Aufbrechende Verschüttungen
23. März 2011 von Thomas Hartung
Manchmal bedarf es eines Bildes, einer Impression – und plötzlich gelangen Assoziationen an die kognitive Oberfläche, ein Bedeutungskosmos, der längst vergessen schien. Genau das passierte mir, als ich heute Nachmittag an der liebevoll restaurierten Gohliser Windmühle vorbeiradelte.
Als studierter Historiker wusste ich natürlich irgendwann, dass die Wind- (neben der Wassermühle) lange die einzige Arbeitsmaschine der Menschheit war: sie verrichtete mithilfe ihrer vom Wind in Drehung versetzten Flügel Arbeit, die ursprünglich – als Kornmühle – im Zerkleinern von Getreide bestand. Später wurde das Mahlen und Zerkleinern auf andere Stoffe ausgedehnt: es entstanden Öl-, Senf-, Gewürz-, Farb-, Steinschrot-, Pulver-, Gips-, Kreide- sowie Schnupftabakmühlen.
Heute gibt es deutschlandweit noch rund 1.400 Wind- und Wassermühlen (in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland keine mehr), die jährlich zum Deutschen Mühlentag am Pfingstmontag ihre Mühlen für Besucher öffnen. Moderne Windkraftwerke müssen als legitime Nachfolger der Windmühlen gelten, da sie nach dem gleichem Prinzip funktionieren.
Die Gohliser Mühle also – obwohl verfrüht besucht, habe ich viel gelernt. Etwa, dass sie eine Galerie-Holländermühle mit Türenflügeln ist.
Und lernte ebenso, dass es auch noch gibt
- Fluttermühlen
- Bockwindmühlen
- Kokerwindmühlen
- Turmwindmühlen und
- Paltrockwindmühlen.
Und lernte weiter, dass diese auch aufweisen können
- Segelgatterflügel
- Jalousieklappenflügel
- Bilausche Ventikanten und
- Segelstangenflügel.
Und lernte daneben, dass es eine Flügelsprache gibt:
Je nach Stellung (im gebremsten Zustand) kann man mit vier bis neun Flügelstellungen Signale übermitteln: wichtige Familienereignisse der Müllerfamilie (Geburt und Tod) etwa mithilfe der Freuden- oder Trauerschere.
Dass solcherart Geschichtsträchtigkeit auch literarische Trächtigkeit nach sich zieht, liegt auf der Hand. Was fiel mir da nicht alles wieder ein:
- de Cervantes’ berühmte literarische Gestalt „Don Quijote“ hält Windmühlen für vielarmige Riesen und will diese zum Zweikampf stellen. Knappe Sancho Pansa kommentiert das Scheitern Quijotes folgendermaßen: … habe ich’s Euer Gnaden nicht gesagt, Ihr möchtet wohl bedenken, was Ihr tuet, es seien nur Windmühlen, und das könne nur der verkennen, der selbst Windmühlen im Kopf habe?“ Daher bezeichnet die Redensart „gegen Windmühlen kämpfen“ heute einen aussichtslosen Feldzug gegen einen unveränderbaren Zustand.
- „Max und Moritz“ müssen nach dem Willen ihres literarischen Vaters Wilhelm Busch ihre Schelmenkarriere in einer Mühle beenden.
- in George Orwells „Farm der Tiere“ spielt die Windmühle und die Erzeugung von elektrischer Energie als umkämpftes Symbol des Fortschritts eine Rolle.
- das erfolgsverfilmte sorbischen Nationalepos “Krabat“ wäre ohne Mühle, Müller und Müllergehilfen gar nicht denkbar.
- Johannes Bobrowski schreibt in seinem Roman „Levins Mühle“, der um 1870 spielt, über ein von Deutschen und Polen bewohntes Dorf an der Drewenz im damals preußischen Polen. Ein Mühlenbesitzer, der Großvater des Erzählers, öffnet ein Wehr und lässt die Bootsmühle eines Juden namens Levin wegschwemmen, damit er einen Konkurrenten weniger hat. Beim darauffolgenden Prozess konspiriert der Großvater mit den anderen Deutschen in den Behörden. Levin unterliegt und zieht mit seiner Lebensgefährtin, einer Zigeunerin, weiter in den Osten. Doch auch der Großvater wird in dem Ort nicht mehr glücklich.
- Mit seinen Erzählungen „Briefe aus meiner Mühle“ hat Alphonse Daudet ein wunderbares Buch über das Landleben verfasst. In seinen Geschichten, die sich in der Nähe einer Mühle abspielen, tummeln sich originelle Personen, die etwa einen wirkungsvollen Kräuterlikör erfinden. Daudet hatte eine Mühle an der Straße nach Arles erworben, damit er dem hektischen Leben in Paris entfliehen konnte.
- Viele Märchen kommen nicht ohne Mühle aus, etwa Ludwig Anzengrubers „Steinklopferhannes“, Ludwig Bechsteins „Der Müller und die Nixe“ oder Clemens Brentanos „Rheinmärchen“.
Und dann – Stichwort Verschüttungen – kam mir Emile Verhaeren (1855 – 1916) mit seinem Gedicht „Die Mühle“ in den Sinn. Ein französisch schreibender belgischer, durchaus sozialbewußter Symbolist von großer Musikalität. Ich erhielt von ihm in den 80er Jahren Kenntnis durch eine Interlinearübersetzung (anders will ichs nicht bezeichnen) von Stefan George. Und machte daraus meine eigene.
Und das war die eigentliche Erinnerung dieses Nachmittags, 25 Jahre danach:
Die Mühle dreht im tiefen Abend leise Auf einem Himmel trauervoll und brach. Sie dreht und dreht unendlich müde Kreise, Ihr hefenfarbnes Segel trüb und schwach.Seit früh hat ihre Arme sie wie klagend Gehoben und gesenkt; und wieder fällt Nun ihr Gebet in den geschwärzten Abend, Im vollen Schweigen der erstorbnen Welt.
Ein weher Wintertag entschläft in Weiten, Müd ist des düstern Zugs der Wolken Front, Die Hecken bergen ihre Schattenseiten, Die Gleise gehn nach totem Horizont.
Armselig stehn am Feldrand ein paar Hütten, Im Kreise hingelagert ihr Gebälk, Das Kupferlämpchen hängt vom Dach inmitten Und wirft auf Wand und Fenster Feuer, welk.
Dort, wo die Ebnen leer und schlafend bleiben Betrachten sie aus karg versteckter Not Mit armen Augen aus zersplissnen Scheiben Der alten Mühle Drehn und stillen Tod.