„der ich meine Kristalle so sehr liebte“
27. September 2020 von Thomas Hartung
Als der neunjährige Bäckerssohn Joseph Meister aus dem elsässischen Steige am 4. Juli 1885 vom Hund eines Nachbarn 14 Mal gebissen wurde, konnten weder er, seine Eltern noch die Welt ahnen, dass er einer der berühmtesten Patienten der Medizingeschichte werden sollte. Denn Joseph, den sein Vater rasch nach Paris zu einer medizinischen Koryphäe brachte, sollte der erste Tollwutkranke sein, der durch eine Impfung geheilt wurde: Er erhielt 14 Tage lang Spritzen mit dem Extrakt des getrockneten Rückenmarks unterschiedlich stark infizierter Kaninchen. Am 27. Juli wurde er als geheilt entlassen.
Diese Koryphäe wird heute von vielerlei Fachrichtungen als Pionier beansprucht. Die Medizin sieht in ihm den Entdecker der Erreger von Milzbrand, Schweinerotlauf, Geflügelcholera und natürlich Tollwut, gegen die er Schutzimpfungen entwickelte und damit die Immunisierung revolutionierte. Die Lebensmittelbiologie sieht in ihm den Entdecker der Mechanismen von Fermentation, Gärung und Fäulnis, mit denen er die Bier- und Weinproduktion sowie die Haltbarmachung flüssiger Lebensmittel revolutionierte. Und die klassische Chemie sieht in ihm den Entdecker der Stereochemie, der die Lehre vom dreidimensionalen Aufbau der Moleküle, die die gleiche chemische Bindung und Zusammensetzung, aber eine verschiedene Anordnung der Atome aufweisen, mit entwickelte und damit die Lehre vom räumlichen Ablauf chemischer Reaktionen revolutionierte.
Er war einerseits ein Vollblutwissenschaftler, dessen medizinische Erkenntnisse vielen Menschen das Leben rettete, andererseits ein glühender Patriot und Katholik, der sich weigerte, die Evolutionslehre von Charles Darwin anzuerkennen. Zeitweise galt er in französischen Umfragen noch vor Napoleon als der bedeutendste Franzose, der je gelebt hat. Während sein Andenken in Deutschland, aufgrund seiner Rivalität mit dem fast eine Generation jüngeren Robert Koch, zurückhaltend gepflegt wurde, war er vor allem auch in Russland populär: Zar Alexander III. gehörte mit einem Beitrag von 100.000 Francs zu den großzügigsten Spendern für sein Institut. Ein Asteroid trägt seinen Namen, Orte in Algerien und Kanada, die Straßburger Uni – und mehr als 2000 Straßen Frankreichs: Louis Pasteur. Am 28. September jährt sich sein 125. Todestag.
„er spricht kaum mit mir“
Louis Pasteur wurde am 27. Dezember 1822 als drittes von fünf Kindern einer Gerberfamilie in Dole geboren, wo er mit seinen Eltern und Geschwistern drei Jahre lang lebte und früh mit chemischen Prozessen in Berührung kam: Die Verarbeitung roher Tierhäute zu Leder benötigt Gerbstoffe wie Tannine, die Fäulnis verhindern, auch in der Medizin verwendet werden und als Geschmackskomponente von Wein und Tee bekannt sind. Nach dem Umzug der Familie wuchs er in der ostfranzösischen Stadt Arbois auf. Während der frühen Schulzeit zeigte Louis Pasteur zunächst kein ausgeprägtes Talent für wissenschaftliche Fächer, sondern eher eine künstlerische Begabung, denn er verbrachte viel Zeit damit, Portraits und Landschaftsmalereien anzufertigen.
