„Mehr Sexualität wagen“
23. September 2020 von Thomas Hartung
1969 war ein Jahr, in dem so mancher Satz fiel, der Geschichte machte: Neil Armstrong war auf dem Mond gelandet, Willy Brandt Kanzler geworden, und Woodstock gab es auch noch. Doch gefragt, was für ihn der wichtigste Satz des Jahres gewesen sei, antwortete er: „Der Schwanz bleibt drin.“ Gefallen ist der Satz im Kinosaal des Wiesbadener Fürstenschlosses, dem damaligen Tagungsort der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSK). Elf Männer und eine Frau hatten seinen Film „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ zu begutachten. „Und auf einmal“, berichtete er im Spiegel, „war da dieser Penis“: Auf der Leinwand wurde gezeigt, wie eine Erektion entsteht. Elf der Gutachter knipsten ihre Leselampen an: Äußerste Empörung! Sie verlangten, den Film zu schneiden. Die einzige Frau im Gremium aber widersprach. So knapp wie salopp. Und da blieb der Schwanz drin.
„Zwei Tage und zwei Nächte musste ich über jede einzelne Szene verhandeln“, sagte er später der Welt. „Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“, soll ein Zensor gar angemerkt haben. Der Streifen war nur einer von insgesamt acht Aufklärungsfilmen, mit denen er als eine Art Telekolleg-Mann zwischen 1968 und 1972 beinahe eine gesamte Nation an die Sexualität heranführte – als ob es das Thema zuvor gar nicht gegeben hätte: Oswald Kolle. Der Journalist, Autor und Filmproduzent mit niederländischem Pass starb am 24. September 2010 in Amsterdam. „Sein Tod ist ein großer Verlust im Kampf um ein menschenfreundliches und lebensbejahendes Miteinander“, schrieb der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), der ihm kurz zuvor den „Sapio“-Preis verliehen hatte, um seinen unermüdlichen Einsatz für die sexuelle Selbstbestimmung zu würdigen, in einem Nachruf.
Geboren wurde Oswald am 2. Oktober 1928 in Kiel als Sohn des renommierten Psychiaters Kurt Kolle, der im 3. Reich nicht publizieren durfte und ihn auch gern als Mediziner gesehen hätte. Doch der von ihm geplante Weg dahin bewirkte das Gegenteil: Ende der 40er-Jahre bat er seinen Sohn, Teile des ersten Kinsey-Reports „Die Sexualität des Mannes“ ins Deutsche zu übersetzen. „Damals begann mein Interesse an Sexualität und Moral, denn wir reden über eine Zeit, in der Präservative in Apotheken nur an Ehepaare verkauft werden durften“, sagt Kolle junior später, macht zunächst eine Ausbildung in der Landwirtschaft und ging 1950 in den Journalismus. Sein Bruder sollte dann dem väterlichen Wunsch nachkommen; er wurde ein berühmter Urologe.
Kolle begann als Volontär bei der Frankfurter Neuen Presse und machte sich zunächst einen Namen als Filmjournalist. Schon 1951 wurde er Lokalchef der Frankfurter Nachtausgabe und war bis 1953 Mitarbeiter der Fachzeitschrift Filmblätter, ehe er sich der neugegründeten Bild in Hamburg anschloss und für diese Klatschgeschichten schrieb: „Bild, das merkte ich schnell, war eher ein Märchenblatt als eine Zeitung“, bemerkte er einmal. Nach seinem Abgang dort 1955 schrieb er als Kulturchef Artikel über Prominente für die BZ. Später wurde er stellvertretender Chefredakteur der Film- und Fernsehzeitschrift Star Revue, die von 1955 bis 1960 zum Spiegel-Verlag gehörte, und leuchtete die Intimzonen von Stars wie Hildegard Knef, Curd Jürgens und Brigitte Bardot aus.
„Aufklärer der Nation“
1959 lernte er seine spätere Frau Marlies Duisber kennen – beide waren sich vom ersten Tag an untreu: „Ich habe ihr von jeder Frau erzählt und sie mir von jedem Mann.“ Den Pakt beider beschrieb Kolle so: „Wir können sexuell nicht treu sein und wollen andere Beziehungen, aber wir haben keine Geheimnisse voreinander und gehen nie auseinander – unter keinen Umständen!“ Soziale Treue war ihm wichtiger als sexuelle. Er hatte mit Marlies, die nach 47 Jahren Ehe an Brustkrebs starb, drei Kinder, aber auch Affären mit den Schauspielern Horst Buchholz und O.E. Hasse ebenso wie mit Romy Schneider. Bei der Quick wurden er neben seinem damaligen Kollegen Johannes Mario Simmel zu einem der höchstbezahlten Yellow-Schreiber.
Seinen eigenen Durchbruch zum „Aufklärer der Nation“ schrieb er dabei einem Zufall zu: Die Frau des Quick-Chefredakteurs erwartete ein Kind und beklagte sich, dass die vorhandenen Bücher über Schwangerschaft und Kinderentwicklung mehr vernebelten als erklärten. Prompt schrieb Kolle „Dein Kind, das unbekannte Wesen“. „Der Chefredakteur war begeistert, es wurde gedruckt, er bekam aber daraufhin von Adenauers langjährigem Familienminister Franz-Josef Wuermeling einen Brief mit folgender sinngemäßer Aussage: ‚Wenn solche schweinischen Sachen noch einmal in der Quick erscheinen, wird die Zeitschrift verboten‘“, berichtete Kolle im Spiegel. Er hatte sein Lebensthema gefunden zu einer Zeit, als das Geschehen in Schlafzimmern und unter Bettdecken öffentlich noch tabu war: „Alle Liebe dieser Welt“, „Geheimnis der Liebe“, „Sexualität 70“ lauten Veröffentlichungen von damals, die ein enormes Echo fanden.
