„Tutti fratelli“
30. Oktober 2020 von Thomas Hartung
„Die Sonne des 25. Juni [1859] beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Straßen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote, und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinne des Wortes mit Leichen übersät. Getreide und Mais sind niedergetreten, die Hecken zerstört, die Zäune niedergerissen, weithin trifft man überall auf Blutlachen.“ Der das schrieb, war eigentlich Geschäftsmann und nur zufällig am Ort des Geschehens vorbeigekommen. Der Tag sollte sein Erweckungserlebnis werden und zur Gründung des „Roten Kreuzes“ führen: Henry Dunant. Am 30. Oktober 1910 starb er.
Das Soziale war ihm in die Wiege gelegt: Der Vater, ein Kaufmann, ist einflussreich im Rat der Stadt Genf, spendet für die Armen, betreut Waisenkinder. Die Mutter nimmt den am 8. Mai 1828 als erstes von fünf Kindern geborenen Henry früh in die Arbeiterviertel mit, in denen sie sich um Bedürftige kümmert. Mitprägend war für ihn eine Reise mit seinem Vater nach Toulon, wo er die Qualen von Galeerenhäftlingen mitansehen musste. Der Junge macht den streng calvinistischen Eltern zunächst keine Ehre. Zweimal bleibt er sitzen, fliegt vom Collège de Genève und begann 1849 eine dreijährige Lehre bei den Geldwechslern Lullin und Sautter. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung blieb Dunant als Angestellter in der Bank tätig.
Die Erziehung zur Nächstenliebe erweist sich als fruchtbarer: Der Jugendliche bringt Strafgefangenen die Bibel nahe, gehört in der Evangelischen Allianz, die zur Entstehung der CVJM-Gruppen in verschiedenen Ländern beitrug, 1847 zu den fünfzehn Gründern des schweizerischen Ablegers und gründet 1852 den Genfer Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) mit. Seine Bank vermittelt Dunant zu einer Kolonialgesellschaft, für die er nach Sizilien, Tunesien und Algerien reist. Er ist erfolgreich, auch mit waghalsigen Geschäften. Seine Reiseeindrücke schreibt er in einem Buch auf, das ihm Zugang zu wissenschaftlichen Gesellschaften eröffnet.
1856 gründete er eine eigene Kolonialgesellschaft und, nachdem er im französisch besetzten Algerien eine Landkonzession erworben hatte, zwei Jahre später unter dem Namen „Finanz- und Industriegesellschaft der Mühlen von Mons-Djémila“ ein Mühlengeschäft. 1858 nahm Dunant neben seiner Schweizer auch die französische Staatsbürgerschaft an, um sich dadurch den Zugang zu Landkonzessionen der Kolonialmacht Frankreich in Algerien zu erleichtern. Doch die Land- und Wasserrechte waren nicht klar geregelt, die zuständigen Kolonialbehörden verhielten sich darüber hinaus nicht kooperativ. So beschloss er, sich direkt an Kaiser Napoléon III. zu wenden, als dieser sich während des Sardinischen Krieges mit seinem Heer in der Lombardei aufhielt, und begab sich auf die Reise nach Solferino, um den Kaiser in seinem Hauptquartier persönlich zu treffen.
„das gleiche Wohlwollen“
Mehr als 300.000 Soldaten hatten einander an einer 16 Kilometer langen Front gegenübergestanden, als er am Abend des Schlachttags eintrifft. Die Österreicher werden geschlagen, der Weg zur Einigung Italiens ist frei. Auf dem Schlachtfeld bleiben 38.000 Verletzte, Verstümmelte, Sterbende, Tote zurück. In Castiglione delle Stiviere, acht Kilometer von Solferino, erlebt Dunant, wie Soldaten ihre verwundeten Kameraden auf den Schultern in improvisierte Lazarette schleppen. Der Handlungsreisende vergisst das Geschäftliche und hilft, wo er kann. „Die Frauen von Castiglione erkennen bald, dass es für mich keinen Unterschied der Nationalität gibt, und so folgen sie meinem Beispiel und lassen allen Soldaten, die ihnen völlig fremd sind, das gleiche Wohlwollen zuteilwerden. ‚Tutti fratelli‘ wiederholen sie gerührt immer wieder“, schreibt Dunant. Tutti fratelli, alle sind Brüder – ein verwundeter Soldat, so sein Postulat, hat ein Recht auf Hilfe, ganz gleich, welche Uniform sein Blut befleckt.