Er wechselte mehrmals die Schule und besuchte einige Zeit lang die Hochschule in Arbois, bevor er ans Collège Royal in Besancon wechselte. Je älter Louis wurde, desto besser wurden seine schulischen Leistungen: 1837/38 errang er so viele Schulpreise, dass ihm nahegelegt wurde, sich auf die École normale supérieure, die Pädagogische Fakultät, in Paris vorzubereiten. Der erste Versuch scheiterte an zu starkem Heimweh, der zweite klappte. Nach dem Baccalauréat studierte er dort fünf Jahre lang und promovierte 1847 zum Doktor der Naturwissenschaften mit gleich zwei Dissertationen, die je ein chemisches und ein physikalisches Thema behandelten. Noch während seiner Studienzeit führte Pasteur Experimente zur Struktur von Weinsäure durch und entwickelte den sogenannten Weinsäurekristalltest, der heute als Anfang der Stereochemie definiert wird.
Ursprünglich hatte Pasteur geplant, als Lehrer der Naturwissenschaften tätig zu werden. Als Gymnasialprofessor in Physik war er jedoch nur einige Monate am Lycée in Dijon tätig, denn zu Beginn des Jahres 1849 folgte er dem Ruf an die Universität von Straßburg, wo ihm eine Stelle als Assistent am Chemischen Institut angeboten worden war. Hier verliebte er sich in Marie Laurent, die Tochter des Rektors der Akademie Straßburg, und schrieb ihr: „Die Zeit wird Ihnen zeigen, dass sich unter meinem kalten und schüchternem Äußeren, das Ihnen möglicherweise nicht gefällt, ein Herz schlägt, das voller Liebe zu Ihnen ist“. Er unterzeichnete: „Ich, der ich meine Kristalle so sehr liebte.“
Beide heirateten bereits am 29. Mai, wobei sich der Wissenschaftler verspätete, da er im Laboratorium saß und den Termin vergessen hatte. Auch später war er so mit seiner Arbeit beschäftigt, dass die Familie – beide hatten fünf Kinder – zu kurz kam. In einem Brief an ihre Kinder an ihrem Hochzeitstag 1884 schrieb Madame Pasteur: „Euer Vater ist so beschäftigt wie immer: er spricht kaum mit mir, schläft wenig und steht schon im Morgengrauen auf; kurz, er führt dasselbe Leben, das ich heute vor 35 Jahren mit ihm zu teilen begann.“ Er erarbeitete sich in der Fachwelt rasch einen exzellenten Ruf als Chemiker und wurde 1853 von der Société de Pharmacie mit einem hochdotierten Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später übernahm er in Lille einen Lehrstuhl für Chemie und wurde zum Dekan berufen. Hier erwies sich Pasteur als innovativer Lehrer, der durchsetzte, dass die Studenten in neuen Laboratorien praxisorientiert ausgebildet werden konnten.
„Hass auf Preußen. Rache. Rache.“
Lille lebte von der Fabrikation des Runkelrüben- und Kornspiritus, so wandte er sich zunächst den Problemen der Gärung zu. 1857 entdeckt er, inzwischen Kanzler an der École Normale in Paris, das für die Milchsäuregärung verantwortliche Bakterium und gelangt später zur Theorie, dass einzellige Lebewesen an Fäulnis- und Verwesungsprozessen beteiligt sind. Pasteur weist nach, dass der Essigpilz die Essigsäure erzeugt und damit die Entstehung und Erhaltung von Wein beeinflusst. Er bezeichnet die winzigen Mikroorganismen als „Spaltpilze“ und schloss damit die konkurrierende Hypothese aus, die etwa von Justus von Liebig vertreten worden war, es handele sich um rein chemische Reaktionen ohne Beteiligung von Lebewesen.
Von Weinbauern seiner Heimatstadt Arbois um eine Lösung gebeten, die Entwicklung von Wein zu Essig zu verhindern oder zu verlangsamen, fand Pasteur heraus, dass das durch Erhitzen möglich war. Gleichzeitig musste er aber feststellen, dass dadurch der Geschmack des Weines zerstört wurde. Er experimentierte weiter und erkannte, dass nach kurzer Erhitzung auf eine Temperatur von 55° Celsius mit sofortigem Abkühlen sowohl die Bakterien abzutöten als auch der charakteristische Geschmack des Weines zu erhalten war: Als „Pasteurisieren“ wird die Technik bis heute in der Lebensmittelindustrie zur Haltbarmachung von Milch, daraus hergestellten Produkten sowie Gemüse- und Obstsäften angewandt.
