Der Friedensgeneral
30. Dezember 2020 von Thomas Hartung
Selbst wenn er es nicht wollte: Er musste immer der erste sein. Der erste, den das Time Magazin zweimal zum Mann des Jahres kürte: 1943 und 1947. Der erste militärische Führer, der in den USA das Außenministerium leitete. Der erste General, der als vielfach prämierter Weltkriegsveteran von Senator Joseph McCarthy – der in der nach ihm benannten McCarthy-Ära vielerorts Kommunisten am Werk wähnte – als Verräter und „Helfer der Kommunisten auf ihrem Weg zur Weltherrschaft“ verdächtigt und beschimpft wurde. Und er war auch der erste Soldat, der den Friedensnobelpreis erhielt: George C. (Catlett) Marshall. Am 31. Dezember 1880 kam er in Uniontown, Pennsylvania, als Sohn eines wohlhabenden Kohlenhändlers zur Welt.
Die Familie konnte auf eine lange patriotische Linie zurückblicken, die einen Obersten Bundesrichter der USA einschloss. Obwohl er kein besonders guter Schüler war, erregten das Fach Geschichte seine Aufmerksamkeit – und illegale Hahnenkämpfe. Sein Vater hat seinen älteren Bruder Stuart und seine jüngere Schwester Margaret, eine bei weitem bessere Schülerin, stets bevorzugt. Nach einer unspektakulären Mittelschichtsjugend schlug er eine militärische Laufbahn ein und wurde von 1897 bis 1901 am Virginia Military Institute VMI ausgebildet. Er war ein „großer, schlanker, gutaussehender 20-Jähriger mit stechenden blauen Augen und einer gewissen Zurückhaltung“, wusste der Bostoner Historiker Lance Morrow. Stuart, der 1894 am VMI seinen Abschluss gemacht hatte, war gegen diese Wahl. Die beiden Brüder kamen nicht miteinander aus. Marshall erinnerte sich: „Ich hörte, wie Stuart mit meiner Mutter sprach und sie überreden wollte, mich nicht gehen zu lassen, weil er meinte, ich würde dem Familiennamen Schande bereiten. Das hat mich mehr beeindruckt als alle Lehrer, elterlicher Druck oder anderes. Ich beschloss an Ort und Stelle, ihn auszustechen.“
1902 trat er in die US Army ein und heiratete seine Jugendliebe Elizabeth Carter Coles. Die Ehe bleibt aufgrund einer Herzkrankheit „Lilys“ kinderlos. 1907 wurde er Captain First Lieutenant und bekleidete bis zum Ersten Weltkrieg verschiedene Positionen in den USA – er kartographierte den Südwesten von Texas – und auf den Philippinen: Hier sollte er vergeblich die gewaltsame Kolonialisierung durch Japan verhindern. Ab 1914 plante er sowohl Ausbildungs- als auch militärische Operationen, wurde 1916 zum Captain und 1917 zum Major befördert, kam im selben Jahr nach Frankreich und arbeitete ab 1918 im Hauptquartier der US-amerikanischen Expeditionsstreitkräfte. In Fort Douglas (Utah) machte der Kommandeur, Oberstleutnant Johnson Hagood, Marshall 1916 ein bemerkenswertes Kompliment in seiner Beurteilung: „Dieser Offizier ist sehr gut qualifiziert, in Kriegszeiten im Rang eines Generalmajors eine Division zu befehligen, und ich würde sehr gerne unter ihm dienen.“ Als Generalstabschef der 1. Armee war er maßgeblich an der Planung und Organisation der Meuse-Argonne-Offensive im Herbst 1918 in der Nähe von Verdun beteiligt, die Deutschland zu einem Friedensangebot zwang. Zu seinen Erfolgen zählten unter anderem die Verschiebung von 400.000 US-Soldaten, 3000 Kanonen, 40.000 Tonnen Munition und 90.000 Pferden über eine Entfernung von 100 Meilen.
„meine zitternden Hände zu halten“
1919 wurde er Adjutant von Sechs-Sterne-General John Pershing, organisierte die Besetzung des Rheinlands durch US-Truppen und konzentrierte sich, inzwischen Lieutenant Colonel, bis 1924 auf Ausbildung und Lehre in moderner mechanisierter Kriegführung. Bis 1927 war er als Befehlshaber des 15. Infanterie Regiments in Tientsin in China stationiert. Der Tod seiner Frau durch Herzinfarkt im letzten Jahr des Fernost-Aufenthalts traf ihn sehr. Bis 1932 war er an der US-Infanterie-Schule in Fort Benning als stellvertretender Kommandeur zuständig für die Ausbildung. Hier erwarb Marshall auch den Ruf, Offiziere skrupellos zu beurteilen und sogar die erfahrensten Männer zugunsten junger Offiziere zu entlassen, die seines Erachtens ein modernes Heer führen konnten. Dieser Ruf wurde später zu einer bisweilen traurigen Heereslegende.
