Der Stubenhocker
5. Januar 2021 von Thomas Hartung
Als er einmal in Deutschland eine Rede hielt und aufgefordert wurde, Hochdeutsch zu sprechen, entgegnete er: „Ich kann nicht höher!“ Ganz selbstverständlich flossen in seine Texte Helvetismen ein. Legendär ist der Dialog zwischen Kaiser Romulus und Kammerdiener Pyramus im Theaterstück Romulus der Große, den er einfügte, nachdem sich ein Schauspieler über den Ausdruck „Morgenessen“ statt „Frühstück“ mokiert hatte. Als 1985 sein Roman Justiz im Stern vorabgedruckt wurde und man die Helvetismen aus dem Text strich, kam es sogar zum Prozess. Spätestens damit erhielten sie die höheren literarischen Weihen – und fanden wie „Kondukteur“ oder „Pneu“ auch den Weg in den Duden, wo sie als „schweizerische Variante“ gekennzeichnet sind: der Wortschöpfer als Sprachlehrer.
Er bewegte sich ungern, sah sich selbst als Stubenhocker. Die allermeiste Zeit saß er nur in seinem Arbeitszimmer und schrieb oder zeichnete. Ein Solitär und Solodenker, der sich immer über die Frauengeschichten seines Kollegen und Freundes Max Frisch pikiert zeigte – aber auch selbst welche hatte. Der Suizidversuch seiner ersten Frau Lotti nach einem dieser Seitensprünge nahm in mehr mit als er sich eingestehen wollte. Als sie, die ihm drei Kinder gebar, 1983 starb, stürzt ihn der Tod in tiefe Verwirrung, er hält ihn auf kindliche Weise für einen bösen „Streich“, den ihm Lotti gespielt hat, für eine Art böswilliges Verlassen des gemeinsamen Ehestandes. Aus Ratlosigkeit, Verdüsterung und aus der Verfinsterung seiner Lebensumstände rettet er sich 1984 durch die Ehe mit der Journalistin und Schauspielerin Charlotte Kerr. Die zweite Ehe wird zu einer Wiedergeburt des Autors. Ein neuer Alltag, neue Beziehungen und neue Einsichten lösen einen Kreativschub aus.
Überhaupt – Kreativität. Ein Dörfler, geprägt von der Kindheit im Emmental, der sich schon dort als dicklicher Außenseiter empfindet und von den Mitschülern geprügelt wird. Seiner geordneten, kleinkarierten Wirklichkeit setzt er früh, wild um sich malend und dichtend, die Eigenwelt seiner überbordend monströsen, apokalyptischen Phantasie entgegen. Er fühlte sich als Kind oft eingesperrt in ein undurchschaubares Labyrinth, wie der Minotaurus, der nicht weiß, was auf ihn zukommt – eines der wichtigen Motive des bildenden Künstlers: „Zeichnen war für mich eine Abwehr, ein Umfunktionieren, ich konnte dann das irgendwie bildlich darstellen. Was hab ich gezeichnet? Ich habe immer Katastrophen gezeichnet, ich habe immer Kriege gezeichnet, ich hab immer Sintfluten gezeichnet.“ In guter Laune verewigt er sich als Erwachsener zeichnerisch sogar auf Weinflaschen – im Selbstporträt als „Minoromulus“, als Mischwesen aus „Romulus dem Großen“ und dem „Minotaurus“, das kräftig den Darm entleert.
Wenig Verständnis findet seine Welt beim Vater, einem Pfarrer und Gelehrten. Beide Eltern, erinnert sich seine jüngere Schwester Verena, seien ausgeprägte Persönlichkeiten gewesen, die ihre Welt gelebt haben, „wir waren ja eigentlich draußen und hatten unsere eigene zu entdecken“. Die Rebellion gegen den Vater führt zeitweise zu einem „nebulösen Parteinehmen für Hitler“, befindet sein Biograph Peter Rüedi, dessen Aufstieg anfangs noch als Gegenkraft zum Kommunismus von beiden Dürrenmatts gemeinsam mit Sympathie verfolgt wird. Das ändert sich beim Vater, der den Führer des Dritten Reiches zunehmend als Antichristen wahrnimmt, während der Sohn ihn als „Schutz gegen die väterliche Welt des Glaubens“ verwendet. Außerdem gefällt er sich von Anbeginn in der Rolle des Außenseiters und des provokanten Bürgerschrecks – laut Rüedi war er germanophil, aber kein Nazi, und am Ende seines Lebens gar linksliberal: Friedrich Reinhold Dürrenmatt, der vor 100 Jahren, am 5. Januar 1921 im kleinen Städtchen Konolfingen zur Welt kam.
