„Ich verpuffe“
23. Dezember 2020 von Thomas Hartung
Ob ihn erfreut hätte, dass die Deutsche Post eine Briefmarkenserie mit fünf Motiven von ihm auflegte, ist wohl fraglich. Die Sache mit dem Krokodil aber hätte ihm sicher gefallen. Fast sechs Meter lang, lebte es vor etwa 164 Millionen Jahren und war „eine der bösesten Kreaturen, die jemals die Erde bewohnt haben“, sagte die Londoner Museumskuratorin Lorna Steel dpa. Lemmysuchus obtusidens wurde das gigantische Reptil getauft. Auch ein Asteroid und ein ausgestorbener Wurm sind nach ihm benannt worden, nicht aber eins von vier neuen superschweren Elementen des Periodensystems. Eine Petition, die dazu aufrief und über 150.000 Unterstützer fand, begründete das so: „Lemmy war eine Naturgewalt und verkörperte das Wesen des Heavy Metal“.
Er galt als einer der Pioniere der Gegenkultur und seltenen Vertreter der letzten authentischen Rocker-Generation: Der Spiegel sieht in ihm „einen britischen Exzentriker, der seinen Feinsinn und seine Sanftmut hinter mächtigen Verstärkern und martialischen Zeichen verbarg.“ 2014 befragt, ob er sich nun endlich auf der Bühne das Recht erworben habe, Ohrenstöpsel zu tragen, antwortete er: „Wenn man sich entscheidet, diese Art Lärm zu machen, hat man eine gewisse Verantwortung. Nur andere Menschen zuzudröhnen und sich selbst fein rauszuhalten gilt nicht. Ohrenstöpsel sind unfair.“ Und er galt als belesener, ja mindestens freizeitphilosophischer Freigeist, der mit lockeren Sprüchen wie diesem überraschen konnte: „Einen Kater vermeidest du am besten, indem du nie aufhörst zu trinken.“
Seine Band nannte er Motörhead – für die New York Times die lauteste der Welt, 140 dB wurden auf manchen Konzerten gemessen. Dabei blieb er Realist: „Wir sind an der Spitze der zweiten Liga, und das reicht mir vollkommen.“ Die Musik bezeichnete er einmal als „Unfall, bei dem Motorrad, Auto und Bulldozer aufeinander krachen. Nur der Motorradfahrer überlebt.“ Markus Lanz schockte er im ZDF mit der Beschreibung „Meine Musik hört sich an wie der dritte Weltkrieg in einer Telefonzelle.“ Mit dem ö in Motörhead wollte er niemanden ärgern: „Es sah einfach gemeiner aus. Deutscher.“ Die Kriegs- und Deutschenmetaphorik war seiner Herkunft geschuldet und sollte ihn zeitlebens nicht nur musikalisch prägen: Bandleader Lemmy Kilmister. Am 24. Dezember 1945 kam er in Stoke-on-Trent zur Welt: Als „Christkind des Hardrock“, heißt es später.
„Macht ist Versuchung“
Seine Mutter war Bibliothekarin, sein leiblicher Vater Feldkaplan der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg: „Mein Vater wollte ein Kind zeugen, bevor er in den Krieg zog. Ich bin, so gesehen, eine direkte Konsequenz des Kriegs.“ Er verließ die Familie drei Monate nach Lemmys Geburt: „Er hat den Soldaten fromme Sprüche vorgebetet und Werte gepredigt, die er dann selber nicht gelebt hat“, ärgert er sich noch Jahrzehnte später. Religion hält er zeitlebens für einen Fehler: „Und zwar alle Religionen. Es ist wie mit den Politikern: Die Partei ist völlig egal. Sobald sie an der Macht sind, vermasseln sie es. Macht ist Versuchung. Und Priester und Politiker sind eben auch nur Menschen.“ Und überhaupt: „Gott kommt sowieso nie vorbei. Er zeigt sich höchstens in der Musik, die er Auserwählte schreiben lässt. Etwa Beethoven.“
Seine früheste Erinnerung beschreibt er augenzwinkernd: „Ich steh im Laufstall, klammere mich an den Stäben fest und brülle. Ich muss wohl geprobt haben“. Kilmister besuchte die Grundschule in Madeley, einem Dorf nahe seiner Geburtsstadt. „Ich wurde von meiner Mutter und meiner Oma großgezogen, sie lehrten mich, höflich zu Frauen zu sein und ihnen mit Respekt zu begegnen“. Mit zehn Jahren zog er nach Benllech, einem Seebad auf der zu Wales gehörenden Insel Anglesey, wo seine Mutter den ehemaligen Profifußballer und Fabrikanten George Willis geheiratet hatte. 1957 nahm Kilmister erstmals eine Gitarre in die Hand, es war die Hawaiigitarre seiner Mutter, weil er damit den Mädchen seiner Schule imponieren wollte. Er hatte nie Gitarrenunterricht, sondern brachte sich das Spielen selber bei.