1862 wurde Pasteur in die Akademie der Wissenschaften gewählt und befasste sich ab 1865 auf Bitte der Regierung mit Krankheiten der Seidenraupen. Er entdeckte winzige Parasiten, die die kranken Seidenraupen und ihre Nahrung, die Blätter der Maulbeere, befielen. Als einzige Lösung sah er die Vernichtung aller befallenen Seidenraupen und alles befallenen Futters, wodurch die Seidenindustrie gerettet wurde. Für Pasteur schien das, was für eine ansteckende Krankheit gilt, auch für andere zu gelten, womit der Grundstein der Keimtheorie gelegt war. Da er in Paris auch für die Disziplin unter den Studenten zuständig war, was ihn überforderte, wechselte er nach 1867 ausgebrochenen Studentenunruhen als Chemie-Professor an die Sorbonne. Im Jahr darauf erleidet er einen Schlaganfall, was zu einer partiellen halbseitigen Lähmung führt.
Der stockkonservative Wissenschaftler kündigte während des Deutsch-Französischen Kriegs an, künftig alle Werke mit „Hass auf Preußen. Rache. Rache.“ zu zeichnen. Einen Ehrendoktor der Universität Bonn gab er aus diesem Grund 1870 zurück und weigerte sich noch kurz vor seinem Tod, den preußischen Orden Pour le Mérite anzunehmen. 1875 kandidierte Pasteur für die Konservativen für einen Sitz im Senat für seine Heimatstadt Arbois, scheiterte aber weit abgeschlagen, weil er als Bonapartist galt. Abgesehen von diesem Ausflug in die Politik lebte Pasteur ausschließlich für die Wissenschaft, verfolgte auch keine Hobbys; in seiner Pariser Zeit verließ er nur selten das Quartier Latin, wo die für ihn wesentlichen Wissenschaftsinstitutionen lagen.
Da drei Töchter Pasteurs, Jeanne, Camille und Cécile, jeweils als Kind an Typhus starben, hatte er eine starke Motivation, seit den 1870er Jahren die Infektionskrankheiten nicht nur von Haustieren, sondern auch Menschen zu erforschen, und begann mit dem Milzbrand, gegen den er 1877 einen Impfstoff entwickelte. Zu dessen Produktion wurde ein zusätzliches Labor gebaut – der Beginn der Impfstoff-Industrie. Da Robert Koch ebenfalls zum Milzbrand forschte, gab es zeitweilig eine verbitterte, durch Missverständnisse hervorgerufene Konkurrenz, die teilweise auch öffentlich ausgetragen wurde. Durch Infizieren von Versuchshühnern mit abgeschwächten Erregern der Hühnercholera, einer nicht auf den Menschen übertragbaren tödlichen Vogelkrankheit, fand Pasteur heraus, dass die Tiere Antikörper bildeten und die Krankheit überlebten – das Prinzip der Immunisierung nahm Gestalt an. Für seine Tollwut-Forschung wurden Pasteur außerdem die alten Ställe des Schlosses Saint-Cloud zur Verfügung gestellt. Pasteur hatte zeitweise zehn Prozent der gesamten französischen Forschungsausgaben vereinnahmt. 1882 erhöhte der französische Staat seine Leibrente auf 25.000 Francs, vererbbar auf seine Frau und seine Kinder, was dem Doppelten des Gehalts eines Universitätsprofessors entsprach. Im selben Jahr wurde Pasteur als „Unsterblicher“ in die Académie française gewählt.
