„kein bequemer Stuhl“
19. Oktober 2020 von Thomas Hartung
Seine Biografie ist bis heute in vielen Teilen ein Verwirrspiel: Hin- und hergerissen nicht nur zwischen zwei Frauen, sondern auch zwischen dem katholischen Irland und dem protestantischen England ist seine Lebensgeschichte ein Abbild der englischen Vorherrschaft und Unterdrückung, die immer wieder zu wirtschaftlichen und religiösen Konflikten führte. Zeitweilig war er, der unter Isaac Bickerstaff sowie fünf weiteren Pseudonymen schrieb, so wirkmächtig, dass die englische Regierung eine Belohnung von 300 Pfund für die Ergreifung des unbekannten Verfassers aussetzte. Obwohl jeder wusste, wer der Schreiber war, wurde er nicht verraten – das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Landarbeiters betrug damals 20 Pfund. Er konnte dem Erzbischof Boulter, der ihn der Aufwiegelung des Volkes zieh, ohne Übertreibung antworten: „Ich brauchte bloß meinen Finger zu heben, und Sie würden in Stücke gerissen.“
Gern erzählte man auch die Geschichte, dass Premierminister Robert Walpone, als er ihn schließlich verhaften wollte, von einem klugen Freund gefragt wurde, ob er denn 10.000 Soldaten hätte, um den Beamten bei der Befehlsausführung zu begleiten. So wurde vor allem im viktorianischen Zeitalter an seinem bekanntesten Roman so lange herumgekürzt und geglättet, bis man ihn als gemäßigtes und häufig illustriertes Märchenbuch in Kinderhände geben konnte. Die satirische Abrechnung fiel dieser Abmilderung, besser gesagt dieser Verstümmelung zum Opfer; der Originaltext erschien in England erst wieder 1905. Der so entwürdigte Autor hieß Jonathan Swift, gilt als bedeutendster irischer Schriftsteller der Aufklärung und starb am 19. Oktober 1745 in Dublin.
Hier war er auch am 30. November 1667 als Halbwaise zur Welt gekommen – sieben Monate nach dem Tod seines gleichnamigen Vaters. Er verbrachte die ersten fünf Jahre mit einem Kindermädchen in England und wuchs nach seiner Rückkehr bei Verwandten auf. Diese kindlichen Erfahren scheinen seinen stolzen und störrischen Charakter geprägt zu haben, der anfangs eigensinnig und unbeugsam, zum Lebensende dann reizbar, unhöflich, ja exzentrisch genannt werden wird. 1682 nahm er auf Wunsch eines Onkels in Dublin ein Theologiestudium auf, bekam wegen Aufsässigkeit jedoch nur gnadenhalber („by special favour“) eine Abschlussurkunde. Es sei eine von Hunger und Demütigungen begleitete Universitätszeit gewesen, „die ihn verbitterte und seine skeptischen Anlagen nährte“, so der Literaturhistoriker Richard Wülker.
Zwischen zwei Frauen
Nach seinem Studium fand Swift eine Anstellung als Sekretär bei seinem Onkel, dem englischen Lord Sir William Temple, einem Diplomaten im Ruhestand, der auf seinem Landsitz Moorpark in Surrey lebte. Hier traf er Esther Johnson, die uneheliche Tochter Sir Williams’, von ihm in seinen Tagebüchern Stella genannt. Mit Unterstützung seines Onkels konnte er seine akademische Ausbildung in Oxford weiterverfolgen und sich mit der englischen Politik vertraut machen. Nach Zerwürfnissen mit seinem Dienstherrn kehrte Swift jedoch nach Irland zurück und fasste hier den Entschluss, sich in der anglikanischen Kirche zum Priester ordinieren zu lassen. 1694 fand er eine Stelle als Dorfpfarrer in Kilroot, die er jedoch nach einem Jahr bereits wieder aufgab, um nach Moorpark zurückzukehren: Sir William Temple hatte ihm ein zweites Angebot gemacht.
Der als äußerst ehrgeizig geltende Swift machte sich – nicht ganz unbegründet – Hoffnungen auf eine Karriere auf der Insel. Er verkehrte dort in höchsten literarischen und politischen Kreisen, war mit Alexander Pope und anderen bekannten Schriftstellern und Geistesgrößen befreundet und engagierte sich politisch zunächst für die liberalen Whigs. Swift vollendete hier sein erstes größeres Werk „A Tale of a Tub“ („Märchen von einer Tonne“) und schrieb „The Battle of the Books“ („Die Schlacht der Bücher“). Der Tod seines Gönners im Jahr 1699 beendete Swifts gute Stellung. Da er nicht mehr auf eine hohe Position in der Kirche in England hoffen konnte, ging er mit dem Theologen und Philosophen Earl of Berkeley als Hauskaplan nach Dublin zurück, wo er 1702 am Trinity College promovierte. Esther Johnson folgte ihm nach und ließ sich im nahegelegenen Trim nieder.