Nachdem Kilmister mit 15 Jahren ohne Abschluss der Schule verwiesen worden war, jobbte er in einer Fabrik am Fließband und in einer Reitschule: „Ich besaß eine Farm in Wales mit zwei Hengsten, die ich für 34 Pfund gekauft und selbst zugeritten hatte. Dann hörte ich Little Richard, verkaufte die Pferde, und los ging‘s.“ Er erkannte, dass Rock‘n Roll ihm die Chance bot, einem eintönigen Leben in der Provinz zu entkommen und ein Abenteuer mit offenem Ausgang zu beginnen. Mit 16 verließ er sein Elternhaus und zog nach Manchester, wo er bei verschiedenen Bands spielte. Seine erste eigene Truppe, die „Rockin‘ Vickers“, mit der er drei Singles aufnahm, brachte es zu einigem lokalen Erfolg.
1967 traf Kilmister in London ein, wohnte im Haus der Mutter des späteren „Rolling Stones“-Gitarristen Ron Wood, teilte sich eine Wohnung mit Noel Redding, dem Bassisten von „Jimi Hendrix Experience“, und hielt sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als Roadie bei Hendrix und Keith Emersons „The Nice“. Nach Gastauftritten etwa bei P.P. Arnold wurde er 1968 Sänger bei „Sam Gopal“, mit der er 1969 das Album „Escalator“ aufnahm, für das er einige Songs unter dem Namen „Ian Willis“ beisteuerte, dem Nachnamen seines Stiefvaters. Das Projekt scheiterte wie auch sein nächstes „Opal Butterfly“. 1971 bekam er dann Kontakt zur Spacerockband „Hawkwind“, wollte als Gitarrist einsteigen – und wurde schließlich neuer Bassist.
Dabei verhalf ihm ein Zufall zu seinem ersten Instrument: „Es war ein deutsches Instrument, ein Bass von ‚Hopf‘. Del Dettmar, der Keyboarder von Hawkwind hat ihn am Flughafen Heathrow bei einem Preisausschreiben gewonnen. Seitdem bin ich Bassist – was für ein Zufall.“ Später bevorzugte er Instrumente von Rickenbacker, die er selbst „Rickenbastard“ nannte. In dieser Zeit soll sein Spitzname Lemmy entstanden sein: der oft exzessive Spieler litt an chronischer Münzknappheit und ging seine Kollegen mit den Worten „Can you lem’me five?“ oder „Lemme a fiver“ („Kannste mir ’nen Fünfer leihen?“) um Geld an. In seiner Autobiographie „White Line Fever“ (München 2006) erklärt er allerdings, dass er bereits als zehnjähriger Grundschüler diesen Spitznamen erhalten habe. Er sang die erfolgreichste Single der Band, „Silver Machine“, die bis auf Platz 2 der Charts gelangte – und wurde 1975 vom Management gefeuert, nachdem er wegen Drogenbesitzes durch den kanadischen Zoll festgenommen worden war.
„eine Hiobsbotschaft“
Irgendwann im Sommer desselben Jahres gründete er seine eigene Band, da konnte ihn niemand feuern, und wollte sie „Bastard“ nennen. Auf Anraten seines Managers, der ihm sagte, dass er damit kaum ins Fernsehen käme, benannte er sie in Anlehnung an den Titel des letzten Songs, den er für „Hawkwind“ geschrieben hatte, um. Bis zu seinem Tod war die Band mit ihm als musikalischem Kopf aktiv; die letzten 23 Jahre in konstanter Besetzung. Weil die drei Motörhead-Musiker – Kilmister, Gitarrist Phil Campbell und Schlagzeuger Mikkey Dee – auf den Tourneen so viel Zeit miteinander verbrachten, gingen sie sich ansonsten aus dem Weg, wann immer es ging. Alle drei hatten eigene Garderoben und im Tourbus ihre eigene Ecke.
