Wissenschaft als Schachfigur
3. Februar 2021 von Thomas Hartung
Es waren nicht nur Sätze von bemerkenswerter Klarheit, die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende Januar in der Bundespressekonferenz formulierte. Die promovierte Physikerin gab mit diesem Statement offenkundig bedenkenlos zu, dass für sie Wissenschaft nicht (mehr?) wertfrei und objektiv, sondern ideologisch subjektiv aufgeladen ist: „Es gibt in dem ganzen auch politische Grundentscheidungen, die haben mit Wissenschaft nichts zu tun. Mit der Einladung von bestimmten Wissenschaftlern wollen wir auf bestimmte Fragen, die uns interessieren und die nicht politischer Natur sind, Antworten bekommen.“
Genau dies war und ist der Vorwurf von Kritikern, dass eben nur „bestimmte“ Wissenschaftler mit Antworten auf „bestimmte“ Fragen gehört werden und deshalb „bestimmte“ Antworten und „bestimmte“ Entscheidungen herauskommen. Prompt warf der Bundesverband mittelständische Wirtschaft der Bundesregierung vor, sich in der Corona-Krise einseitig beraten zu lassen. Es fehle ökonomischer Sachverstand, sagte Bundesgeschäftsführer Markus Jerger dpa. Bei einem Expertengespräch vor Beratungen von Bund und Ländern sei keiner der fünf „Wirtschaftsweisen“ dabei gewesen, sondern vor allem Virologen. Der nichteingeladene Virologe Henrik Streeck wiederum verkündete in der FAZ stracks: „Die Entscheidungen sind politisch, nicht wissenschaftlich“ – und bestätigte damit Merkel von der entgegen gesetzten Seite der Argumentation.
Die räumte mit ihren Äußerungen faktisch ein, dass ihr Kurs nicht alternativlos ist – dass sie sich aber gegen die Alternative entschieden habe und nur mehr mithilfe von Zirkelschlüssen regiert: Man hat eine politische Linie, lädt nur solche Berater ins Kanzleramt, die diese Linie stützen, und erklärt dem Bürger, die politische Linie werde ja durch die Berater gestützt. Es ist nicht völlig klar, ob man damit vor allem das Volk täuschen will oder sich selbst oder beides – das war ein vollständiger intellektueller Offenbarungseid. Das befand selbst FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki auf Facebook: „Dass sich die Bundeskanzlerin … lieber von selbst ausgewählten Beratern bestätigen lässt, zeigt, dass sie nicht mehr nach dem besseren Weg sucht, sondern den einmal eingeschlagenen Weg durchbringen will. Koste es, was es wolle.“
Der wie üblich medial kaum beachtete Vorgang kann gar nicht laut, oft und drastisch genug kommentiert werden, zeigt er doch, dass seit spätestens 2015 nicht nur das Recht, sondern auch die Wissenschaft massiven Verwerfungen ausgesetzt ist. Corona wirkte insofern wie ein Brennglas, das entzündete, was schon seit längerem in der „scientific community“ schwelt: die ideologische Zurichtung von Erkenntnis, verbunden mit der politisch-medialen Abwertung nicht genehmer Forscher bzw. Forschungsergebnisse sowie akademischer Grade, geklammert von der Geringschätzung der Geisteswissenschaften bei gleichzeitiger Ökonomisierung der Naturwissenschaften.