Über die Beziehung der beiden wird bis heute gemutmaßt. Swift war anfangs ihr Lehrer und Mentor, als sie acht Jahre alt war und er in den Zwanzigern. Später als Erwachsene pflegten die beiden eine innige, wenn auch mehrdeutige Beziehung. Wie mehrdeutig, darüber streiten die Biografen. Manche nehmen sogar an, dass Swift seine Stella 1716 heimlich heiratete, andere stufen diese Annahme jedoch als Unsinn ein. Weniger Zweifel herrschen darüber, dass Swift während seiner Zeit in England ab ca. 1711 noch eine weitere, nicht weniger mehrdeutige Beziehung zu einer Dame namens Esther Vanhomrigh führte, eine andere Esther, die er in seinen Texten „Vanessa“ nannte.
Von den Whigs politisch, aber vor allem persönlich enttäuscht, war er, erneut zurück in England, zu den Tories gewechselt und gab 1710/11 die Tory-Wochenzeitung Examiner heraus. Die Partei verschafft ihm aber keinen Bischofssitz, sondern 1713 das Dekanat von St. Patrick in Dublin, das er bis zu seinem Tode innehatte. Sein Amt in der „irischen Provinz“ habe er gereizt angetreten, „und es mag ihm nicht unlieb gewesen sein, dass die Behandlung Irlands durch England ihm die Gelegenheit bot, gleichzeitig für das unglückliche Land einzustehen und sich an der Regierung zu rächen“, so Wülker. Schuld daran war Swift zu einem großen Teil aber selbst, denn mit seinen scharfzüngigen Satiren – vor allem gegen die Kirche – verbaute er sich die Beförderung zu einer hohen geistlichen Würde. Über das folgende Jahrzehnt ist wenig bekannt.
Swift schien eine Zeitlang die Zuneigung Esther Vanhomrighs für ihn erwidert, dann aber die Beziehung beendet zu haben. Ein Drama nahm seinen Lauf, nachdem sich Swift endgültig nach Irland zurückgezogen hatte und Vanessa, die sich anscheinend noch immer Hoffnung machte, ihm kurzerhand nachfolgte. Als sie, jahrelang hingehalten, schließlich von seiner anderen Beziehung erfuhr, kam es zur Konfrontation. Vermutlich schrieb Vanessa an Stella einen Brief, den diese ihm verstört zeigte. In seiner aufbrausenden Art galoppierte Swift daraufhin zu Vanessas Haus, warf ihr einen hasserfüllten Blick und den zerknüllten Brief zu und machte sich von dannen. Kurze Zeit später, 1723, starb Vanessa – an gebrochenem Herzen, vermuten viele Biographen.
„außerordentliches demagogisches Talent“
In Vanessas Todesjahr protestierte er in den „Briefen des Tuchhändlers W. B. in Dublin“ unter der Maske und im volkstümlichen Stil eines Krämers gegen die Einführung des neuen Kupfergeldes in Irland, ein „außerordentliches demagogisches Talent“ erkennt Wülker. In den nächsten Jahren schrieb er das Werk, das ihm später zu Weltruhm verhelfen sollte: „Gulliverʼs Travels“ („Gullivers Reisen“), die 1726 erschienen. Die Idee dazu entstand wahrscheinlich bereits in den Jahren 1715 bis 1720, als sich Swift verbittert aus dem politischen Leben zurückgezogen und wenig veröffentlicht hatte. Sie erschienen zunächst anonym. Der Erfolg war überwältigend und die Erstauflage binnen einer Woche verkauft. Reiseliteratur gab es damals zuhauf, aber Satire in Form eines fiktiven Reiseberichtes war etwas gänzlich Neues. Durch detaillierte Einzelheiten, zum Beispiel bei den geografischen und nautischen Angaben, versuchte Swift, dem Leser exakte Wirklichkeitsbeschreibungen vorzugaukeln, wobei ihm die gesellschaftlichen Zustände im England des 18. Jahrhunderts Modell standen.
Vier Schiffsreisen bringen den Schiffsarzt Lemuel Gulliver mit mindestens vier unterschiedlichen Gesellschaftsformen zusammen. Seine erste Fahrt führt ihn nach Liliput ins Land der Zwerge, und von dort geht es weiter nach Brobdingnag zu den Riesen. Auf seiner dritten Reise lernt er die fliegende Insel Laputa kennen, deren Einwohner nach reinem Wissen streben. Von hier reist Gulliver nach Luggnagg, einer Insel, deren Bewohner ewig leben. Nach einer Meuterei auf seinem Schiff macht Gulliver Station im Land der Hauynhnhnms, einer hochintelligenten Pferderasse, die sich ungebildete, unzivilisierte Menschen, Yahoos, als Diener halten. Laut der englischen und deutschen Unternehmenswebsite war der Name des Internetportals „Yahoo“ zwar auch ein Akronym für „Yet Another Hierarchical Officious Oracle“, wurde aber von den Firmengründern aufgrund der Bedeutung des englischen Adjektivs yahoo „ungezogen, unverfälscht, ungehobelt“ gewählt – ursprünglich abgeleitet von Swifts primitiven menschenähnlichen Wesen.
