„seine Tabubrüche sind entschärft“
31. Oktober 2020 von Thomas Hartung
Gemeint war Alice Schwarzer: Er kenne das Fräulein nicht, wisse aber, dass sie „nicht sehr hübsch“ aussehe, zitiert der Spiegel den Starfotografen, der 1994 auf ihren Geheiß tatsächlich bestreiten sollte, dass seine Bilder faschistoid seien. Er tat es nicht: „So, wie die Mädels dastehen, die ganze Auffassung – da könnte man sagen, faschistisch. Sie müssen sehen, den Begriff faschistisch verstehe ich ästhetisch“, antwortete er der EMMA-Herausgeberin und Vorzeigefeministin. So viel Selbstbezichtigung überraschte sogar die gescholtene Kontrahentin, die staunte: „Ich frage mich, ob er tatsächlich so naiv ist oder nur so tut. Mein Vorwurf bezieht sich ausschließlich auf seine Arbeit, seine Ästhetik. Dies ist eine Bilderanalyse. Ich erlaube mir kein Urteil über den Menschen“. Der Künstler heißt Helmut Newton, galt als einer der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart, ja mit einem Tageshonorar von rund 5.000 Dollar als einst teuerster Fotograf der Welt.
Anlass der Kontroverse war eine Werkschau in Hamburg, deren Fotos laut Schwarzer nicht nur „sexistisch und rassistisch [sind] – sie sind auch faschistisch. Denn seine Bilder transportieren und propagieren die Ideologie vom Herrenmenschen und seinen Untermenschen. Bis zur letzten Konsequenz.“ Für diese Äußerungen, die keine wissenschaftliche Bildanalyse, sondern „eine kritisch-polemische Auseinandersetzung“ seien, illustriert mit neunzehn Newton-Photos, musste sich die Herausgeberin vor dem Münchner Landgericht verantworten.
Verklagt hat sie Newtons Verlag Schirmer/Mosel, weil die Redaktion vor Drucklegung weder die Genehmigung für den Abdruck der Fotos eingeholt noch das fällige Honorar von 38.000 Mark gezahlt hat. Schwarzer verlor, zum Glück, wie Silvia Bovenschen im Spiegel befand: „Wenn das, wofür der Name Newton steht, auf der verbotenen Seite der Korrektheitsgrenze landet, wenn es dem korrekten Blick nicht länger zugemutet werden dürfte, dann wird es offen um die Zumutung gehen, einen Teil der Bildbestände unserer Museen und Archive unter Verschluss zu bringen.“
Der Sohn einer wohlhabenden jüdischen Knopffabrikantenfamilie kam am 31. Oktober 1920 in Berlin als Helmut Neustädter zu Welt und besuchte bis 1936 das Gymnasium. Er brach es ab, nachdem er mehr dem Schwimmen und den Mädchen zugetan war – und dem Fotografieren: „Eines Tages im Jahr 1932, als ich zwölf Jahre alt war, ging ich in eine Art Tante-Emma-Laden in Berlin und kaufte mir von meinem Taschengeld eine Kamera. Es war eine Zeiss Box Tengor für 3,50 Mark, inklusive einer Filmrolle.“ Da half auch nichts mehr, dass seine Mutter die Kamera wegschloss und Nachhilfestunden ansetzte, als seine schulischen Leistungen zu wünschen übrig ließen.
Er begann noch 1936 eine Lehre als Fotograf bei der damals bekannten Berliner Fotografin Yva (Else Neuländer-Simon), die nach dem Berufsverbot 1938 ihr Atelier schließen musste und später von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Zu der Zeit, kurz nach seinem 18. Geburtstag, am 5. Dezember 1938, flüchtete die Familie vor den Nazis – die Eltern und der Bruder gehen nach Südamerika, Helmut dagegen nach Singapur, wo er zwei Wochen lang als Bildreporter bei der The Straits Times arbeitete, bevor er wegen „Unfähigkeit“ entlassen wurde. Es folgen unstete Jahre, viele Reisen, die Suche nach der eigenen Bild-Sprache. Um zu überleben, knipst er für eine Handvoll Dollar alles, was ihm vor die Linse kommt: Hochzeiten, Kindstaufen, Passfotos, Baby-Leibchen, Strickwaren: „Jahrelang übt er sich im Klinkenputzen, wohnt in düsteren Löchern, trinkt billigen Rotwein, raucht wie ein Schlot – und leistet sich einen weißen Porsche mit roten Ledersitzen“, schreibt Carola Güldner im Stern.