Für sein Wirken in Solferino erhielt er im Januar 1860, zusammen mit dem Genfer Arzt Louis Appia, vom sardischen König Viktor Emanuel II. den Orden des Heiligen Mauritius und Lazarus, später die zweithöchste Auszeichnung des Königreichs Italien. Da er das Erlebte nicht vergessen konnte, begann er ein Buch mit dem Titel „Eine Erinnerung an Solferino“ zu schreiben, in dem er die Schlacht, das Leiden und die chaotischen Zustände in den Tagen danach darstellte. Darüber hinaus entwickelte er die Idee, wie künftig das Leid der Soldaten verringert werden könnte: Auf einer Basis von Neutralität und Freiwilligkeit sollten in allen Ländern Hilfsorganisationen gegründet werden, die sich im Fall einer Schlacht um die Verwundeten kümmern würden. Im September 1862 ließ er das Buch auf eigene Kosten in einer Auflage von 1.600 Exemplaren drucken und verteilte es anschließend in ganz Europa an Persönlichkeiten aus Politik und Militär. Rasch folgten zwei weitere Auflagen und Übersetzungen in elf Sprachen.
Der Präsident der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, der Jurist Gustave Moynier, machte das Buch und Dunants Ideen zum Thema der Mitgliederversammlung der Gesellschaft am 9. Februar 1863. Dunants Vorschläge wurden von den Mitgliedern als sinnvoll und durchführbar bewertet, er selbst wurde zum Mitglied einer Kommission ernannt, der neben ihm und Moynier den General Dufour sowie die Ärzte Appia und Maunoir angehörten. Während der ersten Tagung am 17. Februar 1863 beschlossen die fünf Mitglieder, die Kommission in eine ständige Einrichtung umzuwandeln. Dieser Tag gilt damit als Gründungsdatum des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, das seit 1876 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt. Dufour wurde zum ersten Präsidenten ernannt, Moynier Vizepräsident und Dunant Sekretär.
Doch zwischen Moynier und Dunant entwickelten sich rasch Meinungsverschiedenheiten. So hatte der Jurist wiederholt den Vorschlag Dunants, Verwundete, Pflege- und Hilfskräfte sowie Lazarette unter den Schutz der Neutralität zu stellen, als undurchführbar bezeichnet und Dunant aufgefordert, nicht auf dieser Idee zu beharren. Dunant setzte sich jedoch bei seinen nun folgenden umfangreichen Reisen durch Europa und seinen Gesprächen mit hochrangigen Politikern und Militärs mehrfach über die Meinung Moyniers hinweg. Auf seine Bitte um Unterstützung während einer Audienz antwortete König Johann von Sachsen mit einem Satz, den Dunant in der Folgezeit vielfach zitierte: „Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, denn sicherlich würde ein Volk, das sich nicht an diesem menschenfreundlichen Werke beteiligte, von der öffentlichen Meinung Europas in die Acht erklärt werden.“ Dies verschärfte den Konflikt zwischen dem Pragmatiker Moynier und dem Idealisten Dunant weiter und führte zu Bestrebungen Moyniers, Dunants ideellen Führungsanspruch zu diskreditieren.
