„schmachtäugiger Zwerg“
26. August 2020 von Thomas Hartung
Schon die Legende, wie seine Vorfahren in die Welt kamen, war abenteuerlich: Saba, die Königin von Reicharabien, kam, „Salomo zu versuchen mit Rätseln“, wie es im 1. Buch der Könige, Kapitel 10, heißt. Von Salomos Weisheit beeindruckt, schenkte sie dem „König hundertzwanzig Zentner Gold und sehr viel Spezerei und Edelgestein“ und zog beglückt von dannen. Die offiziellen, aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammenden äthiopischen Geschichtstafeln „Kebra Nagast“ („Ruhm der Könige“) enthüllen aber außerdem: „Salomo hatte der schönen Fremden scharf gewürzte Speisen vorgesetzt, so dass sie in der Nacht Durst bekam. Um aber den Brunnen zu erreichen, musste sie durch das Schlafgemach des weisen Königs. Und diesem Durst entsprang der Ahnherr der erobernden Löwen aus dem Stamme Juda, Menelik, Sohn Salomos.“ Ein äthiopischer Gouverneurssohn sah sich über seine Großmutter väterlicherseits als 225. Nachfolger Salomos: Ras Tafari Makonnen.
Nun findet die Königin von Saba, die im 10. Jh.v.Chr. gelebt haben soll, nicht nur im Alten Testament und äthiopischen Legenden, sondern auch im Koran Erwähnung, weshalb unklar ist, ob ihr Reich tatsächlich in der Gegend von Aksum in Äthiopien gelegen hat. Doch einerlei: als Anfang des 20. Jahrhunderts auf Jamaika eine protestantisch geprägte afroamerikanische Neu-Religion entstand, die als eines der gemeinsamen Merkmale die Vorstellung eines Mensch gewordenen Gottes teilen, prophezeite der jamaikanische Nationalheld Marcus Mosiah Garvey: „Schaut nach Afrika, wenn ein schwarzer König gekrönt werden wird, dann ist der Tag der Erlösung nahe!“
Am 2. November 1930 war es soweit: der gerade 1,62 m große Makonnen wurde unter dem Namen Haile Selassie I. („Macht der Dreieinigkeit“) zum Kaiser von Äthiopien gekrönt, der Messias war da. Bis 1953 gehörten zu den Glaubenssätzen der Rastafaris übrigens Aussagen wie „Schwarze sind den Weißen überlegen. Sie werden bald die Welt regieren“ oder „Bald werden die Schwarzen sich an den Weißen rächen.“ Die Farben der äthiopischen Nationalflagge Grün, Gelb, Rot sind zugleich die Farben der Rastafaribewegung. Am 27. August 1975 starb der inzwischen abgesetzte Monarch im Arrest unter ungeklärten Umständen an „Durchblutungsstörungen“. Sein Großneffe Asfa Wossen Asserate schrieb in seinen Erinnerungen, Haile Selassie sei mit seinem Kopfkissen erstickt worden.
„und grübelt und grübelt“
Am 23. Juli 1892 wird er als Sohn des Oberbefehlshabers der Königstruppen und Gouverneur der Provinz Harrar geboren und von französischen Lehrern erzogen. Er sei ein „elfenzarter Knabe“ gewesen, dessen Spielgefährte Iyasu, der designierte Thronerbe, ihn „jederzeit einarmig aufs Kreuz legen konnte“, so der Spiegel 1954. Seine Ausbildung blieb nach europäischen Maßstäben rudimentär, in seiner Jugend war er Gouverneur kleinerer Landstriche. Er heiratet seine erste Frau, die ihm eine Tochter zur Welt bringt, die bereits 1940 stirbt. 1912 folgte die Ehe mit der späteren Kaiserin Menen II., die ihm nochmal sechs Kinder schenkt und 1931 die erste Hochschule für Mädchen gründen wird. Nach einem Putsch der christlich-orthodoxen Aristokratie gegen Iyasu wegen seiner islamfreundlichen Politik wurde dessen konservative Tante Kaiserin und Makonnen, der als Vertreter des liberalen Adels gilt und von der Kaiserin „schmachtäugiger Zwerg“ genannt wird, am 27. September 1916 Kronprinz.
