„mit zentralafrikanischem Gruß“
3. September 2020 von Thomas Hartung
Seinen Namen tragen hierzulande nicht nur die SOS-Kinderdörfer, sondern auch weit über 100 Schulen. Der Deutsche Basketball Bund spielt in Erinnerung an ihn jedes zweite Jahr im Frühjahr in Mannheim einen Pokal für Jugend-Nationalmannschaften aus. Eine Dokumentation über ihn erhielt 1958 den ersten Oscar als Bester Dokumentarfilm. Daneben reformierte er den Orgelbau; auf seine Vorstellungen gingen die Instrumente in St. Reinoldi (Dortmund 1909) und Sankt Michaelis (Hamburg 1912) zurück. Und fast nebenbei erfand er den konvexen „Rundbogen“, dessen Haare beim Geigenspiel so entspannt werden können, dass ein gleichzeitiges Anstreichen aller Saiten möglich ist: Albert Schweitzer. Der Universalist starb am 4. September 1965 in Gabun.
Geboren am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Elsass, wuchs er im Pfarrhaus des oberelsässischen Günzbach – dem heutigen Gunsbach – auf, wo sein Vater Dorfpfarrer war. Das Hochdeutsche erlernte Schweitzer erst in der Schule, Deutsch und Französisch beherrschte er fast gleich gut. Im Alter von 17 Jahren gab er in Mühlhausen – dem heutigen Mulhouse – sein erstes Orgelkonzert. Ab 1893 studierte er an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität in Straßburg Theologie und Philosophie und ließ sich zugleich in Paris von Charles-Marie Widor zum Organisten ausbilden.
1894/1895 leistete Schweitzer sein Militärjahr beim Infanterieregiment 143 in der Manteuffel-Kaserne in Straßburg und fasste an Pfingsten 1896 den Entschluss, ab seinem 30. Lebensjahr einen Beruf auszuüben, mit dem er den Menschen helfen wolle. Er setzte das Studium der Philosophie und der Musik in Paris fort, ab 1899 in Berlin, wo er in Philosophie promovierte. 1900 wurde er mit einer Arbeit über das Abendmahl zum Doktor der Theologie promoviert und als Vikar an der Nikolaikirche eingesetzt. 1902 erfolgte an der Universität Straßburg die Habilitation in Evangelischer Theologie, damit wurde er Dozent für Theologie an der Universität. In seinem großen Buch über Johann Sebastian Bach (1905/1908) zeichnete er Bach als Dichter und Maler in Tönen. Auch als Herausgeber der Orgelwerke Bachs gemeinsam mit Widor erwarb er sich 1912/13 große Verdienste.
Von 1905 bis 1913 studierte Albert Schweitzer Medizin in Straßburg mit dem Ziel, in Französisch-Äquatorialafrika als Missionsarzt tätig zu werden. Die Immatrikulation war jedoch sehr kompliziert, da er ja bereits Dozent an der Universität war. Erst eine Sondergenehmigung der Regierung machte das Studium möglich. 1912 wurde er als Arzt approbiert, im gleichen Jahr wurde ihm der Titel eines Professors für Theologie verliehen auf Grund seiner „anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistungen“. In diesem Jahr heiratete er auch Helene Bresslau, die Tochter des jüdischen Historikers Harry Bresslau, und hat mit ihr eine Tochter. 1913 erschien seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, im selben Jahr folgte seine medizinische Doktorarbeit. Somit war er im Alter von 38 Jahren, bevor er nach Afrika ging, in drei verschiedenen Fächern promoviert, habilitiert und Professor.
„Humanisierung des Krieges“
Noch 1913 reiste Albert Schweitzer mit Helene nach Afrika und gründete auf dem Gelände der Pariser evangelischen Mission in Andende – einem Stadtteil von Lambaréné in Gabun – sein erstes Spital. Er begann in einem alten Hühnerstall, den er bald in einen Operationssaal umwandelte, fügte dann kleine Bambuspavillons für die Kranken an. Seine Frau wirkte als Verwalterin und Krankenschwester, ein Einheimischer assistierte ihr und diente als Dolmetscher. Wegen des weitverzweigten Flussnetzes war der Ort aus allen Himmelsrichtungen erreichbar. Nach der Fertigstellung des Krankenhausbaus konnte er ans andere Flussufer, nach Lambarene, umziehen.
1915 benutzte Schweitzer nach einer Schifffahrt auf dem Fluss Ogove erstmals den für sein weiteres Leben zentralen Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“; darin sah er zusammengefasst das „Grundprinzip des Sittlichen: Gut ist: Leben erhalten, Leben fördern, entwicklungsfähiges Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Böse ist: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten“. Dieses Grundprinzip sei denknotwendig, absolut und universal, Ausgangspunkt dieses Denkens ist ihm die Erkenntnis: „Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“. Der Erste Weltkrieg machte einen weiteren Ausbau seiner Krankenstation unmöglich, 1917 wurde Schweitzer wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft als Zivilinternierter nach Südfrankreich interniert.