Absurde Einseitigkeit
So zeugt vor allem der Umgang mit Corona von einer absurden Einseitigkeit, die gepaart ist mit dem beinahe vollständigen Schweigen anderer Wissenschaftler, die es einfach hinnehmen, dass Wissenschaft zur Spielfigur auf dem politischen Schachbrett degradiert wird, oder andernfalls medial totgeschwiegen werden. Allen voran ereifert sich die Hallenser Wissenschaftsvereinigung Leopoldina mit ihren knapp 2000 Mitgliedern, darunter dem Kanzlergatten, und lässt sich willig als Inhaberin der absoluten Wahrheit feiern, indem sie dem Bürger suggeriert, sie sei im Besitze des Wissens, das aus der Pandemiekrise führen werde. Leopoldinas Weisheit letzter Schluss ist der harte Lockdown, wie es in einer Stellungnahme von Anfang Dezember 2020 heißt und der dann auch so umgesetzt wurde. Dass diese Stellungnahme die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit verletzt, ist so evident, dass mit dem Tübinger Professor Thomas Eigner inzwischen ein Leopoldina-Mitglied ausgetreten ist, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, ein Teil dieser Art von Wissenschaft zu sein.
So ist der Begriff „Inzidenz“ ein rein politischer und hat nichts mit dem viel umfangreicheren epidemiologischen Inzidenzbegriff zu tun. Der politische Begriff ist eigentlich nur eine Melderate, doch auf dieser baut die absurde Logik auf, dass zum einen Infiziert gleich krank und krank gleich potentieller Beatmungspatient bzw. potentieller Toter heißt. Sie verkennt zum anderen, dass jeder Symptomlose trotzdem infiziert und damit potentieller Ansteckungsherd sein kann. Hier werden sämtliche medizinischen Maßstäbe ins Groteske gekippt und neben dem wirtschaftlichen Totalschaden des Landes auch sein sozialer Tod in Kauf genommen. Das ist keine Politik, das ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod; und manche lauten Wissenschaftler gerieren sich dabei als Totengräber.
In diesem Zusammenhang muss zu denken geben, dass just mit der Amtsübernahme von Joe Biden und seinem am ersten Amtstag verfügten Wiedereintritt in die Weltgesundheitsorganisation WHO eben diese ihre Richtlinien für die Interpretation von PCR-Tests änderte. Darin heißt es nun, man solle den Schwellenwert, ab dem ein Testergebnis als positiv gilt, unter Umständen manuell anpassen. Ergebnisse, die „gerade so“ noch positiv seien, müssten sehr vorsichtig interpretiert werden. Ein PCR-Test kann also positiv sein – und man weiß dennoch nicht, ob der positiv Getestete nun viele Viren in sich trägt (und vielleicht ansteckend ist) oder ob es nur ganz wenige Virenanteile sind, die lediglich aufgrund einer hohen Zyklenzahl so stark vervielfältigt wurden, dass schließlich ein positives Testergebnis herauskam.
Wenn das Testergebnis nun nicht mit dem gesundheitlichen Zustand des Getesteten übereinstimmt (wenn er positiv ist, aber putzmunter wirkt, also keine Symptome hat), dann muss ein erneuter Test durchgeführt werden, so die WHO. Auf gut Deutsch: Die PCR-Tests sind also überhaupt nicht geeignet, um eine Corona-Infektion zuverlässig festzustellen, vor allem, wenn es sich um Menschen ohne klinische Symptome handelt. Es sind also viel zu viele Menschen aufgrund eines vermutlich falschen Testergebnisses in Quarantäne geschickt worden. Wurden früher Pandemien anhand von Todeszahlen als solche bestimmt, genügen heute die Zahlen von Infizierten. Wie sehr muss eine Regierung ihren „wissenschaftlich begründeten“ Maßnahmen misstrauen, wenn die Bürger in Bussen, Bahnen und an Bahnhöfen ständig mit der Erinnerung an die Maskenpflicht penetriert werden?
