„Unser Traum ist auch Ihr Traum“
3. November 2020 von Thomas Hartung
Der 4. November, sein Todestag, ist in Israel inzwischen nationaler Erinnerungstag. Bei seiner Beerdigung waren neben 60 Regierungs- und Staatschefs auch Vertreter von sieben arabischen Staaten anwesend. 2005 wurde in Tel Aviv das nach ihm benannte Zentrum eingeweiht, das als Veranstaltungsort für Ausstellungen und Konferenzen sowie als Forschungs- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Staates Israel dient. Im selben Jahre meinte ein Viertel der Befragten in Israel, er sei einem Komplott zum Opfer gefallen, was sich auch in einer Reihe verschwörungstheoretischer Internetseiten widerspiegelt: Itzhak Rabin. Der israelische Politiker wurde vor 25 Jahren von einem religiös-fanatischen israelischen Jurastudenten erschossen. Nach seinem Tod gerieten die Verhandlungen und der gesamte Friedensprozess im Nahen Osten ins Stocken: „Das Trauma der Ermordung war tiefgehend, intensiv und anhaltend“, bilanzierte der Historiker Yaacov Lozowick auf dem Online-Portal audiatur.
Geboren am 1. März 1922 als erstes von zwei Kindern russisch-amerikanischer Exiljuden in Jerusalem, besuchte er nach zwei Schulen in Tel Aviv ab 1937 die Kadoori Landwirtschaftsschule. Er beendete sie nach anfänglichen Schwierigkeiten 1940 als bester Schüler seiner Klasse mit dem Abitur. Zwischendurch engagierte er sich in der Hagana, einer paramilitärischen Untergrundmiliz während des britischen Mandats. 1941 wurde er in einem Kibbuz für den neu gegründeten Palmach rekrutiert, eine Eliteeinheit der Hagana, die nach 1948 in die israelischen Streitkräfte überging. Als Angehöriger der britischen Armee nahm er am Syrisch-Libanesischen Feldzug teil und wurde 1945 Vize einer Palmach-Einheit. Daraufhin wurde er im Juli 1946 von den britischen Truppen verhaftet und zu sechs Monaten Haft verurteilt – und nach seiner Freilassung 1947 zum Stabschef des Palmach befördert.
1948 heiratete er die gebürtige Königsbergerin Leah und hatte mit ihr zwei Kinder. Während des israelischen Unabhängigkeitskriegs befehligte er bei den Kämpfen um Jerusalem eine Brigade und handelte 1949 das Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten mit aus. Nach dem Krieg wurde seine Einheit aufgelöst und er als einer der wenigen Offiziere in die Armee Israels übernommen. Nach einem Kurs für Bataillonskommandeure folgte seine Beförderung in den Generalstab, wo er als Chef der Operationsabteilung der Armee Israels wirkte. 1952 ging er mit seiner Familie nach England, um dort das Staff College der British Army in Camberley zu besuchen.
1953 zurückgekehrt, übernahm Rabin, inzwischen Generalmajor, bis 1956 die Leitung der Ausbildung der israelischen Armee und, nachdem er eine Generalstabsakademie aufgebaut hatte, den Oberbefehl über die Truppen an der syrischen Grenze Israels. Nach einem Intermezzo als stellvertretenden Generalstabschef wurde er am 1. Januar 1964 zum Generalstabschef ernannt. Unter seinem Kommando errang die israelische Armee einen umfassenden Sieg über Ägypten, Syrien und Jordanien im Sechstagekrieg. Nach dem Krieg hielt er eine berühmt gewordene Rede, nachdem er von der Universität mit der Ehrendoktorwürde der Philosophie geehrt worden war. Er nahm den Preis im Namen der ganzen Armee an, die sich, wie er sagte, nicht nur in ihrer spirituellen Größe, dem Trauern um die Opfer des Feindes, von allen anderen Armeen in der Welt unterscheide. Sie habe auch auf anderen Gebieten einen Sonderstatus in der Welt.
