„Dinge tun, die ich nicht tun soll“
26. August 2020 von Thomas Hartung
Es gibt Medienikonen, die trotz unbekannter Personen wirken, etwa Jewgeni Chaldejs Schnappschuss der gerade durch Sowjetsoldaten gehissten Flagge auf dem Berliner Reichstag. Es gibt natürlich auch Medienikonen, die wegen bekannter Personen wirken, wie Sam Shaws Standfotografie Marilyn Monroes aus den Dreharbeiten zu „Das verflixte siebte Jahr“, auf der ihr weißes Kleid durch den Luftzug eines U-Bahn-Schachts angehoben wird. Und es gibt Medienikonen, die allein wegen ihres verfremdeten Motivs wirken. Der nackte Frauenrücken seiner Geliebten Kiki von Montparnasse mit zwei Celloöffnungen von 1924, „Le violon d‘Ingres“, das als wohl bekanntestes Surrealistenfoto gilt, gehört zu dieser Gruppe. Sein Schöpfer, Man Ray, kam am 27. August 1890 in Philadelphia als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Eltern als Emmanuel Rudnitzky zur Welt.
Die Familie wird ihren Namen später zu Ray amerikanisieren; zu seinen Wurzeln blieb Ray zeitlebens einsilbig. Sein Vater Melech (Max) Rudnitzky arbeitete zu Hause als Schneider, alle Kinder wurden streng er- und schon früh in die Arbeit mit einbezogen, lernten nähen, sticken und das Zusammenfügen unterschiedlichster Stoffe in Patchwork-Technik. Diese Erfahrung des spielerischen Umgangs mit verschiedenen Materialien sollte sich später in Rays Werk widerspiegeln, daneben zitierte er gern Utensilien aus dem Schneiderhandwerk wie Beispiel Nadeln oder Garnspulen in seiner Bildsprache. Er galt von Anbeginn als kreativ und eigensinnig.
Nach einem Umzug 1897 nach Williamsburg begann er erste Buntstiftzeichnungen anzufertigen, was von den Eltern nicht für gut befunden wurde. Prompt musste er seine künstlerischen Neigungen lange geheim halten: „Ich werde von nun an die Dinge tun, die ich nicht tun soll“ wurde sein früher Leitsatz, dem er lebenslang folgen sollte. Im höheren Schulalter belegte er Kurse in Kunst und Technischem Zeichnen – und dazu, so eine späte Beichte des Künstlers, klaute der junge Besessene wie ein Rabe von Ölfarben bis hin zu farbiger Tinte alles, was ihm in die Finger fiel. Nach dem Abschluss der High-School lehnte er ein Architekturstipendium ab und versuchte sich, eher unbefriedigend, in Porträt- und Landschaftsmalereien. 1908 schrieb er sich an der National Academy of Design und der Art Students League in Manhattan, New York, ein. Doch der didaktisch konservative, zeitintensive und ermüdende Unterricht war nichts für den ungeduldigen Studenten. Auf Anraten seiner Lehrer gab er das Studium alsbald auf und versuchte selbstständig zu arbeiten, so in einer Werbefirma.
Avantgarde im Zeitraffer
Ab 1910 malte Ray Porträts von Freunden und Verwandten in seinem Atelier im Wohnhaus seiner Eltern. Zwei Jahre später schrieb er sich an der liberal-anarchistischen Modern School of New Yorks Ferrer Center ein und belegte Abendkurse. Erstmals fühlte er sich in seinem freien und spontanen Arbeiten unterstützt. Tagsüber arbeitete er als Kalligraf und Landkartenzeichner für einen Verlag in Manhattan. Laut vieler Biographen habe er die europäische Avantgarde im Zeitraffer durchlaufen: Beginnend mit den Impressionisten, gelangte er bald zu expressiven Landschaften, die einem Kandinsky ähnelten, um schließlich zu einer eigenen futuristisch-kubistischen Figuration zu finden, die er abgewandelt sein Leben lang beibehielt.
1913 verließ er sein Elternhaus und zog in eine Künstlerkolonie in Ridgefield, New Jersey, wo er mehr als zwei Jahre lebte. Hier begegnete er der belgischen Dichterin Adon Lacroix, die seine erste Frau werden sollte und mit der er gemeinsame Buchprojekte startete. Ein Galerist verkaufte ein Bild für 150 $ an einen Sammler – der erste Erfolg Man Rays als Künstler. 1915 erwarb er einen Fotoapparat, nutzt das fotografische Bild zunächst aber nur zu Reproduktionszwecken und als Inspirationsquelle. Im selben Jahr wurde er mit den Konzeptkunstpionieren Marcel Duchamp und Francis Picabia bekannt und hatte seine erste Einzelausstellung.