„Denn der unaufgeregte Diskurs über Daten und Fakten wurde schnell einer global entfachten Panikstimmung geopfert, die den seriösen Blick der Wissenschaft beiseiteschob, um sich als Propagandawelle in die Gemüter der Menschen zu ergießen“, befindet Fabian Nicolai auf achgut. „Der Bezug auf medizinwissenschaftliche Basisdaten konnte entfallen und das Rudiment als Tatsache verkauft werden“. Mit Prof. Dr. Michael Esfeld stellte ein Leopoldina-Mitglied in einem Protestschreiben fest: „Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen.“ Er hat sogar gefordert, die Akademie solle das Papier zurückziehen, weil es den Anschein erweckte, die Forscher seien sich einig. So ist es aber nicht. „Es gab keine ‚epidemische Lage von nationaler Tragweite‘, wenngleich dies der Bundestag mit Wirkung ab dem 28.03.2020 festgestellt hat“, urteilte jetzt, endlich, ein Weimarer Amtsrichter.
Esfeld habe mit seiner Aussage völlig Recht, dass höchst umstritten ist, ob der Nutzen scharfer politischer Maßnahmen wie ein Lockdown die dadurch verursachten Schäden aufwiegt, so der wissenschaftspolitische Sprecher der Stuttgarter AfD-Fraktion Dr. Bernd Grimmer MdL. „Auch seiner Aussage, dass es ethisch in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Tradition Gründe gibt, grundlegende Freiheitsrechte und die Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten, stimme ich uneingeschränkt zu. So gehört zur Würde des Menschen die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, welche Risiken sie einzugehen bereit ist.“ Das betrifft vor allem die Frage des Impfens: „Die Pandemie wird nicht verschwinden, wenn der Impfstoff zur Verfügung steht. Sie wird dann zu Ende gehen, wenn das Virus alle Menschen gefunden hat“, so der Epidemiologe Klaus Stöhr, Ex-Chef des weltweiten Influenza-Programms der WHO, der leider nur auf Tichys Einblick zitiert wird. Ein Virus ist von Natur aus unbesiegbar, auch wenn das dem Narzissmus der schon länger hier Regierenden ein Dorn im Auge ist.
„verwirrend und irritierend“
Eine andere Facette dieser Einseitigkeit ist das nachgerade totalitäre Wissenschaftsverständnis, wie es jüngst die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, die Heidelbergerin Katja Becker, an den Tag legte. Wer will, dass Virologen „öfter mit einer Stimme sprechen“, und für wünschenswert hält, dass die Wissenschaftler „zunächst untereinander diskutieren und sich dann auf eine gemeinsame Linie verständigen“, offenbart die Sehnsucht nach einer Stromlinienförmigkeit von Erkenntnis, die diese zum Glück nie haben wird. Ihre Würdigung der „Vielstimmigkeit einer wissenschaftlichen Community“ konterkariert sie sofort selbst, wenn sie beklagt, dass diese Stimmen hinterher „oft mühsam wieder in Einklang gebracht werden“ müssen, „wenn es beispielsweise darum geht, politische Entscheidungen zu treffen“. Das sei „bisweilen verwirrend und irritierend, außerdem kostet es zu viel Zeit“.
Da liegt der Hase im Pfeffer. Becker will offenbar ebenso wie Merkel „durchregieren“ und sich der einstimmigen wissenschaftlichen Unterstützung sicher sein: „Das ist ebenso feige wie diktatorisch und nicht nur einer Demokratie unwürdig, sondern befördert ihre Abschaffung von oben“, erboste sich Grimmer und forderte Beckers Rücktritt. Zugleich erinnerte er daran, dass auch der vor Monaten noch führbare Streit zwischen Christian Drosten und Alexander Kekulé gezeigt habe, dass es „die eine“ wissenschaftliche Erkenntnis und Lösung nicht gibt. Nur das immer wiederkehrende Wechselspiel von These und Antithese garantiert fortschreitende Erkenntnis. Noch 1931 versuchten 100 Autoren gegen Einstein, eine „Mehrheitsmeinung“ durchzusetzen, was diesen sinngemäß zu der Aussage veranlasst haben soll: „Gleich 100? Wenn sie Recht hätten, würde doch einer genügen“. Wie dieser Streit ausging, ist bekannt.