„ihre Hände und Beine brechen“
1967 gab Rabin seinen Posten als Generalstabschef ab und wurde 1968 als Botschafter in den Vereinigten Staaten entsandt. Obwohl er als sehr unerfahren galt und weder gutes Englisch sprach noch ein guter Gesellschafter war, wird seine Arbeit in den USA als erfolgreich bewertet. Rabin sah schon damals voraus, dass Frankreich Israel in Zukunft nicht mehr unterstützen würde, weshalb andere Bündnispartner gefunden werden müssten. 1973 wurde er als Mitglied der Arbeitspartei in die Knesset gewählt und diente als Arbeitsminister unter Golda Meïr. Am 3. Juni 1974 löste er sie an der Spitze der Regierung ab, nachdem er sich in einer parteiinternen Urwahl gegen Schimon Peres durchgesetzt hatte. Zwischen beiden entwickelte sich eine jahrelange Konkurrenzsituation. Ein Jahr später unterzeichnete Rabin ein Interimsabkommen mit Ägypten. In seine Amtszeit fiel auch die Befreiung der Geiseln eines von Palästinensern entführten Air-France-Flugzeuges in Entebbe in Uganda.
1974 musste er sein Amt aufgeben. Unter anderem wurde kurz vor der Parlamentswahl ein illegales Dollarvermögen seiner Frau aufgedeckt, wofür er die politische Verantwortung übernahm und vom Parteivorsitz zurücktrat. Die Knesset-Wahl 1977 bescherte seinem Parteienbündnis herbe Verluste und dem Likud-Politiker Menachem Begin den Sieg. Damit endete die jahrzehntelange Dominanz der Arbeitspartei, wofür Rabin verantwortlich gemacht wurde. Später bekannte er, während seiner ersten Amtszeit zu unerfahren in innenpolitischen Fragen gewesen zu sein. Zudem galt er, der nie studierte und ganz ohne intellektuelle Ambitionen oder formelle Ausbildung agierte, als scheu und zuweilen introvertiert. Hinzu kamen generelle Schwächen Rabins im öffentlichen Auftreten: Oft auch mit seiner eigenen Partei ungeduldig, zeigte er sich taktlos und unhöflich, weshalb ihn manche als schlechten Politiker betrachteten.
1984 berief ihn Schimon Peres als Verteidigungsminister in seine Einheitsregierung. Es war die Zeit der Ersten Intifada („Krieg der Steine“), eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und der israelischen Armee, die erst nach dem Oslo-Abkommen von 1993 zu Ende ging. Um sie zu beenden, setzte Rabin umstrittene bis brutale Methoden ein und wurde 1988 mit dem Ausspruch zitiert: „Wir sollten ihre Hände und Beine brechen“ (bezogen auf die palästinensischen Steinewerfer), was ihm in der arabischen Welt den Titel „Knochenbrecher“ einbrachte. Zugleich war er zuständig für den Rückzug der israelischen Armee aus dem südlichen Libanon. Dennoch galt er als unumstrittene Autorität Israels in verteidigungspolitischen Fragen und setzte im Mai 1989 im Kabinett seinen Plan zu einer Zusammenarbeit mit den Palästinensern durch.
„Der Frieden hat keine Grenzen“
Ab 1990 wurde Rabin zu einem der wichtigsten Fürsprecher des Friedensprozesses zwischen Israel, Palästinensern und arabischen Nachbarn. Er wurde wieder Vorsitzender der israelischen Arbeitspartei, siegte bei den Wahlen und bekleidete 1992 erneut das Ministerpräsidentenamt. Seinen Vorgänger Schimon Peres machte er zum Außenminister, er selbst behielt das Verteidigungsministerium. Nach den Friedensgesprächen in Madrid 1991, noch ohne PLO, kündigte Rabin 1992 Syrien einen Abzug der Truppen aus den Golanhöhen an. Zeitgleich kam es vermehrt zu palästinensischen Terrorakten. Rabin zeigte Härte und ließ über 400 Hamas-Anhänger als Rache für die Ermordung eines zuvor entführten Grenzpolizisten völkerrechtswidrig in den Südlibanon deportieren.