Auf einer Konferenz auf Einladung des Schweizer Bundesrates unterzeichneten am 22. August 1864 zwölf Staaten die erste Genfer „Konvention, die Linderung des Loses der im Felddienste verwundeten Militärpersonen betreffend“. Hier einigte man sich auch auf ein einheitliches Symbol zum Schutz der Verwundeten und des Hilfspersonals: das leicht und weithin erkennbare Rote Kreuz auf weißem Grund, die Umkehrung der Schweizer Flagge. Dunant, auf dieser Konferenz nur mit sekundären Aufgabe betraut, stand in den folgenden zwei Jahren dennoch im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und erhielt zahlreiche Ehrungen und Einladungen. Im Mai 1865 traf er in Algier persönlich mit Napoleon III. zusammen und erhielt die unverbindliche Zusage, dass seine Unternehmungen in Algerien unter dem Schutz der französischen Regierung stehen würden. 1866 erlebte er nach dem Ende des Preußisch-Österreichischen Krieges auf Einladung Augustas, der Frau des preußischen Königs, zu den Siegesfeierlichkeiten in Berlin, wie bei der Siegesparade der preußischen Armee Fahnen mit dem Roten Kreuz neben der Nationalflagge gezeigt wurden.
Krieg mit Moynier
Doch so rasch er gestiegen war, sank sein Stern auch. Mehr und mehr vernachlässigt Dunant seine eigentlichen Geschäfte. Sein Algerien-Projekt scheitert, damit sind die Investitionen seiner Verwandten und Freunde dahin. 1867 wird Dunant gar des betrügerischen Bankrotts für schuldig befunden, was zwingend den moralischen Ruin in der Genfer Gesellschaft nach sich zog. Das Rote Kreuz 1867 und der CVJM 1868 schließen ihren Mitgründer aus. Dunant, der seine Heimatstadt nie wiedersehen sollte, irrt durch Europa, ist zeitweise obdachlos. Moynier nutzte in der Folgezeit offenbar seine Beziehungen und seinen Einfluss, um zu verhindern, dass Dunant von Freunden und Unterstützern aus verschiedenen Ländern finanzielle Hilfe erhielt. So scheiterte ein Angebot Napoléon III., die Hälfte der Schulden Dunants zu übernehmen, wenn dessen Freunde für die andere Hälfte aufkämen, ebenfalls an Moynier. Beide werden sich zeitlebens nicht aussöhnen.
Dunant versuchte jedoch weiter, sich entsprechend seinen Vorstellungen und Idealen zu betätigen. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 gründete er eine Allgemeine Fürsorgegesellschaft und kurz darauf eine Allgemeine Allianz für Ordnung und Zivilisation. Deren Ziele waren die Verminderung der Zahl bewaffneter Konflikte und des Ausmaßes von Gewalt und Unterdrückung, indem durch Bildung die moralischen und kulturellen Standards der einfachen Bürger der Gesellschaft verbessert werden sollten. Zusammen mit dem Italiener Max Gracia regte er die Gründung einer Weltbibliothek an – eine Idee, die etwa 100 Jahre später durch die UNESCO aufgegriffen wurde. Zu seinen weiteren, teils visionären Ideen gehörte die Gründung eines Staates Israel.
Mit seinem Engagement vernachlässigte er seine persönlichen Angelegenheiten, verschuldete sich weiter und wurde nur nicht von der Umgebung gemieden, sondern auch von der Rotkreuzbewegung nahezu vergessen, obwohl ihn mehrere nationale Gesellschaften zum Ehrenmitglied ernannten. Dunant zog sich noch weiter aus der Öffentlichkeit zurück und entwickelte eine ausgeprägte Menschenscheu, die sein Verhalten bis zu seinem Lebensende entscheidend prägte. Er führte eine einsame Existenz in materiellem Elend, zwischen 1874 und 1886 unter anderem in Stuttgart, Rom, Korfu, Basel und Karlsruhe. Nur wenige Details zu seinem Leben sind aus dieser Zeit bekannt.