Doch die kritische Überprüfung von Forschungsergebnissen wird nicht mehr als notwendiger Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens gesehen, sondern als Störfaktor auf dem Weg zur absoluten Wahrheit, die zu einer idealen linken Gesellschaft führt. „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“, hieß es bis 1990. Wir sind entsetzlicherweise auf dem Weg in ein Gemeinwesen, das genau solche Verdikte über die wissenschaftliche Erkenntnis stellt. Becker hatte sich schon Anfang August 2020 disqualifiziert, als unter ihrer Verantwortung ein selbst in Auftrag gegebenes Videostatement des Kabarettisten Dieter Nuhr zum 100. DFG-Gründungsjubiläum nach einem Shitstorm auf den Seiten der DFG feige gelöscht wurde. Dieses Phänomen der „Cancel Culture“ begann spätestens 2017 mit der Absage eines zuwanderungskritischen Vortrags über den „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“ an der Frankfurter Goethe-Universität durch die Ethnologin Susanne Schröter. Reden sollte der Bundesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, doch 60 von Schröters Kolleginnen und Kollegen hatte in einem offenen Brief die Wiederausladung des Gewerkschaftsmannes gefordert und sich durchgesetzt.
Eine bereits 2018 durchgeführte Befragung von 932 Studenten der eher linken Sozialwissenschaften in Frankfurt brachte jüngst den alarmierenden Befund, ein Drittel bis die Hälfte der Befragten dagegen sind, Redner mit abweichenden Meinungen zu den am meisten umstrittenen Themen Islam, Geschlecht und Zuwanderung an der Hochschule zu dulden. Noch höher ist der Anteil derer, die solchen Personen keine Lehrbefugnis geben würden, wiederum ein Drittel will ihre Bücher aus den Bibliotheken verbannen. Eine derartige Haltung ist nicht mehr weit von der Bücherverbrennung aus unseligen Zeiten entfernt. Die Toleranz für andere Ansichten war unter den sich als links bezeichnenden Studenten außerdem deutlich geringer als im konservativen Spektrum. Die Studienautoren Revers und Traunmüller erkennen in den restriktiven Sprachcodes, gewalttätigen Protesten gegen kontroverse Vortragende und im Wunsch nach Demission unliebsamer Professoren einen „klaren Indikator für die entsetzliche Zukunft der Meinungsfreiheit“ insgesamt – und der Wissenschaftsfreiheit, muss man hinzusetzen.
Prompt hat sich heute ein Netzwerk gegründet, das Wissenschaftler bei umstrittenen Forschungsthemen unterstützen soll, falls sie sich nicht mehr Positionen einzunehmen getrauen, die zum Mainstream divergieren. „Versuchen Sie mal in einem biologischen Seminar über Genetik und Vererbung zu sprechen sowie über die Frage, wie weit Weiblichkeit etwas Angeborenes oder etwas kulturell Anerzogenes ist … Die Lockerheit und Entspanntheit im freien gemeinsamen gedanklichen Experimentieren ist bei den wirklich wichtigen politischen Themen verloren gegangen“, so die Philosophin Maria-Sibylla Lotter im Cicero.
„Es ist empörend, dass die Furcht vor medialen Empörungswellen so immens ist, dass die Wissenschaftler lieber schweigen“, befindet Grimmer und spricht von einer „Trendwende im Kampf um die Meinungsfreiheit“. Dass Wissenschaft zum Schweigen gebracht wird, sei zwar kein neues Phänomen, doch würde es jeder Demokrat einem diktatorischen Regime zuschreiben. „Doch diese demokratieunwürdigen Verhältnisse sind nun auch bei uns angekommen. Die Freiheit der Lehre und Wissenschaft aber ist ein Grundrecht, das nicht verwehrt werden kann. Dass sie sich zusammenschließen, um für etwas zu kämpfen, was eigentlich selbstverständlich sein müsste, ist ein untragbarer Zustand“, so Grimmer.