1918 konnte er nach Straßburg zurückkehren, nahm die französische Staatsbürgerschaft an (obwohl er sich selbst gern als „Weltbürger“ bezeichnete) und arbeitete dort als Arzt und Vikar an der Nikolaikirche. Durch Vorträge, Bücher und Orgelkonzerte gelang es ihm, weitere Finanzmittel einzutreiben. 1924 kehrte er nach Afrika zurück, wo er nun ein größeres Krankenhaus bauen konnte. Bald wurde die Raumnot aber wieder zu groß, und er begann, drei Kilometer oberhalb der Missionsstation seine dritte Krankenstation zu bauen. Das 1927 bezogene neue Spital Lambaréné bot mehr als 200 Patienten Platz, europäische Ärzte und Krankenschwestern unterstützten Schweitzer. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Einrichtung aufgrund ihrer weltweiten Bekanntheit unzerstört. Er führte jahrzehntelang ein zweigeteiltes Leben: Der Arbeit in seinem Hospital standen längere Aufenthalte in Europa gegenüber, während denen er Konzerte gab, Vorträge hielt und Bücher schrieb – 27 waren es am Ende.
1928 erhielt Schweitzer den Goethepreis der Stadt Frankfurt; mit dem Preisgeld ließ er in Günzbach ein neues Haus bauen, in dem er dann während seiner Aufenthalte in Europa lebte. In seiner Rede zum 100. Todestag Johann Wolfgang von Goethes 1932 in Frankfurt warnte Schweitzer vor den Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus. Versuchen von Joseph Goebbels, den in Lambaréné weilenden Schweitzer einzuladen und für die NS-Ideologie zu gewinnen, erteilte er auf die „mit deutschem Gruß“ geschlossene Anfrage „mit zentralafrikanischem Gruß“ eine höfliche Absage. 1949 unternahm Schweitzer seine erste Reise in die USA, wo man in ihm „den größten Mann des Jahrhunderts“ sah. 1951 wurde Schweitzer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Für 1952 erhielt er 1953 den Friedensnobelpreis – mit dem Preisgeld errichtete er ein Lepradorf in Lambaréné. In seiner erst 1954 gehaltenen Dankesrede sprach sich Schweitzer deutlich für eine generelle Verwerfung von Krieg aus: „Krieg macht uns der Unmenschlichkeit schuldig“, „zitiert“ er Erasmus von Rotterdam. Infolge der Genfer Konvention von 1864 und der Gründung des Roten Kreuzes sei es zu einer „Humanisierung des Krieges“ gekommen, die dazu geführt hätte, dass die Menschen 1914 den beginnenden Ersten Weltkrieg nicht in der Weise ernst genommen hatten, wie sie dies hätten tun sollen. 1955 bekam er den Orden „Pour le mérite“ in der Friedensklasse, hinzu kamen Ehrendoktorwürden zahlreicher Universitäten.
Arzt und Atomkriegsgegner
Zum Teil wurden Schweitzer rassistische, paternalistische und pro-kolonialistische Einstellungen vorgeworfen. So kritisierte er die Unabhängigkeit von Gabun, weil das Land dafür noch nicht bereit sei. Chinua Achebe berichtete, dass Schweitzer gesagt habe, Afrikaner seien seine Brüder, jedoch seine „jüngeren Brüder“. Der amerikanische Journalist John Gunther besuchte Lambaréné in den 1950ern und kritisierte Schweitzers paternalistische Einstellung gegenüber Afrikanern: Diese würden dort nicht als Fachkräfte eingesetzt. „Mein Vater kam mir immer wie ein Patriarch im Alten Testament vor, mit seiner Sippe von schwarzen und weißen Menschen“, erinnert sich seine Tochter an ihre Aufenthalte in dem Hospital. „Und obwohl er unerbittlich sein konnte über die Art, in der er etwas getan haben wollte, nahm man das hin, denn er hatte dieses Lambaréné geschaffen.“
Aufsehen lösten 1957 drei vom Rundfunk in Oslo ausgestrahlte Reden aus, in der er gegen die Kernwaffenversuche auftrat und zur Vernunft angesichts der atomaren Weltgefahr mahnte; sie erschienen als Buch unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ und wurden in viele Sprachen übersetzt. Immer größer wurde seine Wirksamkeit im europäischen Kulturleben durch Orgelkonzerte, Vorträge und Reden; seine ethischen Impulse wurden nicht nur im europäischen Raum, sondern in der ganzen Welt gehört und gewürdigt. Nach dem Abschluss des Versuchsstoppabkommens im Jahr 1963 beglückwünschte Schweitzer John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow brieflich zu ihrem „Mut und Weitblick, eine Politik des Friedens einzuleiten“. Allerdings protestierte er im selben Jahr noch einmal öffentlich gegen die nach dem Vertrag weiterhin erlaubten unterirdischen Kernwaffentests.