Zwischen Liebe und Hass
Die Kriegsjahre ab 1940 verbrachte er in Australien, wo er auch als LKW-Fahrer bei der Armee und beim Eisenbahnbau malochte. 1945 eröffnete er ein Fotostudio in Melbourne und nahm die australische Staatsangehörigkeit an. 1948 heiratete er die Schauspielerin June Browne, die unter dem Schauspielerpseudonym June Brunell arbeitete, da es schon eine Aktrice gleichen Namens gab. Die gebürtige Australierin ist für ihn nicht nur Ehefrau, sondern auch Managerin. Anfangs verbietet ihr Helmut, eine eigene Fotografenkarriere unter dem Namen Newton zu beginnen, aus Furcht, sie ruiniere den Namen. Doch er täuscht sich in ihren Fähigkeiten, denn unter dem Pseudonym Alice Springs macht seine Frau seit den 1970er Jahren eine beachtliche Karriere als Fotografin. Er wird mit ihr bis zu seinem Tod zusammenleben, sie gilt als sein „Schatten“. Die Ehe bleibt kinderlos.
Ab 1956 arbeitete Helmut Newton für die australische Ausgabe der Vogue, die sein Hauptarbeitgeber wurde. Nach und nach verpflichteten ihn auch andere Länderausgaben wie die italienische, amerikanische und die deutsche sowie weitere Modezeitschriften wie Elle oder Marie-Claire. Aber auch der Playboy versicherte sich seiner Dienste. Als Newton sich mit Anfang vierzig in Paris niederlässt, beginnt seine wirkliche Karriere als Modefotograf. Die französische Vogue druckt Bilder, auf denen er sich in bis dato unbekannter Manier einer sexuellen Detailversessenheit und nackten Obsessionen widmet. Wenn Newton Porträts macht, interessieren ihn nur drei Kategorien Mensch: „solche, die ich liebe, solche, die ich verehre, und solche, die ich hasse.“
Mit seinen Fotografien, die Inszenierungen sind und „Sex wollen, nicht Erotik“, scheidet Newton die Geister. Die einen sehen ihn als Revolutionär, die anderen verachten seine Arbeiten, weil sie sie frauenfeindlich finden. Obwohl Newtons Akte an der Oberfläche bleiben, provozieren sie in ihrer Kälte. Bei einigen möchte man empört einschreiten, bei anderen schockiert wegsehen. Zu seinen umstrittensten Werken zählen die Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus seiner Reihe „Big Nudes“: Ab den 80er Jahren lichtete Newton seine Models nackt und auf Stöckelschuhen in Städten wie Nizza oder Paris ab.
Für die Serie „Domestic Nudes“ verband er seine künstlerischen Fantasien mit Alltäglichem. So zeigt die Ausstellung auch Frauen, die ihren Körper in der „häuslichen“ Waschküche oder im „heimischen“ Wohnzimmer für den Künstler zur Schau stellten. Mit seinen „Dummies“ – unnahbar wirkende Schönheiten, die sich mit Schaufensterpuppen vergnügen – ging der Künstler noch einen Schritt weiter; Newton selbst bezeichnet diese Aufnahmen als „pornografisch“. Den Vorwurf der „Kulturpornographie“ erhoben neben Schwarzer auch andere Kritiker. Ein Grund ist Newtons Verknüpfung von Nacktheit mit Stöckelschuhen, dem klassischen Fetisch-Accessoire. „Für Akt-Photos“, erklärte er als 73jähriger im Stern, „sind hohe Absätze … sehr wichtig. Eine Frau hat ganz andere Muskeln, wenn sie auf Absätzen steht. Das spannt sich am Hintern, an den Waden und am Schenkel.“
Ein anderer ist die mindestens angedeutete Gewalt bei einigen Motiven, die manchen als grundlegendes Kriterium von Pornographie gilt. So sei seine dominierende Perspektive die von Objekt und Begierde und damit weiblichen Opfern: Ein – bekleidetes – Mädchen, etwa sechs Jahre alt, gefesselt auf dem Todesstuhl in einer amerikanischen Gaskammer. Bleiche Frauen, erstarrt oder wie leblos mit geschlossenen Augen auf Bänken ausgestreckt. In Ketten gefesselt, an stählernem Gestänge gekreuzigt oder am Strick als Sklavenware vorgeführt, mit Pickelhaube und Nietenzubehör. Auf dem Rücken liegend, mit Lederbändern fixiert, von einer Riesendogge überwältigt. Die Rückenansicht einer Nackten, die, vor einem Eisengitter stehend, eine Peitsche über ihre Schultern biegt. Hinter Maschendraht eine uniformierte Aufseherin mit entblößtem Geschlecht. Solche Motive sorgen bis heute für Diskussionen.