In dieser Zeit heiratete er 1930 Katherine Boyce Tupper, die aus ihrer ersten Ehe drei Kinder mitbrachte und ihm damit seinen Wunsch nach einer Familie erfüllte. Seine Enkelin Kitty Winn gewann 1971 in Jerry Schatzbergs „The Panic in Needle Park“ die Goldene Palme als beste Darstellerin. 1933 wurde Marshall Colonel, 1936 Brigadier General und 1938 Leiter der Abteilung für Kriegsplanung im US-Kriegsministerium. Als sich Brigadegeneral Marshall im Kriegsministerium in Washington zum Dienst meldete, begrüßte ihn Stabschef Craig, ein alter Freund aus dem Ersten Weltkrieg, mit den Worten: „Gott sei Dank, George, dass Sie gekommen sind, meine zitternden Hände zu halten.“
Am 1. September 1939 ernannte ihn Roosevelt zum Generalstabschef des Heeres – eine Position, die er bis zum Kriegsende innehatte. Er leitet den Aufbau der amerikanischen Streitkräfte, begann mit einem absurd schlecht ausgerüsteten Heer von 174.000 Mann, das an 17. Stelle weltweit hinter Nationen wie Bulgarien und Portugal stand, und machte es zu einer globalen Streitmacht von mehr als acht Millionen Soldaten – einer Armee, ohne die die Alliierten Nazi-Deutschland und Japan nicht hätten besiegen können. „Keine kriegerische Extravaganz, sondern Logistik rettete die Welt in den Jahren von 1939-45, obwohl die Welt vielleicht immer noch nicht reif genug ist, um das zu verstehen“, weiß Morrow.
„Mann des Jahres“
Als Stabschef und wichtigster amerikanischer Kriegsplaner setzt sich Marshall nachdrücklich für eine Initiative der Alliierten gegen die NS-Streitkräfte über den Ärmelkanal ein, und plante die Operation Roundup, die die Vorstufe zur späteren Operation Overlord war, der Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944. „Letztlich war es Marshalls meisterhafter Umgang mit den neuen Gegebenheiten – die Notwendigkeit, schnell zu denken und zu improvisieren, im Feld einen sicheren Schnellschussinstinkt zu haben und von hervorragend organisierter Logistik und Kriegsstärke unterstützt zu werden – der ihn zum letzten beherrschenden Genie des Zweiten Weltkriegs machte“, lobt Morrow. Churchill nannte ihn den „Organisator des alliierten Sieges“, im Time Magazine wurde er erstmals „Mann des Jahres“. 1944 wurde er zum Fünf-Sterne-General des Heeres befördert. Da er selbst nach Ansicht Roosevelts in Washington unentbehrlich ist, setzt er sich dafür ein, dass sein Protegé Dwight D. Eisenhower die alliierten Streitkräfte in Europa anführt: „Ich habe das Gefühl, dass ich nachts nicht schlafen kann, wenn Sie nicht im Land sind“, soll Roosevelt gesagt haben.
1945 nimmt er an den Konferenzen von Jalta und Potsdam teil, tritt als Stabschef zurück und wird von Präsident Truman aufgrund seiner Fernost-Erfahrungen beauftragt, als Sonderbotschafter in China im dortigen Bürgerkrieg zu vermitteln. Diese Mission blieb ohne Erfolg, er erkannte er bald, dass Mao Tse-tungs Sieg nicht aufzuhalten war. So wurde er 1947 zurückgerufen und unter Präsident Truman als erster militärischer Führer in den USA Außenminister. Das Time Magazine erkor ihn zum zweiten Mal zum „Mann des Jahres“.
Marshall weist seine Mitarbeiter an, ein Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas, das European Recovery Programm (ERP), zu konzipieren, das er am 5. Juni in einer historischen Rede vor den Absolventen der Havard-Universität vorstellt – anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Die Ehre, erzählte Universitätspräsident James B. Conant den 8.000 Anwesenden im Hof der Universität, ging an „einen Amerikaner, dem die Freiheit andauernde Dankbarkeit schuldet, einen Soldaten und Staatsmann, dessen Fähigkeit und Charakter nur mit einem Mann in der Geschichte dieser Nation vergleichbar ist.“ Mit dem Vergleich war George Washington gemeint.