Weltveränderer sind Narren
1935 zieht die Familie nach Bern, wo der Vater Pfarrer am Salemspital wird und Friedrich das Gymnasium besucht. Der Vater wollte, dass sein Sohn nach dem Abitur 1941 Theologie studiert, doch Friedrich hatte beschlossen, Maler zu werden. Doch zu einem Kunststudium kam es nie – seine magisch-surrealen Bilder stießen auf Ablehnung: „Das war eine Zeit, da ganz Bern impressionistisch malte; der Expressionismus existierte nicht“. So belegte er Theologie, Philosophie und Literatur; Homer und Aristophanes, Kierkegaard und Kafka werden ihm wichtig. Zwischendurch setzt er das Studium in Zürich fort, kehrt aber im Mai 1943 nach Bern zurück, wo er auch noch Psychologie, Nationalökonomie und Philosophie studiert. Parallel leistet er in jener Zeit den militärischen Hilfsdienst ab und vor allem – er malt und schreibt: Prosa, Lyrik, Dramatik, allesamt später veröffentlicht. Der Gedanke an einen künstlerischen Beruf beherrscht ihn. In Bern wohnte er bei seinen Eltern in einer Mansarde, die er mit großen Wandbildern ausstattete, die später übertüncht und erst Anfang der neunziger Jahre entdeckt, freigelegt, restauriert und zugänglich gemacht wurden.
Am 5. Januar 1945, als Hilfssoldat in einem Schweizer Grenzbataillon, fällt er die Entscheidung, als Autor zu arbeiten, und bricht nach 10 Semestern das Studium ab, ohne seine geplante Dissertation zu Søren Kierkegaard auch nur anzufangen. 1946 heiratet er Lotti und betritt 1947mit Getöse die Bühne des Schauspielhauses Zürich. Die Premiere seines turbulenten Wiedertäufer-Spektakels Es steht geschrieben führt zu einem solchen Skandal, dass man sich in Zürich für etliche Jahre an kein neues Werk des Szenen-Berserkers wagt. „Die Welt rast dem Nichts entgegen, und Friedrich Dürrenmatt schreibt als Zeremonienmeister das Protokoll dazu“, fasst Roman Bucheli in der NZZ die literarische Existenz Dürrenmatts zusammen. Zeitlebens hat Dürrenmatt weiter gezeichnet, oft bedauerte er auch, nicht Maler geworden zu sein. Er hatte auch außerhalb der Schweiz viele Ausstellungen.
Zuerst findet er im Theater seine Bestimmung. Hier konnte er Bilder auf die Bühne bringen und zugleich philosophische Denkmodelle mit handelnden Personen entwerfen. Mit 35 Jahren erlebte Dürrenmatt den Durchbruch. Die tragische Komödie Der Besuch der alten Dame wurde 1956 ein Welterfolg. Überall verfolgten die Zuschauer seine düstere Spielanordnung: Was würde geschehen, wenn ein Mensch – wie die alte Dame Claire Zachanassian – eine Milliarde für einen Mord böte? Und was, wenn die Formel zur Vernichtung der Welt in falsche Hände geriete, wie in Die Physiker? Auch dieses Stück, das 1962 uraufgeführt wurde, nannte Dürrenmatt eine Komödie, denn seiner Überzeugung nach konnten nur noch Komödien den grotesk-horrenden Zustand der Welt im Zeitalter der Atombombe abbilden: „Das Komödiantische ist meine dramaturgische, ich möchte fast sagen, wissenschaftliche Methode, mit der ich mit den Menschen experimentiere, um Resultate zu erhalte, die mich allerdings oft selber verblüffen.“
Kafka steht bei Dürrenmatt ebenso Pate wie Wedekind und Nestroy. In seinen politischen Themen wurde er auch von Bertolt Brecht inspiriert, aber anders als Brecht trieb Dürrenmatt seine Stoffe stets in die Groteske. Dürrenmatt lässt die Zuschauer lachen – und dann in den Abgrund blicken, der für ihn die Welt bedeutete. Seine Themen sind wahrlich nicht gemütlich: Prediger, Idealisten und zynische Mörder ringen in seinen Theaterstücken um Wahrheit und Macht. Seine Kriminalromane und Hörspiele handeln von meist ungesühnten Verbrechen, davon, wie man jemanden in einen Mord hineintreiben kann – oder in eine Schuld, wie in dem frühen Hörspiel Der Doppelgänger. Für Dürrenmatt sind Weltveränderer Narren, denn sie sind nicht nur ohne Erfolg, sondern auch der kleinste Zufall kann die menschlichen Bestimmungen zunichtemachen. Mit seiner literarischen Darstellungsweise als ein Gegenbild zur Realität verfolgte er moralische Zwecke, um die Menschen in ihrem Bewusstsein der Freiheit zu sensibilisieren. Einige seiner Theaterstücke wurden fest eingeplant in die Schullektüre. Im Porträt eines Planeten (1967) wird die Weltgeschichte zum Schlachthaus.