Als Bevollmächtigter Regent war er für die Administration des Landes zuständig, Regierung wäre wohl zu hoch gegriffen. Äthiopien wurde auf sein Betreiben hin 1923 Mitglied des Völkerbundes, 1928 schloss er einen zwanzigjährigen Friedensvertrag mit Italien. Die von ihm fortgesetzte Modernisierung kommentierte er jedoch mit den Worten: „Wir brauchen den europäischen Fortschritt nur, weil wir von ihm umringt sind. Das ist gleichzeitig ein Vorteil und ein Unglück.“ Nach zwei erfolgreich niedergeschlagenen Aufständen wird er 1928 erst König und zwei Jahre später, nach dem Tod der Kaiserin, Kaiser („Neguse Negest“, „König der Könige“).
„Was macht er denn noch so spät?“, soll Selassies Berater Daniel Arthur Sandford laut Spiegel einmal einen Leibgardisten gefragt haben. „Nichts, er sitzt alleine in seinem Arbeitszimmer und grübelt und grübelt und grübelt“, habe der Soldat geantwortet. Ergebnis dieser nächtelangen Überlegungen war ein radikales Modernisierungsprogramm. Zum Entsetzen der Adeligen verbot Selassie die Sklaverei, er rüstete die Armee auf und schickte junge Leute zum Studium nach Europa. Drei Jahre später erließ er erste Verfassung des Kaiserreichs Abessinien, die das Land zwar formell in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte, tatsächlich aber seine absolute Machtposition festigte. Als Staatsmann schmiedete er zahlreiche Pläne, wie er sein Land vor den Europäern beschützen könnte. Vor allem vor den Italienern, deren erstes abessinisches Abenteuer 1896 blutig endete und die auf Rache sannen.
„Spannung der Entschlossenheit“
Als die Italiener 1935 in Eritrea Truppen massierten und Grenzzwischenfälle provozierten, enthüllte sein Taktieren – so schlug er eine internationale Beobachterkommission vor und machte das Angebot, seine Truppen von der Grenze zurückzuziehen – die Schuld Mussolinis vor der Weltöffentlichkeit, noch ehe die Invasion begann, mit der die Römer ihre „Kolonialansprüche“ befriedigen wollten. Vor der Generalversammlung des Völkerbunds hielt er am 30. Juni 1936 eine flammende Rede gegen die Untätigkeit angesichts der italienischen Aggression. „Schaffen die Staaten damit nicht einen schrecklichen Präzedenzfall, indem sie sich der Gewalt beugen?“, fragte der Kaiser die Politiker. Seine Anklage blieb unbeachtet, zahlreiche Staaten erkannten die italienische Eroberung an. Trotzig hatte ihn das amerikanische „Times“-Magazin zum Mann des Jahres erklärt. Selassie emigrierte nach Großbritannien. Das Ende des freien Abessinien, einem seit fast 3.000 Jahren unabhängigen und nie kolonisierten Kaiserreich, scheint absehbar.
Dennoch ist die fünfjährige italienische Episode ambivalent zu werten. Unentschuldbar ist die Grausamkeit der italienischen Besatzer, die anfangs sogar das Giftgas Yperit einsetzen, das Zehntausende tötet, das Vieh der Bauern verenden lässt und das Trinkwasser verseucht. Die Bevölkerung wehrte sich mit Attentaten gegen wichtige Funktionsträger. „Auf solche Attentate hat der faschistische Staat dann mit härtester Repression reagiert und hat Tausende von Äthiopiern hinrichten lassen. Und zwar in erster Linie die äthiopische Intelligenz“, meint der Historiker Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut Rom im DLF.
