„Sie löste Völkerwanderungen aus“
7. Oktober 2020 von Thomas Hartung
Dass er 1985 in die National Inventors Hall of Fame und 1998 in die TIME-Liste der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts aufgenommen wurde, war in seiner Kindheit nicht absehbar – er hatte Schwierigkeiten beim Erlernen der Bruchrechnung. Seine Mutter erklärte ihm daraufhin das mathematische Konzept, indem sie Äpfel in unterschiedlich große Stücke teilte. Er sagte später, dass dies die wichtigste Lektion seines Lebens war, denn er erkannte den Wert intelligenter Problemlösung. Am 17. Juli 1902 entwickelte er als 26jähriger die erste moderne Klimaanlage und schuf dadurch einen Industriezweig, der fundamental verändern sollte, wie wir leben und arbeiten: Willis Haviland Carrier. Am 7. Oktober 1950 starb er in New York.
Die Idee dazu soll ihm auf einem nebligen Bahnsteig in Pittsburgh gekommen sein: Carrier erkannte, dass sich die Luftfeuchtigkeit regulieren lässt, indem Luft durch Wasser geführt und dadurch Nebel erzeugt wird. Anlass seiner Überlegungen war die Anfrage der Lithoanstalt Sackett & Wilhelms, bekannt für hochwertige Colordrucke, an den Heizlüfterproduzenten Buffalo Forge Company, ob es jemanden gebe, dem etwas gegen hohe Luftfeuchtigkeit einfiele. Denn: bei Hitze schwankte die Luftfeuchtigkeit so sehr, dass sich das Papier verzog, die Konturen verwischten und Fehldrucke en masse das Geschäft zu ruinieren drohten. Carrier, damals blutjunger Ingenieur, bekam einen kleinen Raum zum Tüfteln, baute kurzerhand eine normale Heizung um und pustete per Ventilator Luft in die Rohre, die er mit Wasser kühlte.
Der Grundgedanke dahinter ist ganz einfach: Je wärmer die Luft, desto mehr Feuchtigkeit kann sie tragen. Je kälter der Raum, desto weniger Feuchtigkeit ist in ihm enthalten. Ergo: Je kühler die Druckerei, desto glatter bleibt das Papier. So entzog sein Apparat, wie gewünscht, der Luft Feuchtigkeit und kühlte sie nebenbei auch noch. Es ist eine Ironie der Technikgeschichte, dass ein simpler Trick, der zur Kühlung eines Raumes dient, erst dann angewendet wurde, als diese Kühlung einem ganz anderen Zweck dienen sollte, nämlich die Luftfeuchtigkeit zu verringern.
Der „Father of Cool“ oder „Vater der modernen Klimaanlage“ verhalf zahlreichen Branchen zum Aufstieg: Lebensmittelfertigung wurde vielfach durch Klimatechnik erst möglich. Klimaanlagen bereiteten auch den Weg für die ersten Sommer-Kinofilme, denn die Menschen strömten in die kühlen Kinosäle, um der Hitze zu entkommen. Dank der präzisen Steuerung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit gibt es heute Einkaufszentren, Serverräume – und Transatlantikflüge: „Erst dieser Kasten ermöglichte die Globalisierung“, befand Uli Kulke in der Welt. „Die Klimaanlage sollte die Welt verändern, weltvergessene Tropennester in boomende Industrie- und Handelszonen verwandeln, deren Wohlstand wie ein Magnet die Menschen vom Land anlockte, wo ihre Arbeit nicht mehr benötigt wurde. Sie löste Völkerwanderungen aus.“
„Die Leute werden es mögen“
Geboren wurde Carrier am 26. November 1876 in New York. Von seiner Kindheit ist wenig bekannt außer, dass er die Vorliebe seiner Mutter für Basteleien erbte. 1895 erhielt er ein Stipendium an der Cornell University und schloss sein Studium 1901 mit einem Bachelor in Maschinenbau ab. Bei Buffalo Forge, seiner ersten Anstellung, wurde er nach seinem Erfolg bei Sackett & Wilhelms Direktor der Entwicklungsabteilung. Da seine Erfindung zunächst nicht auf die Temperatur, sondern die Luftfeuchtigkeit zielte, ging sie nicht als Kühlmaschine in die Überlieferung ein: Das englische „air conditioner“ (A/C) könnte man eher als „Luftverbesserer“ übersetzen. Das Patent auf seinen Geistesblitz meldete der Erfinder als „Apparat zur Behandlung von Luft“ an. Am 2. Januar 1906 wurde es unter „No. 808897“ erteilt, kurz darauf die Carrier Air Conditioning Company zunächst als Tochterfirma von Buffalo Forge gegründet.