„Buhrufe statt Applaus“
„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung“, fragt er listig, als er sich nach besserem Verdienst umtut. „Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet.“ 1950 erscheint Der Richter und sein Henker als Fortsetzungsroman in Der Schweizerische Beobachter und erreicht bis heute eine weltweite Auflage von rund 7 Millionen Exemplaren. Dürrenmatts Themen auch der folgenden Kriminalromane sind die des ketzerischen Protestanten; es geht stets um Schuld und Verrat, die unmögliche Gnade und die unmögliche Gerechtigkeit auf Erden. Die Welt erscheint Dürrenmatt als Paradoxon, als Absurdum, als faszinierende Sinnlosigkeit.
In den nächsten Jahren publiziert er weitere Kriminalromane, die seinen Weltruhm mit begründen, etwa Der Verdacht (1953). Herausragend ist dabei Das Versprechen (1958). Für Rüedi ist das Buch, in dem ein pensionierter Kommissar einen von seiner Ehefrau traumatisierten Mädchenmörder sucht, der seine Opfer mit Schokolade anlockt, ein „Meisterwerk über den Zufall.“ Der Stoff wird noch im Erscheinungsjahr unter dem Titel Es geschah am helllichten Tag mit Heinz Rühmann in der Rolle des Kommissars Matthäi und Gert Fröbe als Triebtäter Schrott verfilmt; Sean Penn dreht 2001 mit Jack Nicholson als Kommissar ein vielbeachtetes Remake.
Dürrenmatt schrieb unermüdlich weiter: Frank der Fünfte (1959), Der Meteor (1966), unternahm Reisen nach London, Mailand, Paris und Stockholm und erhielt zahlreiche Preise. So den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ für Die Panne (1957), den „Prix Italia“ für das Hörspiel Abendstunde im Spätherbst (1958) und den Preis der Schillerstiftung . 1968 hält Dürrenmatt den „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht” in Mainz, im selben Jahr bekommt er den Grillparzer-Preis. 1973 scheiterte Friedrich Dürrenmatt spektakulär. Für sein Stück „Der Mitmacher“ gab es am Zürcher Schauspielhaus Buhrufe statt Applaus. Mit dieser Niederlage begann für Dürrenmatt eine langsame Abkehr vom Theater und eine komplette Hinwendung zur Prosa.
Er beginnt mit der Arbeit an den Stoffen und versucht eine umfassende Darstellung der Geschichte seiner Schriftstellerei zu schaffen – ein Werk, das sich keiner gängigen Literaturgattung zuordnen lässt: Teils Autobiografie, teils Erzählung, teils philosophische Reflexion. Es entstehen die Stoffe I – III (Labyrinth) und IV – IX (Turmbau). An dem Projekt arbeitet Dürrenmatt bis zu seinem Tod. Weitere erwähnenswerte Werke sind unter anderem Ein Engel kommt nach Babylon (1954), Herkules und der Stall des Augias (1954), Die Panne (1956), Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank (1960), Der Mitmacher (1976), Durcheinandertal (1989) oder Midas oder die Schwarze Leinwand (1991).
Den inzwischen erworbenen Wohlstand weiß er zu genießen. Seine seit jeher bestehende Leidenschaft für Wein pflegt er nunmehr im großen Stil des Kenners. Es entsteht im Laufe der Jahre ein legendärer Weinkeller, nachdem er für diesen Luxus durch den Bau seines zweiten Hauses (1965) im großen Luftschutzkeller Platz geschaffen hat. Schon früh hat er sich mit Vorliebe an roten Bordeaux gehalten. Auch nach einer durchzechten Nacht war er spätestens morgens um neun wieder an der Arbeit. Er hat auch die Auffassung vertreten, dass sein Diabetes, an dem er seit Jahrzehnten litt, und der Anfälle von Müdigkeit und von Verstimmungen zu Folge hatte, für seine Arbeit förderlich sei. Er betrachtete die Krankheit als Widerstand, den er überwinden musste.
Seine Texte sind nicht Ausdruck seiner Persönlichkeit, wie bei den meisten Schriftstellern. Er ist ein Beobachter der Welt aus sicherer Distanz und hält dem Leser von dieser Welt das verzerrte Spiegelbild vor. Er war Ehrendoktor in den USA, Frankreich und Israel und ging mit seinen Kritikern nicht gerade sanft um. Selbst in seine Werke baute er Entgegnungen ein, etwa in der Dichterdämmerung (1980), in der er unter anderem Hellmuth Karasek, Joachim Kaiser oder Marcel Reich-Ranicki abfertigte. Am 14. Dezember 1990 stirbt Friedrich Dürrenmatt an den Folgen eines Herzinfarkts in Neuenburg. 1998 hat der Diogenes Verlag eine auf 37 Bände erweiterte Werkausgabe veröffentlicht.