Marshall misstraute Eloquenz. Er sagte, er könne schlecht mit Worten umgehen und dachte, ein Offizier solle sich durch seine Taten ausdrücken. Er blickte auf den Hof von Harvard, rückte seine Lesebrille zurecht und begann: „Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die Lage der Welt sehr ernst ist…“ Damit legte Marshall das europäische Gesundungsprogramm dar, oder – wie alle es bald nannten – den Marshallplan. Als der Kalte Krieg begann, leitete er ein Programm in die Wege, das Westeuropa vor dem wirtschaftlichen und politischen Chaos und dem Totalitarismus retten würde, der China und die Ostblockländer erfasste.
„der letzte große Amerikaner“
Aus dem Außenministerium zog er sich 1949 zurück und wurde nun Präsident des Amerikanischen Roten Kreuzes. 1950 wurde das George-C.-Marshall-Haus auf dem Gelände der Messe Berlin im Rahmen der ersten Deutschen Industrieausstellung eröffnet. Das von Bruno Grimmek entworfene Gebäude beherbergt einen Kino- sowie einen Ausstellungssaal. Im selben Jahr wurde er zum Verteidigungsminister ernannt, zog sich jedoch am 12. September 1951 nach den Vorwürfen McCarthys für immer aus der Politik zurück. 1953 erhielt er für den Marshallplan den Friedensnobelpreis, 1959 den Karlspreis. Zu dieser Zeit war Marshalls Gesundheit schon rapide verfallen, er wurde taub und litt an Gedächtnisschwund. Während er im Walter-Reed- Militärkrankenhaus in Washington lag, erlitt er mehrere Schlaganfälle. Stellvertretend für ihn nahm seine Frau Catherine die Auszeichnung am 4. Mai 1959 entgegen. Im selben Jahr starb der langjährige Freimaurer und wurde auf dem Nationalfriedhof Arlington beigesetzt.
Morrow nannte ihn den „letzten großen Amerikaner“. Er hat in seiner 50-jährigen Laufbahn acht Präsidenten gedient. In der Historischen Rangordnung der höchsten Offiziere der Vereinigten Staaten wird er auf dem hohen 15. Rang geführt. 1994 wird das George C. Marshall Europäisches Zentrum für Sicherheitsstudien als „Marshall Center“ in Garmisch-Partenkirchen eingeweiht. Die historische Leistung des „Friedensgenerals“ war der Plan, den Präsident Truman am 3. April 1948 in Höhe von 12,4 Milliarden Dollar unterzeichnete. In den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen hatte sich Marshall für Verträge mit den besiegten Mächten eingesetzt, durch die sie wieder einen Platz als geachtete und gleichberechtigte Mitglieder in der Staatengemeinschaft erhalten sollen. Marshall befürwortet die Wiederbewaffnung Westeuropas, um die Region vor einer möglichen sowjetischen Aggression zu schützen.
Er hatte nicht nur eine Anhörung vor dem Kongress – er reiste durch das Land und erklärte geduldig. Es sei kein kostenloses Programm, sagte er den Geschäftsleuten. Die Länder, die finanzielle Unterstützung wünschten, hatten praktische Vorschläge für die wirtschaftliche Gesundung vorgelegt. Die Hilfe hatte eine zeitliche Begrenzung und eine festgesetzte Obergrenze für die Kosten. Sie würde von einem amerikanischen Geschäftsmann – keinem Bürokraten – verwaltet, und die Rechenschaftspflicht war gesichert. Zweimal in 50 Jahren, erinnerte er die Isolationisten, war Amerika in den Krieg gezogen, um Europa vor der „Beherrschung durch eine einzige Macht“ zu bewahren – ein klarer Beweis dafür, wieviel Europa Amerika bedeutete.
In Deutschland erhielt allein die Kohleindustrie rund 40 Prozent der Marshall-Mittel. Das Konzept war einfach: Firmen, die diese Mittel zur Verfügung gestellt bekamen, sollten diese Darlehen an den Staat zurückzahlen, um hieraus Förderungen für andere Unternehmen zu ermöglichen. Der Marshall-Plan beinhaltete zusätzlich ein technisches Unterstützungsprogramm: Ingenieure und Unternehmer wurden in die Vereinigten Staaten geholt, umgekehrt wurden auch amerikanische Ingenieure nach Europa entsandt. Nach vier Jahren hatte der Plan alle Erwartungen übertroffen. Jedes Mitgliedsland erwirtschaftete ein größeres Bruttoinlandsprodukt als in der Vorkriegszeit. Hunger und Not, unter denen so viele entwurzelte Menschen gelitten hatten, verschwanden fast über Nacht.
Nur wenige Jahre danach vereinten sich mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“. Mit der wachsenden Entwicklung innerhalb Europas, neu hinzu gekommenen Mitgliedern und dem Vertrag von Maastricht am 1. November 1993 wurde die Europäische Union geschaffen. Ob der Moloch, zu dem die Institution inzwischen mutierte, in Marshalls Sinne gewesen wäre, darf getrost bezweifelt werden.