Der Roman ist, nach Campanellas „Civitas solis“ („Sonnenstaat“, 1623) und Bacons „Nova Atlantis“ („Neu-Atlantis“, 1627), der Höhepunkt einer im Gegensatz zu religiösen Entwürfen stehenden Gattung, die ohne unmittelbare Wirklichkeitsansprüche Bilder einer idealen Gesellschaft zum Thema hat. „Es steht also Zeitloses, es steht Menschliches in diesem Buch, das uns alle angeht, heut wie damals“, befand Hermann Hesse. Der Name des Erzählers und Hauptfigur Lemuel Gulliver ist eine Anspielung auf das englische Wort gullible, welches so viel wie „gutgläubig“, „leichtgläubig“ oder auch „einfältig“ bedeutet, und verweist somit auf den naiv-leichtgläubigen Charakter der Figur des Gulliver. Ein interessantes Detail der Geschichte ist die relativ genaue Vorhersage von zwei Marsmonden, die erst 150 Jahre später entdeckt wurden. Der Roman wurde vielfach verfilmt, fristete aber aufgrund seiner gewollten Infantilisierung jahrelang ein Nischendasein als Kinderbuch. Erst 1909 erfolgte eine deutsche Übersetzung des vollständigen Textes; es war überhaupt die erste vollständige Übersetzung nach knapp 200 Jahren.
„Macht an sich ist kein Segen“
1728 stirbt seine geliebte Stella und wird in „seiner“ Dubliner Kathedrale begraben. Nun verschärft sich nicht nur sein literarischer Ton, auch sein Leben verdüstert sich zunehmend. Das Ergebnis waren grobe, sarkastisch-zynische Schmähschriften, darunter seine schärfste Satire „A Modest Proposal“ („Ein bescheidener Vorschlag“ 1729). Darin schlägt er als Mittel gegen Überbevölkerung, Armut und Hunger gar vor, irische Kinder als Nahrungsmittel zu nutzen und aus ihrem Export Kapital zu schlagen – ein Zitat, das fast jeder Tourist in Dublin auf den Bustouren zu hören bekommt. Swift überzeichnet dabei diverse damals diskutierte frühkapitalistische Vorschläge, etwa die Armen nach dem Vorbild einer Aktiengesellschaft zu organisieren, oder die Praxis, Menschen als Ressource zu betrachten. Im Erscheinungsjahr wird er Ehrenbürger von Dublin. Obwohl nicht eindeutig nachgewiesen, wird ihm auch eine groteske Abhandlung über Fäkalien zugeschrieben: „Human ordure botanically considered („Menschlicher Stuhlgang aus botanischer Sicht“, 1733).
1735 wurden noch seine „Gesammelten Werke“ in vier Bänden veröffentlicht – insgesamt 37 Bücher werden es am Ende sein. Dann zog sich der Autor immer mehr zurück und beschäftigte sich nur noch mit älteren Projekten. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, er litt unter Taubheit und Schwindel und soll die letzten Jahre seines Lebens kaum noch gesprochen haben. Drei Jahre vor seinem Tod fiel er schließlich in geistige Umnachtung, sodass man ihn entmündigte. Testamentarisch hatte er bestimmt, dass sein nicht unbeträchtliches Vermögen für den Bau eines „Irrenhauses“ verwendet wird. Das „St. Patrick’s Hospital“ (auch „Swifts Hospital“ genannt) war nicht nur das erste „Irrenhaus“ in Irland, sondern für lange Zeit auch das einzige. Swift, der seine beiden Damen um viele Jahre überlebte, wurde ebenfalls in St. Patrick’s Cathedral beigesetzt – im selben Sarg wie Stella.
Von Swift stammen mehrere noch heute gern zitierte Bonmots. „Macht an sich ist kein Segen, außer sie wird benutzt, um Unschuldige zu schützen“, ist eines, „In dieser Welt hat nur die Unbeständigkeit Bestand“, ein anderes, und auf ihn selbst traf „Der unzufriedene Mensch findet keinen bequemen Stuhl“ sicher am meisten zu. Sein angeborener Sinn für Menschlichkeit und Gerechtigkeit machte Swift mit seinen spezifischen literarischen Mitteln zum Anwalt des irischen Volkes gegen die britische Obrigkeit und deren Politik. Die Werner-Dessauer-Stiftung vergibt seit 2015 jährlich den Internationalen Jonathan Swift–Literaturpreis für Satire und Humor – datiert mit 20.000 Schweizer Franken.