Er experimentierte mit Aerographie, einer Airbrushtechnik, trennte sich von Adon Lacroix, gründete die erste modernistische Künstlervereinigung der USA und entdeckte zunehmend das künstlerische Potential des Fotoapparats, auch des Films. Bei der Arbeit in der Dunkelkammer experimentierte Man Ray erstmals mit Fotogrammen, bei denen Objekte auf lichtempfindlichen Materialien wie Film oder Fotopapier direkt im Kontaktverfahren belichtet werden. Er nennt die Technik Rayographie und produziert sie in der Folgezeit wie am Fließband: Fast die Hälfte seines gesamten Œuvres an Rayographien beziehungsweise „Rayogrammen“ entstand in den ersten drei Jahren nach der Entdeckung seiner „Erfindung“. Bereits Anfang 1922 hatte er alle technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit am Fotogramm ausprobiert. Er legt sich in seiner gesamten Künstlerlaufbahn nie auf ein bestimmtes Medium fest: „Ich fotografiere, was ich nicht malen möchte, und ich male, was ich nicht fotografieren kann“, sagte er einmal.
„nicht länger auf Anerkennung warten“
Im Sommer 1921 trifft er, endlich, in seiner „Stadt der Sehnsucht“ Paris ein, wo er bis 1940 leben wird. Hier lernte er die Gruppe von Literaten um André Breton und Paul Eluard kennen, die 1924 den Surrealismus aus der Taufe hob – und sich dabei u.a. auf sein Werk berief. Durch seine fotografischen Porträts der Pariser Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre macht er sich rasch einen Namen: „um dazuzugehören, brauchte man ein Foto von Man Ray“, weiß der Sammler Marconi im Spiegel zu berichten. Doch der erhoffte finanzielle Erfolg blieb aus, und Man Ray fasste einen folgenschweren Entschluss. „Meine ganze Aufmerksamkeit“, schreibt er in seiner Autobiographie, „richtete ich jetzt darauf, mich als Berufsfotograf zu etablieren, ein Studio zu finden und es einzurichten, um effektiver arbeiten zu können. Ich wollte Geld verdienen – nicht länger auf eine Anerkennung warten, die sich vielleicht nie einstellen würde.“
Die Anerkennung als Fotograf aber erfuhr er fast augenblicklich. Er revolutionierte mit seinen Aufnahmen die Ästhetik der Fotografie – und schrieb Geschichte. Ab 1930 machte er regelmäßig Modeaufnahmen für Vogue und Harper’s Bazaar und konzentrierte sich auf surreal-traumhafte Arrangements in statisch-kühlem Studioambiente, die er mit experimentellen Techniken mischte: so arbeitete er oft mit Spiegelungen und Doppelbelichtungen. „Die Bilder, die heute längst Klassiker der Moderne sind, trieben damals manchem Kunstkritiker die Röte ins Gesicht, sie waren ihrer Zeit weit voraus und nicht jeder begriff, welches Darstellungspotential in der Fotografie verborgen lag“, befand Stephan Reisner auf dem Online-Portal lumas.
Auch die Reichen und Schönen rissen sich darum, von Man Ray abgelichtet zu werden – und waren selbst dann noch begeistert, wenn die Aufnahmen völlig in die Hose gingen. Das verhunzte Foto der schrillen Marquise Casati – unscharf und verwackelt bis zur Unkenntlichkeit – zeigte drei Paar Augen untereinander und sollte sofort nach der Entwicklung in den Papierkorb. Aber die betuchte Exzentrikerin bettelte um einen Abzug und war überwältigt. Nichts Geringeres als ein „Porträt ihrer Seele“ habe der große Meister geschaffen, schmachtete sie ergriffen. Mit diesem historischen Stoßseufzer verhalf sie Man Ray zu einer steilen Karriere als Porträtist der feinen Gesellschaft.
Ende der 20er Jahre probiert er sich auch als Filmregisseur aus, doch seine artifiziellen Premieren, obwohl durch US-Mäzene gefördert, floppen. Sein Ruhm war dennoch so groß, dass die 22-jährige Amerikanerin Lee Miller sich bei dem Künstler meldete, um dessen Assistentin zu werden. Die beiden perfektionierten gemeinsam Man Rays Technik der Solarisation – eine Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung – und wurden ein Liebespaar. Miller setzte gegenüber dem älteren Künstler ihre persönliche und künstlerische Unabhängigkeit durch, was nach drei Jahren in der Trennung endete. In dieser Phase wandte sich Man Ray den Theorien des Marquis de Sade zu, seine Werke werden deutlich erotischer, ja pornographischer. Kolportiert wird bis heute, dass ihn die sexuell unabhängige, intelligente und sehr kreative Miller zu einer merkwürdig obsessiv-destruktiven Liebesbeziehung verleitete, die er nicht mehr kontrollieren konnte.