Im Sommer 1993 kam es dann zu ersten direkten Gesprächen zwischen Vertretern der PLO und der israelischen Regierung mit dem Oslo-Abkommen als Endpunkt. Es sah einen Abzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen sowie eine palästinensische Selbstverwaltung in diesen Gebieten bei gleichzeitigem Gewaltverzicht der Palästinenser vor. Nach einer Übergangszeit sollte ein dauerhafter Status der Gebiete ausgehandelt werden. Am 4. Mai 1994 erfolgte eine weitere vertragliche Regelung in Washington, bei der die PLO erstmals eine anerkannte begrenzte Autonomie für den Gazastreifen und das Gebiet um Jericho bekam. Für seine Beteiligung an diesem Prozess erhielt Rabin im selben Jahr, zusammen mit Jassir Arafat und Schimon Peres, den Friedensnobelpreis.
In der Folge wurden israelische Truppen aus den Autonomiegebieten abgezogen, die PLO durfte eine Polizeitruppe von 9000 Mann bilden, um ihrer Aufgaben der Verwaltung und Kontrolle gerecht zu werden, außerdem wurden etwa 8500 palästinensische Gefangene freigelassen. Am 28. September 1995 trafen Rabin, Arafat, König Hussein, Präsident Mubarak und Bill Clinton erneut zusammen, um das zweite Osloer Abkommen zu unterzeichnen, mit dem die palästinensische Autonomie auf den größeren Bevölkerungsteil der Araber im Westjordanland ausgedehnt wurde. In seiner Rede sagte Rabin: „Was Sie hier vor sich sehen, war noch vor zwei oder drei Jahren unmöglich, ja phantastisch. Nur Dichter haben davon geträumt, und zu unserem großen Schmerz sind Soldaten und Zivilisten in den Tod gegangen, um diesen Augenblick möglich zu machen. Hier stehen wir vor Ihnen, Männer, die vom Schicksal und der Geschichte auf eine Friedensmission geschickt wurden: einhundert Jahre Blutvergießen für alle Zeiten zu beenden. Unser Traum ist auch Ihr Traum. Wir alle lieben dieselben Kinder, weinen dieselben Tränen, hassen dieselbe Feindschaft und beten um Versöhnung. Der Frieden hat keine Grenzen.“
Doch innenpolitisch war Rabin zunehmend angeschlagen: Er stand nur noch einer Minderheitsregierung vor, die in der Knesset von den Stimmen der Kommunisten und der nationalistischen Araber abhängig war. Die Durchführung der Politik der „Tauben“ um Schimon Peres führte zu einer Radikalisierung in Israel, die Nichtintegration von Mitte-rechts-Positionen vor allem der Siedler wird oft als sein schwerster Fehler betrachtet. Leah Rabin berichtet in ihrer Autobiographie über zahlreiche Anfeindungen: „‚Nach den nächsten Wahlen wirst du mit deinem Mann auf dem Marktplatz hängen. Mit den Füßen nach oben. Wie Mussolini und seine Mätresse‘, brüllte jemand aus der Menge. … Einige der Demonstranten vor unserem Mietshaus verglichen uns sogar mit Nicolae und Elena Ceaușescu, dem vielleicht meist geschmähten Despotenpaar der Neuzeit … Schon Monate zuvor waren in der Öffentlichkeit die ersten Poster aufgetaucht, die Jitzchak als Verräter und Mörder brandmarkten.“ Flugblätter kursierten, die den Ministerpräsidenten in SS-Uniform zeigen – im Staat der Holocaust-Überlebenden war das die ultimative Schmähung.