Vor jedem Auftritt trat der Mann in Schwarz mit den hohen Cowboystiefeln, dem Eisernen Kreuz oder Indianerkunsthandwerk um den Hals, mit den markanten Fibromen, dem unverwechselbaren Westernbackenschnauzer, dem schnurgeraden langen Haar unter einem Cowboyhut und der Pik-Ass-Tätowierung auf dem Arm an den Mikrofonständer und erklärte allen, auch denen, die es schon wussten: „We are Motörhead. We play Rock and Roll.“ Ihrem Klang war die Band über die Jahre und die 22 Alben, die sie veröffentlichte, immer treu. Rau musste es sein und schnell. „Ich kann Heavy Metal eigentlich nicht leiden“, sagte Kilmister. „Die Beatles sind die beste Band.“ Manche Marketing-Gags seiner Truppe wurden legendär, etwa Babystrampler mit Logo und dem Aufdruck „Everything Louder than Everything Else“ oder Kondome „Go to Bed with Motörhead“.
Sein Bass, den er wie eine Rhythmusgitarre spielte, korrespondierte dabei mit seiner Stimme, die genauso klang, wie er lebte, nach Zigaretten und Whiskey. Kilmister hat die Freiheiten, die ihm seine Karriere bot, genossen. Einmal behauptete er von sich, dass er seit seinem 30. Geburtstag jeden Tag eine Flasche Whiskey getrunken habe: „Wenn ich ins Röhrchen puste, würde das Gerät wahrscheinlich zu Staub zerfallen.“ In Interviews war das Glas mit der Jack-Daniels-Cola-Mischung sein ständiger Begleiter. Sex, Drogen, Alkohol, Nikotin – Lemmy nahm alles mit; außer Heroin, das er hasste, weil seine große und einzige Liebe mit 19 daran zugrunde gegangen war.
Obwohl kolportiert wird, dass er tausend Frauen gehabt habe, wird er nie heiraten, allerdings mit zwei Frauen zwei Söhne bekommen. Der eine, Paul, arbeitet in den USA als Musiker und Produzent; beide sehen sich gelegentlich. Über den Verbleib seines anderen Sprösslings weiß er nicht viel: „Mein anderer Sohn ist ein Jahr jünger und wohnt, glaube ich, noch in England“, erzählt er dem Spiegel. „Ich bin mir aber nicht sicher. Ich habe ihn nie getroffen, weil er direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde. Die Mutter war damals 15. Das war vielleicht eine Hiobsbotschaft…“
„Wir mögen die bösen Buben“
Kilmister hatte manche Eigenart. Oft stieg er, während die Konzertbesucher schon in die Halle eingelassen wurden, mit einem Beutel Münzen in ein Taxi und ließ sich zu einem Spielcasino fahren. Dort verdaddelte er das Kleingeld an Automaten. Zwei Stunden später, wenn die Vorgruppen ihren Auftritt beendet hatten, kam er zurück und trat auf. Auch positionierte er sein Mikrofon stets etwas zu hoch, sodass er seinen Kopf während der Gesangspassagen anheben musste. Das war ein Markenzeichen seiner Bühnenpräsenz, diente nach seinen Aussagen der Bequemlichkeit und sollte ein Relikt aus den Anfangstagen sein, als die Band nur wenige Zuschauer hatte und er „so das Elend im Publikum nicht mitansehen musste“. Der erfolgreichste Song der Band war „Ace of Spades“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 1980. 25 Jahre später gab‘s für eine Metallica-Adaption den einzigen Grammy.
Die Inhalte der Songs waren dabei trotz mancher Monotonie und erst recht Lautstärke nie zu vernachlässigen. Lemmy war ein durchaus politischer Mensch, der in den Texten Themen wie Religion („Don‘t Need Religion“, „Bad Religion“), Kindesmissbrauch („Don´t let Daddy kiss me“) und vor allem Krieg („1916“) aufgriff. Diesen unpathetisch-melancholischen Song, in dem ein schwerverletzter Soldat in der Schlacht an der Somme in Dreck, Blut und Eingeweiden nach seiner Mutter schreit, die jedoch nie kommt, singt er nur begleitet von einer Orgel, dem Marschrhythmus eines Schlagzeugs und im Mittelteil von einem klagenden Cello. Das Kriegsthema war nicht nur eine Eigenart: „Der Zweite Weltkrieg“ antwortet er der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, welche die tief gehende Katastrophe in seinem Leben war, auf die seine Musik die logische Antwort ist.