Für die Neue Revue schrieb er die Serie „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ – das Blatt hatte am Ende der Serie mehr Auflage als der Stern. „Das war wie ein Dammbruch. Es kamen Zehntausende Briefe von Frauen, die erstmals ihre Not beim Sex aussprachen, und ich wollte ihnen helfen, etwas weniger unglücklich zu sein“, so Kolle. Damals entstand einer seiner vielen Lehrsätze: „Liebe kann man nicht lernen, Sexualität sehr wohl.“ Unternehmen und Kirchen riefen zum Boykott des Blatts auf, Kukident stornierte alle Anzeigen, und die Neue Revue wurde aus den Wartezimmern verbannt. Er fühlte sich zwischen Linken und Rechten zerrieben, bilanziert Kolle Jahrzehnte später im Spiegel: „Die Linken haben mich als Erzspießer betrachtet, der doch nur die Ehe retten will. Die Rechten haben gesagt: ‚Was der Mann macht, ist schlimmer als der Zweite Weltkrieg, der zerstört unsere abendländischen Werte. Die Deutschen werden in die tiefste Barbarei versinken und auf offener Straße Orgien feiern.“
Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner schrieb damals: „Jetzt liegt in jedem deutschen Ehebett ein Dritter: Oswalt Kolle.“ Die Verfilmung der Serie zog dann sechs Millionen Zuschauer ins Kino. Als der Film in einigen Kantonen der Schweiz verboten wurde, entstand der sogenannte Kolle-Tourismus: Man setzte sich ins Auto und fuhr in einen Kanton, wo der Film gezeigt werden durfte. Der Polizeipräsident von Zürich rief zum Kulturkampf auf und erklärte: „Wir lassen uns nicht von einem Deutschen vorschreiben, wie wir uns im Bett verhalten sollen.“ Die Londoner Times bilanzierte: „Viele Männer gehen aus den falschen Motiven in Kolles Filme, aber alle kommen mit den richtigen raus.“ Seine Publikationen wurden in 17 Sprachen – auch Chinesisch – übersetzt und erreichten spektakuläre Auflagen. 140 Millionen Menschen sollen weltweit seine Filme gesehen haben; in einem davon hatte er mit seiner Frau, der Tochter und dem Sohn mitgespielt. Auf Sylt ließ er sich mit seiner Familie am Nackt-Badestrand für eine Zeitschrift fotografieren.
„Liebe altert nicht“
Mit seiner Liebesschule schuf der „Sexualdemokrat“ (Deutsche Welle) eine Fernsehserie zur sexuellen Aufklärung, außerdem schrieb er Unterhaltungsromane wie „Sylter Sommer“, den er für RTL zur Unterhaltungsserie „Sylter Geschichten“ entwickelte. Zudem überarbeitete er die Drehbücher seiner Aufklärungsfilme, die der Sender 1997 erfolgreich ausstrahlte. Das langjährige FDP-Mitglied wurde 2000 von der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualreform geehrt. 2002 wird sein Leben unter dem Titel „Kolle – Ein Leben für Liebe und Sex“ mit Sylvester Groth in der Titelrolle verfilmt: „Er zeigt die innere Wahrheit, und das ist okay. Außerdem sind die Schauspieler zum Küssen! Nur eins muss ich in aller Bescheidenheit kritisieren: So hässliche, braungemusterte Unterhosen, wie sie der Sylvester Groth trägt, habe ich nie angehabt“, sagt er dem Spiegel.
Wenige Tage vor seinem 75. Geburtstag gesteht er in seiner holländischen Wahlheimat dem Stern: „Ich habe eine neue Liebe gefunden, es ist wie ein Wunder“. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau erlebt er mit seiner neuen Partnerin Jose del Ferro, was er selbst geschrieben hat: „Liebe altert nicht.“ Für Pro7 drehte er noch die fünfteilige Serie „Sexualreport 2008“, für die 100.000 Menschen online 250 Fragen beantworteten: Die größte Umfrage über Sexualität, die es in Deutschland je gab. Im selben Jahr erschien Kolles Autobiographie, in der er unter anderem über die Sterbehilfe für seine krebskranke Frau schrieb und sich gegen Pornographie aussprach: „Der 30-jährige Single – von Beziehungen frustriert – sitzt mit offener Hose vor dem PC und holt sich dort seine Befriedigung. Wir steuern auf eine Masturbationsgesellschaft zu. Das ist ein echtes Problem.“
Ein beinahe unverhofftes Comeback erlebte die These, der freie Sex der Sechziger habe die Sitten verdorben, kurz vor Kolles Tod. Der Augsburger Bischof Walter Mixa behauptete im April 2010, die sexuelle Revolution sei mit Schuld an den zuvor enthüllten Missbrauchsfällen. „Das ist grotesk“, sagte Kolle der WamS. Die sexuelle Revolution habe vielmehr dazu beigetragen, dass die Opfer endlich an die Öffentlichkeit gehen. „Die Kirche konnte ja vorher machen, was sie wollte.“ Der Einfluss des „Orpheus des Unterleibs“ auf die Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre dürfte ähnlich prägend gewesen sein wie der von Willy Brandt, befand Sebastian Hammelehle im Spiegel: „Womöglich lässt sich das Werk Oswalt Kolles sogar am besten mit einem abgewandelten Brandt-Wort zusammenfassen: Mehr Sexualität wagen“. Er selbst beschrieb seinen Antrieb so: „Mein Ziel war es, die Liebe der Männer zu erotisieren und die Liebe der Frauen zu sexualisieren.“ Das kann man so stehenlassen.