„ein Verräter an Israel“
Am 4. November 1995 hatten sich auf dem Platz der Könige in Tel Aviv rund 150.000 Menschen eingefunden, um für Frieden im Nahen Osten einzutreten und Zugeständnisse an die Palästinenser zu fordern. Rabin hatte befürchtet, es könnten zu wenig Menschen kommen – dann wäre die erhoffte Stärkung der Friedensfraktion in Israels zerrissener Gesellschaft eine Schwächung geworden. Doch der ehemalige Generalstabschef und Kriegsheld irrte sich: Die Menschen strömten in ungeahnter Zahl zu der Kundgebung. Gerüchte über geplante Terroranschläge palästinensischer Extremisten konnten sie ebenso wenig abhalten wie die hasserfüllten Botschaften oppositioneller Gruppen vor allem in Gestalt des konservativen Likudblocks um Benjamin Netanjahu. Von einem „überwältigenden Sieg des Realismus“ schrieb Sven Felix Kellerhoff in der Welt.
Nach der Kundgebung – Rabin wollte gerade seinen Wagen besteigen – schaffte es der 25-Jährige Yigal Amir, ihm trotz mehrerer Leibwächter zweimal in den Rücken zu schießen. Eine dritte Kugel traf einen Leibwächter am Handgelenk, dann wurde der Schütze überwältigt. Obwohl die Ärzte alles unternahmen, 50 Minuten lang um sein Leben kämpften, starb Yitzhak Rabin gegen 23 Uhr: Zwei selbst gebastelte Dumdum-Geschosse hatten ihm beide Lungenflügel und die Milz zerfetzt. Der Mörder war erstaunlich kaltblütig und vor allem arrogant: „Tun Sie Ihre Arbeit. Ich habe meine getan.“ In allen Verhören blieb der Fanatisierte bei derselben Darstellung: Er allein habe das Attentat vorbereitet und ausgeführt. Rabin sei ein Verräter an Israel gewesen, weil er die Aussöhnung mit den Palästinensern gesucht habe und dafür auch laut Bibel zu „Eretz Israel“ gehörende Gebiete habe aufgeben wollen. Nach dem jüdischen Gesetz sei der Ministerpräsident ein „Verräter“ gewesen, der getötet werden dürfe, um schlimmeres Unheil von der Judenheit abzuwenden.
Amir wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Trotzdem durfte er telefonisch eine Freundin heiraten und sie seit 2006 einmal monatlich ohne Bewachung empfangen: 2007 gebar die aus Russland stammende Frau seinen Sohn. Dessen Beschneidung, im jüdischen Zyklus ein Freudenfest, fand auf den Tag genau zwölf Jahre nach dem Attentat statt. Die perfide Planung hatte bei der Zeugung neun Monaten zuvor begonnen: Da das Kind mit Kaiserschnitt auf die Welt kommen sollte, schrieb sich die studierte Philosophin exakt acht Tage vor dem Jahrestag im Operationssaal ein. Nach jüdischem Ritual wird der Junge am achten Tag nach der Geburt beschnitten.
Die Wellen schlugen hoch – obwohl mehr als ein Drittel der religiösen Bürger Israels Amirs Begnadigung befürworten. Reue hat der Attentäter bis heute nicht gezeigt: Er fühlt sich nach wie vor im göttlichen Recht. Doch der Mord an Rabin zerstörte die größte Chance auf Frieden im Nahen Osten, den es wohl je gegeben hatte. Der Sieger im Sechstage-Krieg von 1967 hätte glaubwürdig wie kein anderer die Politik nach dem Prinzip „Land gegen Frieden“ durchsetzen können. Nach seinem gewaltsamen Tod übernahm zwar Peres die Regierungsgeschäfte, wurde aber bald von Netanjahu abgelöst. Seither ist kein Ende der Eskalation im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis absehbar.