Karriere von Kontroversen begleitet
Die Erfolge bei der Tollwutimpfung verschaffen Pasteur finanzielle und organisatorische Freiheiten: Eine Flut von Spenden traf ein. Der für die Gründung eines Institut Pasteur aufgelegte Fonds schwoll auf 2,6 Millionen Francs an. Beim Bau des Institutsnahm der Architekt selbst kein Honorar, die Unternehmer berechneten nur ihre Selbstkosten und die Arbeiter arbeiteten gegen allen Brauch auch am Montag. Am 14. November 1888 wurde es in Anwesenheit von Präsident Carnot eingeweiht, Pasteur, der so gerührt war, dass er seine Rede von seinem Sohn vorlesen ließ, wurde erster Direktor. Nach dem Vorbild dieses weltweit ersten Forschungsinstituts für Medizinische Mikrobiologie entstanden Institute in aller Welt, so 1891 das Preußische Institut für Infektionskrankheiten in Berlin.
Gegenüber seinen Schülern und Mitarbeitern verhielt sich Pasteur autoritär, und er galt als völlig humorlos. Sein Labor führte er wie ein Familienvater, wobei er darauf achtete, dass seine Angestellten auch verwandtschaftlich verbunden waren. Durch mehrere Schlaganfälle war Pasteur ab 1887 gesundheitlich allerdings sehr angeschlagen, konnte spätestens ab 1890 keine wichtigen Beiträge zur Forschung mehr leisten und siechte die letzten Lebensjahre dahin. Der 70. Geburtstag Pasteurs am 27. Dezember 1892 wurde im großen Amphitheater der neuen Sorbonne vor über 2000 Personen gefeiert, unter ihnen auch der Präsident. Als Louis Pasteur gestützt an dessen Arm in den Festsaal geführt wurde, erscholl brausender, nicht endender Beifall. Es wurden viele Reden auf ihn gehalten. Nach seinem Tod wurde für ihn ein Staatsakt mit militärischen Ehren im Dom Nôtre Dame gegeben. Im Januar 1896 wurde er in einer Krypta im Institut Pasteur beigesetzt; Jahre später auch seine Frau.
Der visionäre Mikrobiologe legte mit seiner unermüdlichen Arbeit im Kampf gegen Krankheitserreger den Grundstein zur Vorbeugung von bakteriell und viral verursachten Infektionen und prägte die moderne Pharmakologie damit nachhaltig. Seine über 500 Arbeiten zeigen, dass eine strikte Trennung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung bei ihm nicht möglich ist: Er bearbeitete mit großem Elan anwendungsbezogene Probleme und stieß dabei regelmäßig zu Erkenntnissen von grundsätzlicher Bedeutung vor. Da die Diskussionskultur im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts generell stärker von Polemik geprägt war als heute, war seine Karriere von Kontroversen begleitet und seine Methode der Beweisführung stark rhetorisch geprägt.
Pasteur hatte sich bereits 1878 ausgebeten, seine Laborjournale niemandem zugänglich zu machen. Doch sein letzter überlebender Enkel übergab die Dokumente 1964 der Nationalbibliothek in Paris. Der Wissenschaftshistoriker Gerald Geison kam nach der Lektüre von über 100 dieser Journale mit Pasteurs schwer entzifferbarer Handschrift zu dem Schluss, dass die Geschichte von Pasteurs Versuchen in einigen Fällen anders abgelaufen ist, als seine Veröffentlichungen nahelegen. So habe er bei der Entwicklung des Tollwut-Impfstoffs zwei Patienten ohne vorige Tierversuche behandelt – ein junges Mädchen starb. Pasteur habe sich nicht immer an die wissenschaftlichen und ethischen Normen gehalten, die er selbst in seinen Arbeiten vertrat, so Geison. Das Buch verursachte in Frankreich einen Skandal – obwohl es nie übersetzt wurde.
Und Joseph Meister, Pasteurs erster geheilter offizieller Tollwutpatient? Der siebenfache Vater wurde, nach der Pleite seiner Bäckerei, 1913 Hausmeister an Pasteurs Institut. Zwei Töchter traten später ebenfalls in den Dienst des Instituts. Am 24. Juni 1940 nahm sich Meister das Leben – angeblich habe er sich geweigert, deutschen Soldaten Zugang zur Krypta seines Retters zu gewähren. Sein Freitod wurde von vielen Franzosen als Zeichen aufgefasst, dass das Elsass nie wieder deutsch werden würde.