Andererseits hat Italien „das Land ins 20. Jahrhundert gezerrt. Mussolinis Kolonisatoren brachten moderne Technik und konfrontierten die versteinerte mittelalterliche Sozialordnung des Landes mit den Werkzeugen Europas. Sie legten Telephonkabel und Wasserleitungen, sie bauten Autostraßen, Geschäftshäuser, Kühlhäuser, Schulen und Rundfunkstationen, sie demonstrierten die Effektivität moderner Verwaltungsformen“, so der Spiegel. 1941 kehrte Selassie an der Spitze der britischen Befreier zurück und erkannte, dass sein Staat im 20. Jahrhundert nur bestehen kann, wenn er sich des technischen Instrumentariums Europas bemächtigt. „Diese Spannung der Entschlossenheit, den Geist des Alten zu bewahren und die Technik des Neuen zu gebrauchen, kennzeichnet die Regierung Haile Selassies seit seiner Rückkehr“, befindet der Spiegel.
„Wir sind nicht Gott“
Sein Reformeifer nach innen erlahmte allerdings. Der Kaiser zeigte vor allem Interesse am eigenen Machterhalt. Es gibt keine Tageszeitungen, nur zwei Wochenzeitungen, die wenig informativen Wert haben. Die kaiserliche Zensur verbietet alle halbwegs interessanten Meldungen als zu „politisch“. Für moderne Aufgaben, meinen die Äthiopier, sind die ausländischen „Berater“ da, die der Kaiser anwirbt. Sie sind geschickt aus vielen Nationen ausgesucht, deren Einflüsse sich gegenseitig aufheben. Ein Schwede drillt die Luftwaffe, ein Amerikaner die Zivilluftfahrt, Deutsche sitzen im Handelsministerium, Engländer in der Polizei, und Sowjetrussen betreuen das Menelik-Krankenhaus, das Stalin dem Land vermacht hat, weil das einst vom Zaren gestiftete Hospital zerstört wurde. Der frühere Wiener Bürgermeister und SS-Gruppenführer Hermann Neubacher hat die Aufgabe, das „Großdorf“ Addis dem stärkeren Verkehr anzupassen.
Und Selassie zeigt Interesse an zahlreichen Auslandsreisen, die ihm den Spitznamen „Reisekaiser“ einbrachten. Im November 1954 besuchte er als erster offizieller Staatsgast die Bundesrepublik, traf Präsident Heuß und Kanzler Adenauer, Parlamentarier und Industrielle, besichtigte Universitäten, Pferdegestüte und Krankenhäuser und gab auf dem Bonner Petersberg eine Pressekonferenz. Mit Kamelen, Elefanten und Ponys auf der Beueler Rheinbrücke wollte man dem Afrikaner ein Gefühl von Zuhause geben. Zehntausende Menschen waren zusammengeströmt, um einen Blick auf den Märchenkaiser zu erhaschen – genau wie bald darauf auch in den USA und zahlreichen anderen Staaten, die Selassie besuchte. Vor allem in Jamaika 1966 entfachte er Begeisterungsstürme. „Wir sind nicht Gott. Wir sind kein Prophet“, versuchte er die Rastafaris umzustimmen. Schließlich stiftete er eine Kirche auf der Karibikinsel.
Haile Selassie genoss im Ausland hohes Ansehen als Staatsoberhaupt des ältesten afrikanischen Landes, eines Gründungsmitgliedes der Vereinten Nationen, und war graue Eminenz und Integrationsfigur des afrikanischen Kontinents in der Dekolonialisierungsphase. Gleichwohl fallen in seine Amtszeit mehrere Kriege, unter anderem mit Somalia um das Grenzgebiet des Ogaden sowie gegen Separatisten in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise 1950 föderaler Teil Äthiopiens war, dann aber vom Kaiser zur Verwaltungsprovinz herabgestuft wurde. Äthiopien hat ein Parlament, doch das darf nur verabschieden, was der Kaiser vorschlägt. Er selbst ernennt die Mitglieder des Oberhauses, und diese wiederum ernennen die Unterhaus-Abgeordneten. Wahlen sind mit der Würde des Throns unvereinbar. Bereits 1960 war einer seiner Söhne in einen Putsch gegen ihn verwickelt.
