„bitterste Entbehrung“
6. Oktober 2020 von Thomas Hartung
Das haben die Sachsen Hannes Hegen nie verziehen: Als er für seinen DDR-Kultcomic Mosaik Anfang der 60er Jahre seine „Erfinderserie“ konzipiert, lässt er zwar Persönlichkeiten wie Otto von Guericke, James Watt und Werner von Siemens auftreten – nicht aber den Erbauer des ersten Elbe-Dampfschiffs, obwohl ein Gutteil der Handlung in Heft 79 an Bord spielt: Johann Andreas Schubert. Der Ingenieurwissenschaftler, Unternehmer und Maschinenbau-Professor konstruierte auch die erste funktionstüchtige, in Deutschland gebaute Dampflokomotive „Saxonia“ und erwarb sich große Verdienste beim Bau der Göltzschtalbrücke, der bis heute größten Ziegelsteinbrücke der Welt. Am 6. Oktober vor 150 Jahren starb er.
Dass er es überhaupt so weit bringen konnte, verdankt er einem glücklichen Zufall: als er mit neun Jahren seinen Bruder Christoph, einen Händler, im herbstlichen Vogtland begleitete und der ihn nach einer Halbtagestour allein wieder heim schickte, verirrte er sich und kam nach mehrtägiger Wanderung bis in die Gegend von Leipzig. Ihn überholte eine Reisekutsche, an der er sich hinten anhängte, um ein Stück mitzufahren. In diesem Wagen reiste der Polizeidirektor von Leipzig, Oberhofrichter Ludwig Ehrenfried von Rackel mit seiner Frau. Nachdem ihnen der Junge von seinem Missgeschick erzählt hatte, brachte ihn Rackel zurück und erwirkte nach längerer Unterredung von den Eltern die Genehmigung, Johann Andreas als Pflegesohn in Leipzig aufzunehmen und zu erziehen.
Geboren wurde er am 19. März 1808 in Wernesgrün als achtes von neun Kindern eines verarmten Bauern, der als Fuhrmann und Tagelöhner arbeitete. Seine Eltern nannten ihn stets nur Andreas, in Erinnerung an seinen als Dreijähriger verstorbenen Bruder. Vom siebten Lebensjahr an hütete er bei der verwandten Bauernschaft Kühe und Schafe, um den elterlichen Haushalt mit zu entlasten. Auch die Beschaffung von Heizmaterial war seine Aufgabe. In der Wernesgrüner Dorfschule lernte er Lesen, Schreiben und Rechnen. „Freuden der Kinderjahre waren mir kaum beschieden und besonders vom achten Lebensjahr an litt ich bitterste Entbehrung“, schreibt er später, so dass ihn seine Eltern, wenn auch schweren Herzens, mit Rackel ziehen ließen.
Vom Ingenieur zum Professor
Ab Ostern 1818 lernt er auf der Leipziger Thomasschule. Als Rackel 1820 überraschend stirbt, zieht seine Witwe mit Andreas zu ihrem Bruder, Generalleutnant Carl Ludwig Sahrer von Sahr, dem Kommandanten der Festung Königstein. Hier besuchte der Junge die Garnisonsschule und nahm privaten Unterricht beim Pfarrer von Königstein. 1821 bis 1824 war er Internatszögling des Freimaurerinstituts zu Dresden-Friedrichstadt: Zeitlebens blieb er der Loge „Zu den drei Schwertern” verbunden. Sein Zeichenlehrer Faber empfahl ihm ein Bildhauerstudium. Weil an der Königlichen Akademie gerade kein Platz frei war, bewarb sich Schubert an der Bauschule unter dem gleichen Dach – heute würde man Architekturstudium dazu sagen.
Während des Studiums trat seine außergewöhnliche mathematische und technische Begabung zu Tage. In der Werkstatt des Dresdner Hofmechanikers Rudolf Sigismund Blochmann lernte er als Volontär die handwerkliche Seite des Maschinenbaus kennen und wurde zugleich in Konstruktionslehre unterwiesen. Der den Künsten zugeneigte Schubert wandte sich nunmehr dem Ingenieurwesen zu, das sich, noch zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt, im Zuge der Industrialisierung rasch zu einem weit gefächerten Ausbildungsbereich entfaltete. 1828 trat er folgerichtig als Lehrkraft für Buchhaltung und zweiter Lehrer für Mathematik in die gerade gegründete Technische Bildungsanstalt Dresden ein und wurde bereits 1832 Professor. Im selben Jahr heiratete er Florentine Dennhardt, Tochter eines Steuereinnehmers in Mittweida, die ihm einen Sohn und eine Tochter gebar.