In den Jahren danach forschte Carrier auch über Psychrometrie und stellte 1911 ein vervollkommnetes Verfahren zur Feuchtebestimmung durch vergleichende Temperaturmessung vor. Er entwickelte das Carrier-Diagramm, mit dem sich Zustandsänderungen feuchter Luft durch Erwärmung, Befeuchtung, Entfeuchtung, Kühlung und Mischung verschiedener Luftmengen bei einem bestimmten Luftdruck beschreiben lassen. Infolge des Ersten Weltkriegs trennte sich Buffalo Forge vom Geschäft mit Klimaanlagen. Carrier gründete 1915 mit sechs Kollegen und einem Startkapital von 35.000 Dollar die Carrier Engineering Corporation. Das Unternehmen ist bis heute Weltmarktführer auf dem A/C-Markt.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Vorteile der Klimaanlagen herumsprachen. Filmfabriken, Tabakhersteller, Fleischverarbeiter – Gewerbebetriebe mit empfindlicher Ware waren die Ersten, die sie nutzten. 1919 folgte das erste Kaufhaus. 1924 gelang es Carrier, den Besitzer des New Yorker Kinos „Rivoli Theatre“ zum Einbau einer Klimaanlage zu überreden. Zur ersten Vorstellung mit Tiefkühlung – welcher Film an diesem denkwürdigen Tag zur Aufführung gebracht wurde, ist nicht überliefert – kam Adolph Zukor höchstselbst, der mächtige Präsident der Paramount Pictures. Vom Schweiße befreit, war er vom Kunstklima ebenso begeistert wie alle anderen Premieren-Gäste: „Die Leute“, prophezeite er, „werden es mögen.“ Der Umsatz des „Rivoli“ stieg sprunghaft, schon nach drei Monaten hatte sich die Installation der Anlage amortisiert.
Innerhalb der nächsten fünf Jahre verwandelte Carrier 300 Kinos im ganzen Land in Kühlhäuser, dann nahm er sich Büros, Hotels und Geschäfte vor, schließlich konstruierte er einen Kühlkörper für Wohnräume. Der Erste, der die Tragweite dieser Konstruktion erkannte, war der texanische Schriftsteller Frank Dobie, kurz nachdem 1928 die erste Klimaanlage in einem Privathaus eingebaut wurde: „Texas wird zugrunde gehen“, schrieb er, „jetzt können die Yankees auch hier leben.“ Und die Nordstaatler kamen, massenhaft. Carrier verlegte 1930 sein Unternehmen nach Syracus (New York) und gründete zeitgleich in den weltweit größten Märkten für Klimaanlagen die „Toyo Carrier“ in Japan und in Südkoreas Hauptstadt Seoul die „Samsung Applications“. 1935 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Lehigh University, 1942 der Alfred University.
Störungen des Wohlbefindens
1939 bot Packard als erster Fahrzeughersteller eine Klimaanlage an. In den 40er Jahren gehört seine Erfindung bereits zum American Way of Life und revolutionierte zudem die Architektur US-amerikanischer Metropolen – und später das Wachstum der asiatischen Megacities: Da in den obersten Stockwerken das Öffnen der Fenster zum Lüften extrem schwierig ist, wären Wolkenkratzer wie das Empire State Building ohne Carriers Erfindung gar nicht möglich gewesen. Dass Carrier dieser Beitrag zur Kultur zum Millionär machte, versteht sich in Amerika von selbst. Inzwischen geben die Amerikaner jährlich über 20 Milliarden Dollar für seine Erfindung aus: Zwei Drittel aller neugebauten Häuser sind klimatisiert, in 83 Prozent aller Autos ist sie verbaut.
Nach Carriers relativ unbemerktem Tod traten zwei Schattenseiten seiner Innovation zutage. Zum ersten wandelten sich nach der Ersetzung von Ammoniak als Kältemittel in den Anfangsjahren Sicherheitskältemittel wie Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnis vom Allheilmittel zum Ozonschichtfresser: Die Klimaanlage sorgt für Kühlung und treibt damit die Temperaturen in die Höhe. Zum anderen hat sich die Alte Welt mit der Klimamaschine nie so recht befreunden können. Häufig klagen hierzulande Arbeitnehmer über Störungen des Wohlbefindens.
Untersuchungen wie die des Wissenschaftlers Dr. Peter Kröling vom Institut für Medizinische Balneologie und Klimatologie der Universität München haben laut Spiegel nachgewiesen, dass in vollklimatisierten Räumen Arbeitende wesentlich häufiger über „übermäßige Müdigkeit“, „rasche Erschöpfbarkeit“ und „Kreislaufstörungen“ leiden. Das Kunstklima erhöht, so ein weiteres Ergebnis der Studie, überdies die Neigung zu Erkältungskrankheiten, verstopfter Nase, entzündeten Augen sowie Gelenk- und Gliederschmerzen – jeder dritte Befragte nahm deswegen regelmäßig Medikamente, auch der Tee- und Kaffeekonsum war im klimatisierten Bereich erheblich höher.
Der verstorbene Lee Kuan Yew, Premierminister Singapurs, antworte auf die Frage des Wall Street Journals, welche Erfindung die wichtigste des letzten Jahrtausends gewesen sei, „Die Klimaanlage“. Der Aufklärer Montesquieu würde sich bestätigt sehen. Hatte er doch 1748 die ungleiche Entwicklung der Welt darauf zurückgeführt, dass Hitze die Produktivität senke und unternehmerische Kühnheit unterdrücke, während in kühlen Ländern der Mut regiere und zum Erfolg führe. Dank Carrier ist die gewinnbringende Kühle heute überall machbar, wo sie benötigt wird.