Ab 1887 erhielt er, zu der Zeit in London lebend, von seinen Angehörigen eine kleine monatliche finanzielle Unterstützung, die ihm einen zwar bescheidenen, aber dennoch sicheren Lebensstil ohne Armut ermöglichte. Er ließ er sich im Juli des gleichen Jahres in Heiden im Gasthof „Paradies“ nieder, ab 1892 dann im Spital des Ortes: In Zimmer 12 verbrachte er völlig zurückgezogen seinen Lebensabend, der zunehmend von religiös-mystischen Gedanken und prophetischen Vorstellungen geprägt war. Erst als der St. Galler Journalist Georg Baumberger 1895 in einem vielfach nachgedruckten Artikel an Dunants Verdienste erinnert, erhält dieser Ehrungen, Orden, Sympathiebekundungen und Unterstützung aus der ganzen Welt – auch wenn das Internationale Komitee in Genf weiterhin jeden Kontakt zu ihm vermied. Dank einer jährlichen Rente der russischen Zarenwitwe und Kaiserinmutter Maria Feodorowna besserte sich seine finanzielle Lage. Er beginnt seine Lebenserinnerungen zu schreiben.
„begraben wie einen Hund“
1901 wird ihm gemeinsam mit dem Friedensaktivisten Frédéric Passy der erste aller Friedensnobelpreise verliehen – eine Rehabilitation nach 34 Jahren. Eine im Sinne von Nobels Testament unumstrittene Verleihung, erklärt die Heidener Museumsleiterin Elvira Steccanella im DLF: „Bertha von Suttner war nicht so glücklich, ich denke einerseits, dass sie nicht den Friedensnobelpreis gekriegt hat. Andererseits: sie war eine aktive Pazifistin und meinte eigentlich, dass Dunant mit seinem Friedenskonzept nicht zur Abschaffung des Krieges beitrage, wie es im Testament formuliert war, sondern nur zur Minderung des Krieges. Aber der Krieg wurde eigentlich mit seinem Handeln, mit dem Roten Kreuz nicht abgeschafft.“
Einem Freund gelang es, Dunants Anteil des Preisgeldes in Höhe von 104.000 Schweizer Franken bei einer norwegischen Bank zu verwahren und so vor dem Zugriff durch dessen Gläubiger zu schützen. Dunant selbst tastete das Geld zeit seines Lebens nicht an. 1903 erhielt er zusammen mit Moynier die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er zunehmend in Depressionen sowie der Angst vor Verfolgung durch seine Gläubiger und seinen Widersacher Moynier. Er wurde in Zürich bestattet. In seinem Testament stiftete er ein Freibett im Spital in Heiden für die Kranken unter den armen Bürgern des Ortes und spendete an gemeinnützige Organisationen in Norwegen und der Schweiz. Dass ihm eine vollständige Begleichung seiner Schuldenlast nicht möglich war, hatte ihn bis an sein Lebensende belastet.
Bis heute ist Henry Dunant ein Mann, der polarisiert. Seine umfangreichen Schriften müssen größtenteils noch aufgearbeitet werden, um die vielfältigen Facetten seiner calvinistisch geprägten Persönlichkeit zu verstehen, meint der Theologe Andreas Ennulat im DLF: „Das, was er an Positivem hat erreichen können, seine vielen großartigen Ideen, die er gehabt hat, die von anderen wohlbemerkt umgesetzt wurden, das hat ihm einfach nie genügt. Und das hat mit seiner religiösen Grundauffassung zu tun, entweder gehöre ich dazu, zum Heil, oder ich gehöre nicht dazu und dann, dann sollen sie mich begraben, wie einen Hund.“ Vier Jahre nach seinem Tod beginnt ein Krieg, gegen den die Schlacht von Solferino nur ein Scharmützel war. 1949 wurde die „Genfer Konvention“ angepasst an moderne Formen der Kriegsführung, sie ist heute von fast allen Staaten anerkannt. Der Geburtstag des Weltverbesserers wird jährlich ihm zu Ehren als Weltrotkreuz- und Rothalbmond-Tag begangen. Die Zahl der weltweit nach ihm benannten Straßen, Plätze, Schulen und anderen Einrichtungen ist kaum zu zählen.