Schubert verkörperte in der Frühzeit polytechnischer Schulen einen Lehrertypus mit breiter disziplinärer Orientierung und vielgestaltigem Berufsbild, der es verstand, Lehre, wissenschaftliche Tätigkeit und praktische Berufsausübung miteinander zu verknüpfen. Dies entsprach ganz den Erfordernissen seiner Zeit, in der man versuchte, Gewerbeförderung und industrielle Entwicklung über eine solide Ausbildung von praktischen Mechanikern voranzubringen. Seine Lehrfächer waren nun auch der Maschinen- und der Eisenbahnbau. Sein Wissen auf diesem Gebiet erweiterte insbesondere eine Englandreise 1834.
Er „verfügte nicht nur über die Fähigkeit, in freier Rede seine Schüler zu fesseln, sondern vermittelte durch den Einsatz spezieller Lehrmittel jene Anschaulichkeit, die schwierige ingenieurtechnische Gegenstände als Einheit von empirischen und theoretischen Komponenten verständlich machten“, befinden seine Biographen Thomas Hänseroth und Klaus Mauersberger. Seiner außerordentlichen Lehrerfolge wegen gelang es ihm, nicht nur Einfluss auf die praktische und wissenschaftliche Gestaltung der Ausbildung zu nehmen, sondern auch auf das neue Organisationsstatut von 1835: Seine Hauptlehrgebiete, die technische Mechanik, Baulehre und Maschinenkunde, avancierten zu den zentralen Fächern der Anstalt.
Schiffs- und Lokomotivbauer
1836 gründete er die Maschinenbau-Anstalt Übigau mit, heute ein Stadtteil von Dresden, und wurde deren technischer Direktor sowie Vorsitzender des Direktoriums. Im gleichen Jahr war er Mitbegründer der Sächsischen Elbe-Dampfschifffahrts-Gesellschaft. 1837 wurde in Übigau die „Königin Maria“ fertig gestellt, zu dieser Zeit das erste Dampfschiff auf der Oberelbe; ein Jahr später folgte der Dampfer „Prinz Albert“. Beide Dampfschiffe waren Konstruktionen Schuberts. Zu Unrecht wurden ihm die Schwierigkeiten beim Probebetrieb der Schiffe angelastet: Ursprünglich hatte Schubert seine Antriebsmaschinen aus England beziehen wollen. Doch das scheiterte an der Bürokratie. So musste er auf deutschen Ersatz zurückgreifen, auf wahre „Monster“ aus Preußen, die die sächsische „Maria“ im Flachwasser behinderten.
Parallel dazu konstruierte und baute er die „Saxonia“: „Ich habe für das erste in Deutschland gebaute Locomotiv alle nöthigen Theile selbst anfertigen lassen, was mir bis jetzt noch niemand in Deutschland nachzuthun gewagt hat… Kein einziger Arbeiter war mir zur Hand, der jemals an einem derartigen Stücke gearbeitet hatte“, schreibt er später. Bei der Eröffnung der ersten deutschen Fern-Eisenbahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden am 8. April 1839 fuhr Schubert mit ihr hinter dem offiziellen Zug her, der von zwei englischen Loks angetrieben wurde – mit Gehrock, Zylinder und verrußtem Gesicht, heißt es.
Auch auf der Rückfahrt sollte die „Saxonia“ hinter dem Hof-Zug fahren, doch das ging der englischen Crew entschieden zu weit. Als Schubert, vom Frühstück kommend, Kohle aufnehmen wollte, war der Schuppen leer. Zu allem Übel waren in Priestewitz die Weichen verstellt, und so raste die feurige Sächsin auf eine unter Dampf stehende führerlose englische Lok. Die Reparaturen sorgten für neuerlichen Aufenthalt, zum ersten Mal übernachtete ein Professor aus Dresden in Priestewitz! Später wurde die „Saxonia“ für den Fuhrpark der Eisenbahn-Compagnie angekauft und fristete dort, vom anglophilen Personal mit Verachtung bedacht, das Dasein einer Reserve-Lokomotive, obwohl sie es unbestritten mit jeder Engländerin an Eleganz, Geschwindigkeit und Wasserverbrauch hätte aufnehmen können.