„unbekümmert, aber nicht gleichgültig“
1940 flieht er zurück in die USA, zum einen vor dem heraufziehenden Krieg, zum anderen vor dem Trend der schnelllebigen realistischen Schnappschuss-Fotografie, wie ihn der aufkommenden moderne Fotojournalismus mit seinen innovativen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa in seiner politischen Emotionalität verkörperten. Er ließ nicht nur seine Freunde und seinen Status als Künstler in Paris zurück, sondern auch seine wichtigsten Werke der letzten zwanzig Jahre: Fotografien, Negative, Objekte und zahlreiche Gemälde. Die meisten Arbeiten hatte er wohl bei Freunden versteckt, dennoch sind zahlreiche Arbeiten im Krieg zerstört worden oder verschollen.
1941 wurde er in Los Angeles sesshaft. Wenn er auch als Maler reüssieren wollte, so arbeitete er doch als Berater für Hollywood-Studios und als Porträtfotograf. Seine umfangreichste Ausstellung, die am 13. Dezember 1948 mit zahlreichen internationalen Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern eröffnet wurde, war ein großes Ereignis und erinnerte noch einmal an die „guten“ Pariser Jahre. Die Ausstellung war zugleich Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens in Los Angeles. Ungeachtet des respektablen Erfolgs an der Westküste empfand Man Ray die Resonanz des Publikums in den USA als zu gering, und so kehrte er gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau, Juliet Browner, die der 1946 geheiratet hatte, 1951 nach Paris zurück und bezog eine Studiowohnung in der Rue Férou, die er bis zu seinem Lebensende bewohnte und in der er seine Werke mannigfach kuratierte, ohne Neues zu schaffen.
1960 war er auf der Photokina in Köln vertreten; auf der Biennale von Venedig erhielt er 1961 die Goldmedaille für Fotografie. 1963 legte Man Ray in London seine Autobiografie „Self-Portrait“ vor. Er starb am 18. November 1976 in Paris und wurde auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteins lautet: „unconcerned, but not indifferent” (unbekümmert, aber nicht gleichgültig). Seine Frau Juliet kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1991 um den Nachlass von Man Ray, spendete zahlreiche seiner Arbeiten an Museen und gründete die Stiftung „Man Ray Trust“, die eine große Sammlung von Originalarbeiten besitzt und die Urheberrechte des Künstlers hält. Sie wurde neben Man Ray beigesetzt.
„aggressiver Charme“
Der Künstler zählt bis heute zu den bedeutendsten Vertretern des Dadaismus und Surrealismus, wird aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werkes allgemein der Moderne zugeordnet und gilt als wichtiger Impulsgeber für die moderne Fotografie und Filmgeschichte bis hin zum Experimentalfilm. Seine zahlreichen Porträtfotografien zeitgenössischer Künstler dokumentieren die Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er Jahre. „Geprägt von dem unbedingten Willen, die Motive zu verrätseln und die Welt in die Sphäre des Traums zu heben“, strebe er zumindest für sein künstlerisches Œuvre nach Fotografien, „die nicht wie Fotografien aussehen“, so Freddy Langer in der FAZ und erkennt einen „radikalen Ausdruck aggressiven Charmes“.
Er sei „ein Getriebener, ein ewiger Pendler zwischen den Kunst- und Lebenswelten, der sich immer wieder neu erfinden musste“, meint Bettina Pieper in der Jüdischen Allgemeinen. „Äußerliche Unruhe und Zerrissenheit spiegeln sich wider in den Brüchen seiner künstlerischen Arbeit. Die Beachtung, die Man Ray zu Lebzeiten als Auftragsfotograf entgegengebracht wurde, fand er als Künstler erst lange nach seinem Tod.“ „Man Rays größtes Anliegen und das was, ihn seine ganze Laufbahn hindurch beschäftigte, war sein Wunsch, die Grenzen zwischen den Medien aufzuheben“, bilanzierte Merry Foresta 1988. Er hat allein über zwölftausend Negative hinterlassen, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. In Deutschland wird er regelmäßig ausgestellt. Die jüngste Einzelschau hatte im Frühjahr die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz ausgerichtet, daneben war er in Düsseldorf und Chemnitz zu sehen.