Seine Beschäftigung mit diesem Geschichtskapitel kann man fast manisch nennen. Seine Wohnung ist vollgestopft mit Andenken und Trophäen aus Hitlerdeutschland, darunter einem Aschenbecher von Eva Braun und einem Jagdmesser von Hermann Göring: „Kultur ist alles, was das Bewusstsein der Bevölkerung erweitert“. In Deutschland bekam er polizeilichen Ärger: „Auf einem Zeitungsfoto trug ich einen Nazi-Hut. Ich wusste aber nicht, dass der Kram in Deutschland verboten ist. Eigentlich ist das ja logisch. Aber die Bösen haben nun mal einfach die schöneren Uniformen.“
Er fand nichts dabei, auf einer Kostümparty in Hollywood in voller SS-Uniform aufzutreten. Hitler war für ihn „der zwingende Redner des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach Hitlers Charisma kam nur noch Ozzy Osbourne, aber – Ozzy kann singen!“ Die Süddeutsche Zeitung fragte Lemmy direkt: „Weshalb lieben die Engländer Hitler so wahnsinnig?“ Seine Antwort: „Wir mögen die bösen Buben. Du möchtest nichts über langweilige Landwirtschaftsreformen hören. Du willst, dass Mackie Messer wieder zuschlägt.“ Sein Lieblingsmoment im Zweiten Weltkrieg war: „Als sie Frankreich überrannten. In nur drei Wochen.“
„etwas ruhiger angehen“
1990 hatte er sich in Los Angeles niedergelassen, in einem Zweizimmer-Apartment gegenüber seiner geliebten „Rainbow Bar” am Sunset Boulevard 9015, in dem er bis zuletzt wohnte: „Ich kann nicht 30 Zimmer bewohnen, Mann! Stress! In 28 Zimmern herrscht dann Totenstille. Wozu?“ Oft wurde er erkannt und um Selfies gebeten: „Wenn man sich sein ganzes Leben lang wünscht, berühmt zu sein, dann sollte man auch nicht anfangen zu meckern, wenn man es dann ist“, sagte er der Welt.
Eigenen Angaben zufolge hat Lemmy versucht, dem als unmusikalisch geltenden Sex-Pistols-Mitglied Sid Vicious das Bassspielen beizubringen, und nach drei Tagen aufgegeben: „Sid war ein hoffnungsloser Fall.“ Er hatte einige kleine bis mittlere Filmrollen, so mit vielen anderen Musikerkollegen in der Sozialgroteske „Eat the Rich“, für die er den Titelsong schrieb, sowie in Videoclips diverser Bands, bemerkenswert oft als Fahrer oder Fahrgast. Zudem sprach er in „Brütal Legend“ eine Videospiel-Rolle und ist spielbarer Charakter im Musikspiel „Guitar Hero: Metallica“.
Natürlich hat ein Leben, wie er es führte, seinen Preis, und Kilmister klagte nicht, als es daranging, ihn zu zahlen. 2000 wurde bei ihm, der für sein Leben gern Marzipan nascht, ein Diabetes diagnostiziert. 2013 bekam er einen Herzschrittmacher, der ihn auf der Bühne nicht beeinträchtigte: „Unser Geheimnis ist wohl, dass wir eigentlich immer noch Kinder sind. Mehr muss man da nicht hineindichten. Wir stehen immer noch gern auf der Bühne und toben nun mal gern herum.“ Kilmister beglich dabei immer cash, weil, wie er in der ihm eigenen Nonchalance bemerkte, die Krankenversicherung, die ihn nehmen würde, erst noch erfunden werden müsste.
Befragt nach seiner Angst, tot umzufallen, antwortete er: „Ich fall‘ nicht um. Ich verpuffe“. Wegen seiner anhaltenden gesundheitlichen Probleme mussten 2013 viele Konzerte und die Promotiontour des letzten Albums „Aftershock“ abgesagt, ein Auftritt beim Wacken Open Air abgebrochen werden. Kurz nach seinem 70. Geburtstag wurden bei ihm Tumore im Kopf- und Nackenbereich diagnostiziert. Er verstarb schließlich am 28. Dezember 2015 in seiner Wohnung an einer aggressiven Prostatakrebserkrankung. Sein Begräbnis wurde live im Internet übertragen.
Auf der „anderen Seite“ solle er es „etwas ruhiger angehen“, scherzte Motörhead-Schlagzeuger Mikkey Dee dabei. „Unser Mitgefühl gilt dem Gehörnten, der sich von nun an dort unten mit Dir wird messen lassen müssen“, schrieb Jörg Scheller in der Süddeutschen Zeitung. Lemmy wurde auf dem Forest Lawn Memorial Park in Hollywood beigesetzt. Obwohl man sein Vermögen auf mehrere Millionen schätzte, hinterließ er dem Haupterben, seinem Sohn Paul, laut Mirror nur ungefähr 600.000 Euro. „Es ist nicht wirklich schwierig, zu überleben – du darfst nur nicht aufgeben“, sagte er 2002. Daran hat er sich gehalten. Bis zum Ende.