1957 starb seine Frau. Ende der 1950er Jahre wich die Verehrung Schweitzers einer kritischen Bestandsaufnahme seines Hospitals. Viele kritische Äußerungen richteten sich vordergründig gegen Schweitzers Tätigkeit in Lambaréné, zielten aber offensichtlich auf die Diskreditierung seines öffentlichen Ansehens als Friedensnobelpreisträger im Zusammenhang mit seinem Engagement gegen die Atomrüstung. Theodor Heuss, den er noch aus seiner Jugendzeit kannte und den er bei dessen Heirat getraut hatte, beanstandete Schweitzers Briefwechsel mit Walter Ulbricht und die Kontakte mit der Deutschen Friedens Union DFU. Parallel dazu erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universitäten Münster und Braunschweig und ist seit 1959 Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main.
1964, ein Jahr vor seinem Tode, übertrug Schweitzer, inzwischen überzeugten Veganer, die ärztliche Leitung des Spitals dem Schweizer Arzt Walter Munz. Immer noch kamen hunderte Patienten täglich. Anfang 1965 besuchten den Mann mit dem markanten Schnauzbart anlässlich seines 90. Geburtstages zahlreiche Repräsentanten aus aller Welt in seinem Krankenhaus in Afrika. Begraben wurde er neben seiner Frau. Drei Monate tanzten Afrikaner immer wieder Totentänze, um den Menschen im Jenseits zu zeigen, was für ein bedeutender Mann zu ihnen kommt – Totentänze dauerten sonst kaum eine Woche. Das Krankenhaus – heute eine Siedlung mit über 1000 Menschen – ging später auf die Schweitzer-Stiftung über. Im Wohnhaus Schweitzers in Günsbach wurden ab 1967 Archiv und Museum eingerichtet. Heute befinden sich hier tausende Briefe und viele Manuskripte seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Bücher und Predigten, daneben Dias, Filme, Tonband- und Videokassetten, Tonbänder und Schallplatten mit seinen musikalischen Aufnahmen.
„Sühne zu leisten“
In diesem Jahrtausend nahm die Kritik post mortem an Schweitzer erneut zu. André Audoynaud, sein ärztlicher Direktor Anfang der Sechziger Jahre, kritisierte, Schweitzer habe sein Hospital trotz hoher Spenden nicht modernisiert und unelektrifiziert gelassen, unhygienische und krankheitsfördernde Zustände mit der Begründung von Tierliebe geduldet, Symptomkuriererei betrieben und blind das europäische Modell der Krankenversorgung übertragen. Überdies habe er einen kolonialen Führungsstil gepflegt, schwarze Angehörige von Erkrankten zu Fronarbeit gezwungen und geschlagen. Er sei – dem 19. Jahrhundert verhaftet – in Afrika ein Fremder geblieben, habe trotz großer Unterstützung wenig bewirkt, sich aber medienwirksam mit fremden Federn geschmückt.
Diese Kritik wurde allerdings erst 2005 veröffentlicht; es gibt so gut wie keine Augenzeugen mehr, um die Vorwürfe zu überprüfen. Einzelne Vorwürfe können zudem widerlegt werden: Im dokumentarischen Film „Albert Schweitzer“ bereitet sich ein schwarzer Mediziner auf eine Operation vor. Zumindest im Jahre 1964 war der Operationssaal mit einem Generator versehen und mit elektrischen Operationsleuchten ausgestattet. In seiner 2009 erschienenen Biographie über Albert Schweitzer bezeichnete ihn der Theologe Nils Ole Oermann als einen „Meister der Selbstinszenierung“, ohne jedoch die großen Leistungen Schweitzers zu leugnen.
„Er war ein ruhiger Mensch, mit einem Sinn für trockenen Humor, doch er konnte auch zornig werden“, erinnerte sich Ary Van Wijnen 2009, einer seiner medizinischen Direktoren. „Er war eine starke Persönlichkeit und ein kleiner Diktator – aber nicht im schlechten Sinne. Er konnte gut zuhören, man konnte mit ihm diskutieren und ihn dabei auch überzeugen.“ Van Wijnen gab zu, dass er für einige Menschen „fast wie ein Heiliger“ war und man ihn zu viel herausgestellt habe. Dennoch sei er „sehr sensibler Mensch“ gewesen: „Er hat auch geschrieben, wir sind nicht nur in Afrika, um zu entdecken, sondern um etwas Gutes zu tun und damit Sühne zu leisten.“ Schweitzers Jugenderinnerungen bezeichnete Hermann Hesse als „beste Jugenderinnerung im deutschen Sprachraum“.