„große Ehre für das Land“
Sein erster Bildband erschien erst 1976: „White Women“ wurde kurz nach der Veröffentlichung mit dem Kodak-Fotobuchpreis ausgezeichnet. Seit 1981 lebte Newton mit seiner Frau in Monaco und verbrachte die Wintermonate in Los Angeles. Für „Girls of Berlin“ kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und bannte kurz vor dem Mauerfall mehrere junge Frauen vor dem Reichstag auf Fotopapier. 1992 bekam er das Bundesverdienstkreuz. Im April 2000 erregte Newtons sogenannter SUMO-Bildband Aufsehen, als das Exemplar Nummer eins – handsigniert von über 100 der in dem Buch abgebildeten berühmten Persönlichkeiten – auf einer Charity-Auktion 620.000 DM erzielte und damit den Rekord für das teuerste Buch des 20. Jahrhunderts brach.
2003 schrieb Newton in der kanadischen National Post, in seiner Fototechnik habe sich seit seiner Jugend nicht viel verändert: „In der 30er Jahren habe ich im Sommer mit Tageslicht gearbeitet und im Winter die Porträtaufnahmen meiner Freundinnen mit einem 200-Watt-Blitz ausgeleuchtet. Heute bin ich aufgestiegen und fotografiere mit einem 500-Watt-Blitz.“ Im selben Jahr vermachte er sein Archiv seiner Heimatstadt Berlin. „Ich bin sehr stolz, dass meine Fotos in die Stadt zurückkehren, wo ich geboren bin“, sagte er damals. „Ich habe Deutschland seit 1938 nicht vermisst, aber Berlin schon.“ Es sei seine Frau June gewesen, „die mich schon lange in Richtung Berlin geschubst hat, obwohl die Arme kein Wort Deutsch spricht“. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), den Newton 1998 als Kanzlerkandidaten porträtiert hatte, dankte ihm für seine „Geste der Versöhnung, die eine große Ehre für das Land ist“.
Kulturstaatsministerin Christina Weiss (SPD) sprach von einem „großen Tag für die Fotografie in Deutschland“ und einem „Glücksfall für die Hauptstadt“. Damit werde auch der Grundstein für ein national bedeutendes Zentrum für Fotografie gelegt. Nach den Worten des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) habe Berlin das Gebäude in der Charlottenburger Jebensstraße neben dem Bahnhof Zoo gerne dafür zur Verfügung gestellt. Der Vertrag beinhaltete die unbefristete Dauerleihgabe für über 1000 Werke Newtons und Alice Springs’. Eine spätere Aufstockung des Bestandes ist beabsichtigt, betonten die Staatlichen Museen, die in dem Gebäude in der Jebensstraße auch ihre umfangreiche Fotosammlung konzentrieren. Newton trug die Kosten für den Kurator der Sammlung sowie für den Umbau des ehemaligen Landwehr-Casinos. Heute hat auch die im selben Jahr gegründete Helmut-Newton-Stiftung dort ihren Sitz.
Zum Verbleib der Negative sagte Newton dem Stern: „Solange wir beide leben, bleiben die Negative bei uns, wir brauchen sie zum arbeiten. Wenn wir abgekratzt sind, geht alles nach Berlin.“ Das klang ahnungsvoll: Nur wenige Monate später, am 23. Januar 2004, kam er bei einem Verkehrsunfall in Los Angeles ums Leben. Er hatte bei der Ausfahrt von einem Hotelparkplatz die Kontrolle über seinen Cadillac verloren und war in eine Mauer auf der anderen Straßenseite gefahren. Im Juni desselben Jahres wurde seine Urne in Berlin in einem Ehrengrab unmittelbar neben dem Grab von Marlene Dietrich auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beigesetzt; seine Witwe legte einen Fotoapparat mit ins Grab. Zu den Trauergästen gehörten neben Gerhard Schröder und Klaus Wowereit auch die Schauspieler Roger Moore und Rupert Everett sowie Deutschlands erster Kosmonaut Sigmund Jähn.
Er suche die Sünde, hat Newton einmal gesagt. „Diese Spekulation auf die Effekte der Sündhaftigkeit ist, wo an Sünde und Scham längst nicht mehr geglaubt wird, schamlos“, meint Bovenschen. Seine Fotografie ziele nicht auf die Festlegung einer wahren Bedeutung des Körpers, sondern verdeutliche vielmehr dessen Verfügbarkeit für alle möglichen Bedeutungen: „Newtons erotische Träume kommen nicht aus der Hölle des Unbewussten, sie kommen … aus der Tiefkühltruhe der Routine; sie eröffnen nicht den Blick in tiefe Abgründe, sie sind rätselfrei das, was ihre Oberfläche zeigt: recycelte Erotik. Und gerade das macht sie interessant“. „Newton ist Nacktheit, ist Glanz, ist Perfektion, auch heute noch. Seine Bilder sind nicht frei von Vulgarität, aber im Vergleich zu heute erscheinen selbst diese schamvoll“, würdigte ihn später der Cicero. „Newton thront längst unangreifbar im Kreis der Unsterblichen im Olymp der schönen Künste. Sein Werk ist abgeschlossen, seine Tabubrüche sind entschärft. Was bleibt, ist die Kunst, die Ästhetik, die Eleganz.“