„keine Vergnügungsfahrt“
1. November 2020 von Thomas Hartung
„Sehen Sie sich doch bitte mal die Weltkarte an: Passt nicht die Ostküste Südamerikas genau an die Westküste Afrikas, als ob sie früher zusammengehangen hätten? Diesen Gedanken muss ich verfolgen!“, schreibt er 1911 an seine spätere Frau. Er ist sicher, dass die Ozeane und Kontinente dadurch entstanden sind, dass sich die Erdkruste eines Urkontinents verschoben hat. Einer gegen alle, hieß es dann am 6. Januar 1912 auf der Hauptversammlung der Geologischen Vereinigung im Frankfurter Senckenberg-Museum. An jenem Tag hielt der damals 31-jährige Meteorologe seinen Vortrag mit den Sätzen „Die Kontinente haben im Laufe der Erdgeschichte ihre Lage verändert… Denn ein Kontinent ist leichter als das, worauf er schwimmt.“ Damit brachte er die althergebrachten Vorstellungen ins Wanken. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Theorie, angereichert durch neue Erkenntnisse, als Modell der Plattentektonik anerkannt. Ihr Urheber war der Polar- und Geowissenschaftler Alfred Lothar Wegener, der am 1. November 1880 in Berlin zur Welt kam.
Das jüngste von fünf Kindern einer märkischen Pastorenfamilie wächst im Direktorenhaus der alten Glashütte in Zechlinerhütte bei Rheinsberg auf und absolviert das Köllnische Gymnasium an der Berliner Wallstraße, das er als Klassenbester abschloss. Danach studierte er von 1899 bis 1904 Physik, Meteorologie und Astronomie in Berlin, Heidelberg und Innsbruck und arbeitete während des Studiums als Assistent an der Volkssternwarte Urania in Berlin. Seine Doktorarbeit schrieb er 1905 an der Berliner Universität zwar in Astronomie, wandte sich danach aber mehr der Meteorologie und Physik zu. Seiner Meinung nach gab es in der Astronomie nicht mehr viel zu erforschen, zudem störte ihn, dass ein Astronom stark an seinen Beobachtungsort gebunden ist. Seine erste Anstellung fand er im selben Jahr als Assistent am Aeronautischen Observatorium Lindenberg bei Beeskow, wo auch sein zwei Jahre älterer Bruder Kurt arbeitete.
Mit ihm stellte er 1906 bei einem Ballonaufstieg zu meteorologischen Beobachtungen 1906 mit 52,5 Stunden einen neuen Dauer-Rekord auf. Er wurde zu einem Pionier der sich damals entwickelnden Aerologie, der Physik der hohen Atmosphäre. Er erforschte die Eisphasen des Wasserdampfes in der Atmosphäre und schrieb über die Entstehung spezieller Wolkenarten. Als einer der Ersten befasste er sich mit Turbulenzen in der Erdatmosphäre und verfasste wissenschaftliche Arbeiten über Staubwirbel, Wind- und Wasserhosen. Für den beginnenden Flugverkehr von besonderer Bedeutung waren seine Höhenwindmessungen, für die er den Ballontheodolit entwickelte. Auch optische Phänomene in der Atmosphäre Polarlichter und Luftspiegelungen (Fata Morgana) erweckten seinen Forschergeist. Im selben Jahr nahm Alfred Wegener an der ersten von insgesamt vier Grönland-Expeditionen teil – eine Entscheidung, die er für einen der bedeutendsten Wendepunkte in seinem Leben hielt.
erste Bekanntschaft mit dem Tod im Eis
Der Auftrag der Expedition unter Leitung des Dänen Ludvig Mylius-Erichsen war es, das letzte unbekannte Stück der grönländischen Nordostküste zu erforschen. Wegener baute die erste meteorologische Station in Grönland bei Danmarkshavn, wo er Drachen und Fesselballons für meteorologische Messungen im arktischen Klima aufsteigen ließ. Unter 28 Teilnehmern war er der einzige Deutsche, nahm an Schlittenreisen teil und machte auch die erste Bekanntschaft mit dem Tod im Eis: Bei einer Erkundungsfahrt an die NO-Küste Grönlands mit Hundeschlitten kam der Expeditionsleiter zusammen mit zwei Gefährten ums Leben. Während dieser Reise beobachtet Wegener das Treibeis auf dem Meer, das zerbricht, auseinanderdriftet und gegeneinanderstößt und ihn später auf seine Theorie bringt.