„brillanter Außenpolitiker“
Anfang der 1970er Jahre zeigte sich dann auch immer mehr die Unzufriedenheit der Bevölkerung, vor allem der Studenten, mit der Machtfülle des Kaisers, der zu keinerlei Reform des konservativ-aristokratischen Staatsaufbaus bereit war, was sich in den Parlamentswahlen in Äthiopien 1973 zeigte: „Das Volk weiß nicht, was es braucht“, behauptete der Alleinherrscher. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Selassies Reich betrug 38 Jahre, nur jeder zehnte Äthiopier konnte lesen. Weltweit sorgt nun die Untätigkeit des einst so bewunderten Selassie und seiner Beamten für Entsetzen. In diesem Jahr versuchte sein Enkel Iskander Desta, damals Oberbefehlshaber der äthiopischen Marine, einen Umsturz zu erzwingen.
Als im Norden eine verheerende Hungersnot ausbrach, während das fruchtbare Äthiopien zugleich 200.000 Tonnen Getreide exportierte, rebellierten die Untertanen: Im Dokumentarfilm „Die unbekannte Hungersnot“ war gezeigt worden, wie Selassie zahme Löwen in seinem Palast mit Fleischstücken von goldenen Tellern fütterte. Ein Jahr später führte die Rebellion gemeinsam mit gewaltsamen Protesten von Studenten schließlich zur Revolution, in deren Verlauf die Forderung nach einer parlamentarischen Monarchie schnell unter Führung des Hauptmanns und späteren Diktators Mengistu Haile Mariam einer marxistisch-leninistischen Doktrin wich. Nach einem Militärputsch musste der Kaiser am 12. September 1974 abdanken. Sein Diener fand den 83-Jährigen im Jahr darauf leblos in seinem Zimmer.
Haile Mariam ließ den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern, wo er erst 1992 wieder entdeckt wurde. Erst nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurde im Jahr 2000 die Bestattung in der Familiengruft in der Dreifaltigkeitskirche von Addis Abeba nachgeholt. Selassie hatte das Land 45 Jahre lange geführt – kein afrikanischer Herrscher der Neuzeit war so lange an der Macht. Er hielt die Landbevölkerung, vor allem die Leibeigenen, in Unwissenheit – noch immer heute hemmt diese Rückständigkeit des ländlichen Äthiopiens jede Entwicklung. Der Kaiser versuchte aber, der städtischen Elite den Anschluss an das 20. Jahrhundert zu verschaffen. Im restlichen Afrika wurde er geschätzt für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im Kampf gegen die Kolonialherrschaft: Nach der Phase der Dekolonisierung wurde Addis Abeba Sitz der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), die Selassie mitbegründete.
Sein Großneffe Asserate kommt zu einer ambivalenten Einschätzung: Zwar habe er sein Land „vom Mittelalter in die Moderne“ geführt, dem italienischen Faschismus Widerstand geleistet und sei ein „brillanter Außenpolitiker“ gewesen, womit er „wesentlichen Anteil an der Entkolonisierung Afrikas“ gehabt hätte. Aber er war den Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen und uneinsichtig, „dass sich ein moderner Staat … nicht mehr paternalistisch-autokratisch regieren ließ“. Daneben habe er Macht nicht teilen können und sei unfähig gewesen, Entscheidungen zu delegieren, weshalb es „Stillstand im Land“ gegeben habe und er es versäumte, „das Zepter an die nächste Generation weiterzureichen“. Sein Fazit: Vor dem Urteil der Geschichte würden seine „Verdienste um Äthiopien mehr Gewicht haben als die großen Fehler, die er zweifelsohne besaß.“