie ein eigenes entwicklungspsychologisches Dreiphasenmodell kindlicher Entwicklung, die Didaktik der „Drei-Stufen-Lektion“ und das Konzept der „vorbereiteten Umgebung“ mit selbst entworfenen Materialien in fünf Lernbereichen. Entsprechend ihrem bildungstheoretischen Modell der „Kosmischen Erziehung“ geht es um die pädagogische Umsetzung einer schon im antiken Griechenland vertretenen Vorstellung, dass der Mensch als Mikrokosmos Teil eines kosmischen Ganzen, des Makrokosmos, ist und dass seine „Schöpfungsaufgabe“ darin besteht, an der Realisierung eines universellen „kosmischen Plans“ mitzuwirken.
widerspruchsfreie Weltkultur
Kritisiert wird an dem Konzept bis heute, dass Montessori keinerlei wissenschaftliche Systematik ausgearbeitet habe und nicht über einen positivistischen, von missionarischem Pathos getragenen Eklektizismus hinausgekommen sei, wie Erwin Hufnagel befindet. Nach Helmut Lukesch sind Maria Montessoris „altbackene und allenfalls alltagspsychologische Ausführungen mit dem Stand des heutigen entwicklungspsychologischen oder pädagogisch-psychologischen Wissens nicht in Übereinstimmung zu bringen“ Aus ihren im Einzelfall anregenden „Ideen“ eine zusammenhängende „Montessori-Methode“ abzuleiten, sei „wirklichkeitsfremd“.
Dabei muss das Konzept der vorbereiteten Umgebung als Grundlage von Montessoris Forderung nach einer soziopsychischen Hygiene der gesamten Gesellschaft verstanden werden. Denn es ist nach Montessori nicht genug, einzelne Kinder in ihren Verhaltensweisen zu beeinflussen, sondern sie fordert die „Normalisierung“ der gesamten Population durch diese Hygiene, das Entfernen schädlicher Einflüsse auf die Kinder. Dieser Ansatz einer homogen gestalteten Umwelt führt in Konsequenz nicht nur zu einer Gesellschaft, welche die individuellen Ausprägungen der Kinder dämpft, sondern auch zu einer uniformen, widerspruchsfreien Weltkultur.
Und genau das machte sie problemlos anschließbar an den Faschismus Mussolinis – der nach einer Begegnung mit ihr 1924 die Montessori-Methode an allen italienischen Schulen einführte. Durch diese Protektion wurde die italienische Montessori-Gesellschaft von der faschistischen Regierung unterstützt. Die Entfremdung Montessoris gegenüber der faschistischen Regierung setzte erst 1934 ein, als das Regime immer mehr versuchte, sich in die tägliche Arbeit an den Montessori-Schulen einzumischen, beispielsweise durch das Gebot des Uniformtragens.
Doch da hatte ihr Konzept bereits weltweite Verbreitung gefunden. Ab 1913 entwickelte sich in Nordamerika ein starkes Interesse an ihren Erziehungsmethoden, das später erlahmte und ab 1960 mit der Gründung der Amerikanischen Montessori-Gesellschaft wieder aufflammte. In Deutschland hatte in den 1920er Jahren vor allem Clara Grunwald die Montessori-Pädagogik bekannt gemacht und verbreitet. Das erste Montessori-Kinderhaus in Österreich wurde 1917 von Franziskanerinnen in Wien gegründet.
Seit 1916 in Barcelona lebend, wo sie eine Ausbildungsstätte für ihre Pädagogik einrichtet, reiste sie viel, hielt Vorträge und veröffentlichte ihre großen Werke, etwa „Dr. Montessoris Own Handbook“ sowie „The Secret of Childhood“ („Kinder sind anders“). Vor dem Bürgerkrieg in Spanien floh sie 1936 nach Amsterdam und nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Indien, wo sie von 1939 bis 1946 mit ihrem Sohn Mario lebte, teilweise von den Briten interniert. Sie baut eine starke indische Montessori-Bewegung und ein großes Netzwerk auf, erlebte aber aus der Ferne zugleich, dass alle Montessori-Einrichtungen in Italien, Spanien, Russland, Österreich und Deutschland geschlossen wurden.
Verkehrserziehung als Anwendungsfeld
Sie kam erst 1949 endgültig nach Europa zurück und ließ sich in den Niederlanden nieder, wo sich heute auch der Hauptsitz der von ihr 1929 gegründeten Association Montessori Internationale (AMI) befindet. Ihr letztes großes Werk „The Absorbent Mind („Das kreative Kind – der absorbierende Geist“) erschien 1949 erstmals in Indien und entstand wie die meisten ihrer Bücher aus einer Sammlung von Vorträgen, die sie selbst hielt und deren Mitschriften von ihrem Sohn Mario stammten. Sie starb am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee.
Eine Reihe nationaler Montessori-Gesellschaften, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, sind heute der AMI angeschlossen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe nationaler und internationaler Montessori-Vereinigungen, die unabhängig von der AMI sind und sich in Deutung, Umsetzung und Qualitätsverständnis der Montessoripädagogik von der AMI unterscheiden. Nach Schätzungen der AMI existierten 2011 in 110 Ländern der Welt rund 22 000 Montessori-Einrichtungen. In Deutschland arbeiteten 2009 über 600 Kitas nach den Prinzipien der Montessoripädagogik. Ende 2012 gab es 225 Montessori-Grund- und 156 Sekundarschulen, die meisten in freier Trägerschaft.
Schulübergreifend spielt ihre Pädagogik heute noch in der Verkehrserziehung eine Rolle. Die Kinder werden allerdings nicht nur mit pädagogisch präparierten Lehrmaterialien versorgt, sondern zur Entwicklung eigenen Spielzeugs angeleitet. Dies geschieht etwa in Form der Gestaltung eines eigenen Schulwegspiels, das die Kinder als Brettspiel auf der Basis ihrer begleiteten Schulwegerkundungen selbst entwerfen und herstellen dürfen. Denn die Schüler sollen lernen, altersgerecht für sich und die Verkehrssicherheit mit Verantwortung zu übernehmen, bspw. beim Fahrradfahren, nicht aber als „unfertige Erwachsene“ behandelt und im Verkehrsleben bevormundet und entmündigt werden, in dem sie sich etwa im Elterntaxi zur Schule kutschieren lassen. Das kann man doch glatt gut finden.