Nach seiner Rückkehr wurde er Privatdozent für Meteorologie, praktische Astronomie und kosmische Physik an der Philips-Universität Marburg. 1909/10 arbeitete er an seinem Buch „Thermodynamik der Atmosphäre“, in dem er auch zahlreiche Ergebnisse der Grönland-Expedition verwertete – auf insgesamt 170 Veröffentlichungen wird er es bringen. Wegeners Studenten und Mitarbeiter in Marburg schätzten besonders sein Talent, auch komplizierte Fragen und aktuelle Forschungsergebnisse klar und verständlich zu vermitteln, ohne dabei auf Exaktheit zu verzichten. Diese Jahre gehören zu den wichtigsten Schaffensperioden Wegeners. 1911 verlobte er sich mit Else Köppen, die Tochter seines Mentors Wladimir Köppen, und schickte sich nach der öffentlichen Vorstellung seiner Theorie der Kontinentalverschiebung an, seine zweite Expedition vorzubereiten.
Bis 1913 war er als wissenschaftlicher Leiter mit dem dänischen Hauptmann Johann Peter Koch und zwei weiteren Mitarbeitern unterwegs und führte unter anderem die ersten Eisbohrungen auf einem bewegten Gletscher in der Arktis durch. Kochs Idee war, statt Hundeschlitten 16 isländische Pferde mit zu nehmen. Die Durchquerung Grönlands, bei der die vier Expeditionsteilnehmer eine doppelt so lange Strecke zurücklegten wie einst Fridtjof Nansen bei seiner Durchquerung Südgrönlands 1888, hat allerdings keines der Tiere überlebt. Auch die Expeditionsteilnehmer verdanken ihre Ankunft am Ziel nur einem Zufall: Nur wenige Kilometer von der westgrönländischen Siedlung Kangersuatsiaq entfernt gingen der kleinen Gruppe in den unwegsamen Gletscherabbrüchen die Nahrungsmittel aus, selbst der geliebte Hund wurde verspeist. Im letzten Moment wurden sie aber an einem Fjord vom Pastor von Upernavik aufgelesen, der gerade eine entlegene Gemeinde besuchte. Wegeners Buch „Durch die weiße Wüste“ erscheint erst 1919, nach dem Ersten Weltkrieg.
Vorbereitung der Großen Expedition
Zurück in Marburg heiratete er seine Verlobte, die ihm drei Töchter zur Welt bringen und ihn um 62 Jahre überleben sollte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Wegener als Reserveoffizier sofort eingezogen, kämpfte an der Westfront in Belgien und wurde nach zweimaliger Verwundung für felddienstuntauglich befunden. Er wurde dem Heereswetterdienst zugeteilt und unterrichtete als Meteorologe u. a. Offiziere, die Luftschiffe führen sollten. Diese Tätigkeit erforderte ständiges Umherreisen zwischen den verschiedenen Wetterwarten in Deutschland, auf dem Balkan, an der Westfront und im Baltikum. In dieser Zeit arbeitete er auch an seinem Hauptwerk „Die Entstehung der Kontinente und Ozeane“, das 1915 erstmalig als Buch erschien. Darin legte er zur Begründung bspw. dar, dass bestimmte Regenwurm- und Schneckenarten sowohl in Westafrika als auch in Südamerika leben, denen es beim besten Willen nicht zuzutrauen sei, dass sie Tausende Kilometer über eine Landbrücke von einem Kontinent zum anderen gekrochen sind. Stattdessen müssten sich einfach die Landmassen bewegt haben.
Als am 3. April 1916 ein Meteorit in Kurhessen zur Erde fiel, bestimmte Wegener aus der Analyse zahlreicher Einzelbeobachtungen die Aufschlagstelle. Dort wurde der „Meteorit von Treysa“ im Frühjahr 1917 tatsächlich gefunden. Wegener beschäftigte sich mit der Form der Aufsturzkrater und machte Experimente dazu mit Zementpulver. 1921 schrieb er eine Monografie über „Die Entstehung der Mondkrater“ und meinte darin, dass die meisten Krater durch den Einsturz von Meteoriten entstanden sein müssen. Das fanden zu jener Zeit nur wenige Außenseiter, heute aber ist diese Ansicht allgemein akzeptiert.
Zu dieser Zeit war er mit seiner Familie bereits nach Hamburg gezogen, wo er anfangs als Leiter der Abteilung Meteorologische Forschung der Deutschen Seewarte arbeitete und dann zum außerordentlichen Professor an der neu gegründeten Universität berufen wurde. 1923 versuchte er in „Die Klimate der geologischen Vorzeit“, das er gemeinsam mit seinem Schwiegervater veröffentlichte, den neuen Wissenschaftszweig der Paläoklimatologie im Rahmen seiner Kontinentalverschiebungstheorie zu systematisieren. Im Jahr darauf erhielt Wegener den Ruf auf den ordentlichen Lehrstuhl für Meteorologie und Geophysik an der Karl-Franzens-Universität im österreichischen Graz und wandte sich zunächst der Physik und der Optik der Atmosphäre zu. Im Rahmen der Professur in Graz nahm er auch die österreichische Staatsbürgerschaft an.