Wirtschaftlicher Erfolg stellte sich für Schubert nicht ein, so dass er 1839 seinen Vertrag beim Actien-Maschinenbau-Verein kündigte und wieder als Hochschullehrer arbeitete. Doch schon zwei Jahre später wurde er noch einmal in Sachen Eisenbahn aktiv, diesmal jedoch nicht als Maschinenbauer, sondern als Mathematiker und Architekt. Grund war der Beschluss, eine Eisenbahnverbindung zwischen Sachsen und Bayern zu bauen. Doch die Trassenführung von Leipzig über Altenburg, Crimmitschau, Werdau, Reichenbach und Plauen nach Hof war schwierig, da die Steigung mit Rücksicht auf die Lokomotiven ein Prozent nicht überschreiten durfte. Also mussten das Göltzschtal und das Elstertal überbrückt werden. Allein beim Göltzschtal waren das 600 Meter.
Brückenbauer im Vogtland
Eine solche Brücke war noch nie gebaut worden. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, dessen Jury Schubert leitete und der auch Gottfried Semper angehörte. 81 Entwürfe gingen ein, einen brauchbaren gab es nicht. Aus vier Arbeiten, die in die engere Auswahl kamen, schuf Schubert einen Kommissionsentwurf: eine durch Bögen aufgelockerte vierstöckige Massivbrücke aus Ziegelstein. Ab 1846 wurden 26 Millionen Ziegelsteine für die Göltzschtalbrücke verbaut, zwölf Millionen für die kleinere Elstertalbrücke. Im selben Jahr war er Mitgründer des „Sächsischen Ingenieur-Vereins“.
Ein Jahr später endete Schuberts aktive Mitarbeit am Brückenprojekt. Bei der Einweihung der Brücken 1851 hatte er wegen seiner früheren Nähe zu den Initiatoren des Dresdner Aufstands von 1849 und seiner liberalen Haltung keinen so guten Stand. August Röckel, der Operndirektor und Kopf der Erhebung, hatte in Schuberts Haus in der Friedrichstraße, wo heute eine Bronzetafel auf beide verweist, gewohnt. Gottfried Semper und der Hofkapellmeister Wagner kamen bei ihm zu konspirativen Treffen zusammen; selbst der Anarchist Bakunin hatte im Gartenhaus ein Versteck. Im Jahr des Aufstands wurde er Dampfkesselinspektor für den Bezirk Dresden-Bautzen sowie in weitere Gremien berufen, darunter die „Technische Deputation“ des sächsischen Innenministeriums.
Nach dem Tod Florentines 1851 heiratete er erneut, seine zweite Frau Sophie sollte ihm noch vier Töchter schenken. Er wird mehrfach bei der Auswahl der Direktoren der Bildungsanstalt übergangen und konzentriert sich ganz auf die Lehre. Mit seinen neuen Erfahrungen vollzieht er einen Lehrgebietswechsel hin zum Bauingenieurwesen, namentlich zum Straßen-, Eisenbahn- und Brückenbau, und wurde Vorstand der Bauingenieurabteilung der Schule. Zwei seiner vier Lehrbücher waren damals Standardwerke: die „Elemente der Maschinenlehre“ und vor allem die zweibändige „Theorie der Konstruktion steinerner Bogenbrücken“.
1859 hatte Schubert das Ritterkreuz des Sächsischen Verdienstordens erhalten. Zehn Jahre später schied er aus dem Hochschuldienst aus und wurde zum Regierungsrat ernannt. Sein Pensionsalter zu genießen blieb ihm gerade ein Jahr. Schuberts Grab befindet sich auf dem Inneren Matthäusfriedhof in Dresden, 1985 und 2008 wurde er mit Sonderbriefmarken gewürdigt. In Dresden trägt neben einer Straße und einem Gymnasium auch ein Gebäude der TU Dresden, das Teile der Fachrichtungen Physik, Biologie und Psychologie beherbergt, seinen Namen. „Bestechend bleibt Schuberts Vielseitigkeit: er war in Personalunion Lehrer, Ingenieur, Erfinder, Unternehmer, Freimaurer, Gutachter und manches mehr. Als letzter Universalist unter den Polytechnikern des 19. Jahrhunderts hat er vor allem ein weit gespanntes, fast den gesamten Fächerkanon seiner Bildungsanstalt überspannendes Werk hinterlassen“, wird er bis heute von der TU gewürdigt.