Vier Jahre später unterbreitet er der deutschen „Notgemeinschaft der Wissenschaft“ – es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise – einen Plan für weitere Forschungen auf der größten Insel der Welt. Wegener möchte die Eisdicke mit verbesserten Methoden messen und zwei feste Stationen einrichten, auf denen ein Jahr lang meteorologische Beobachtungen aufgezeichnet werden sollen. Die Wissenschaftsgemeinschaft stimmt zu, Wegener fährt 1929 mit einer Vorexpedition an die grönländische Westküste, um die günstigste Stelle für den Aufstieg der im Folgejahr geplanten Hauptexpedition ins grönländische Inlandeis zu finden. Auf dieser Expedition sollte von drei festen Stationen aus die Mächtigkeit des Festlandeises und das ganzjährige Wetter gemessen werden.
Tod im Eis
Die Hauptexpedition startet mit 20 Teilnehmern am 1. April 1930 von Kopenhagen. 32 Grönländer, 143 Hunde und 20 Packpferde schleppen über Wochen, wenn nicht Monate, die tonnenschwere Ausrüstung vom Kamarujuk-Fjord aufs Inlandeis hinauf. Ein Teil der Truppe fährt 400 Kilometer ins Landesinnere und errichtet dort die Station „Eismitte“, die mit zwei Männern besetzt wird. Im September setzt starker Schneefall ein. Doch ein Transport mit Petroleum muss noch nach „Eismitte“, sonst kommen die beiden Männer dort nicht über den Winter. Wegener bricht mit seinem Gefährten Fritz Loewe und zwölf Grönländern am 22. September ins Herz des Eisschilds auf. „Schon die Reise hierher war sehr hart, und was uns bevorsteht, ist jedenfalls keine Vergnügungsfahrt“, schreibt er in einem Brief, den er bei Kilometer 62 den umkehrenden Eskimos mitgibt.
Zum Schluss sind sie nur noch zu dritt: die beiden Deutschen und der Grönländer Rasmus Willemsen. Es ist bis zu minus 54 Grad kalt, der Wind weht von vorn. Am 30. Oktober erreichen sie die Inlandstation. Loewe sind mehrere Zehen erfroren, er kann die Rückreise zur Küste nicht antreten. Wegener und Rasmus brechen am 1. November 1930 auf – sie kommen nie an. Die Männer im Basislager vermuten, dass sie alle in „Eismitte“ überwintern. Die Männer in „Eismitte“ denken, Wegener und Rasmus seien heil am Basislager angekommen. Alfred Wegener wird erst am 12. Mai 1931 entdeckt – einen Meter unter dem Schnee. Zwei Skier stecken neben ihm. Er hat keine Erfrierungen, vermutlich ist er am 16. November 1930 vor Erschöpfung an einem Herzschlag gestorben. Die Männer begraben ihn im ewigen Eis. Rasmus Willemsen hat seinen Weg zur Küste alleine fortgesetzt. Sein Leichnam wurde ebenso wie Wegeners Tagebuch nie gefunden.
Bereits 1934 erwähnte H. P. Lovecraft im siebenten Kapitel seiner Horror-Erzählung „Berge des Wahnsinns“ Wegeners damals noch allgemein abgelehnte Drifthypothese. 1935, zum 5. Todestag von Wegener, organisierte der Kameramann Walter Riml eine eigene Expedition nach Grönland, wiederholte die gesamte Wegener-Expedition von 1930 und nahm diese filmisch auf. In Zusammenschnitten von noch vorhandenem Negativmaterial der letzten Wegener-Grönlandfahrt entstand der Film „Das große Eis – Alfred Wegeners letzte Fahrt“. Erst seit den 1970er Jahren ist die Plattentektonik in Wissenschaftskreisen allgemein anerkannt, der schon von Wegener geforderte direkte Nachweis der Kontinentalverschiebung konnte mittlerweile durch satellitengeodätische Messungen erbracht werden.
Drei Schulen bundesweit und eine Straße in Hamburg wurden nach ihm benannt. Das 1980 gegründete Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven forscht in seiner Tradition weiter, es unterhält unter anderem die Forschungsstation „Neumayer III“ in der Antarktis. Hier und in der Arktis sind acht geographische Areale nach ihm benannt, dazu ein Asteroid sowie ein Mond- und ein Marskrater. Die European Geosciences Union vergibt seit 1983 für herausragende Leistungen in Meteorologie, Ozeanographie oder Hydrologie die Alfred Wegener Medal.