„Droh- und Schmähanrufe“
Im Gegenzug allerdings werden andere, politisch erwünschte Forschungsgebiete geradezu „gehypt“. Laut dem im Dezember verabschiedeten Bundeshaushalt für das Jahr 2021 soll der Etat für Bildung und Forschung zwar von 18,2 auf 20,8 Milliarden Euro steigen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sah jedoch in ihrer Rede im Bundestag im Fokus von Bildung und Wissenschaft: die Bewältigung der Corona-Pandemie, die digitale Bildung, die Mitgestaltung von Schlüsseltechnologien, darunter die Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie, und – die Klimaforschung.
Klimaschützer hätten sich mit ihrem Engagement für eine nachhaltigere, lebenswertere Welt hinter der Wissenschaft verschanzt, befindet Welt-Chef Ulf Poschardt. „Sie haben eine tolle Meinung und sagen nur zwei Sachen: Pariser Abkommen einhalten und ‚listen to the science‘. Die Wissenschaft – oder, genauer, der besonders alarmistische Teil – wird als der Weisheit letzter Schluss präsentiert, sie dürfe auch demokratische Kompromissformeln und gesellschaftliche Prozesse infrage stellen. Es ist kein Zufall, dass die aktuellen Lockdown-Fetischisten im Zweifel die Bekämpfung der Corona-Krise mit der Bekämpfung der Klima-Krise vergleichen.“
Der renommierte Klimaforscher Hans von Storch bezweifelt im Spiegel, „dass junge unausgebildete Leute in Nordeuropa beurteilen können, was Regierungschefs … tun oder nicht tun – geschweige denn welche schwierigen Abwägungsprozesse in den einzelnen Ländern ablaufen. Was die jungen Klimaaktivisten anbieten, ist ein wilder Mix aus Fakten und Spekulationen. … Früher war ein Sturm einfach ein Sturm, heute gilt er manchen als ein Vorbote des Weltuntergangs.“ Allein die Helmholtz-Gemeinschaft verzeichnete allein 2013 für die Klimaforschung 450 Mio. Euro Fördermittel, davon 325 Mio. Programm- und 125 Mio. Drittmittel.
Als Ex-US-Vize Al Gore quasi über Nacht zum „Papst in Sachen Global Warming“ wurde, „war die Klimawissenschaft mit dem Virus der Politik infiziert. Der ist tödlich, denn in der Wissenschaft geht es um Wahrheit, in der Politik aber um Mehrheit. Als Folge davon ist heute eine sachliche Untersuchung der Physik der Erdatmosphäre nicht mehr möglich“, so der Kernphysiker Hans Hofmann-Reinecke auf achgut. Er erkennt weltweit entstandene Institutionen, „welche die Unterstützung der Mächtigen genießen und dafür pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigungen derer Politik liefern. Solche Arbeit ist nicht von Selbstkritik geprägt, sondern von der Hexenjagd auf externe Kritiker, die ihren Schwindel aufdecken könnten. Aber Selbstkritik wäre hier dringend notwendig, denn die zu messenden Effekte sind so schwach, dass man sich leicht selbst zum Narren halten kann“.
Ein anderes politisch erwünschtes Forschungsgebiet sind die „Gender Studies“, von denen sich Deutschland knapp 300 Lehrstühle und Zentren leistet. Wurden von 1995 bis 2005 hierzulande 663 Professorenstellen in den Sprach- und Kulturwissenschaften trotz steigender Studentenzahlen eingespart, hat sich das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen für die Gender-Studies höchst großzügig gezeigt und allein zwischen 1986 bis 1999 an 21 Hochschulen 40 Professuren für das „Netzwerk Frauenforschung NRW“ neu geschaffen, darunter auch eine für „feministische Ökonomie“ in Münster. Wie streng die Sanktionen gegen Andersdenkende sind, erfuhr 2004 ein Professor an einer deutschen Universität, der in einem Essay Gender-Mainstreaming als totalitäre Steigerung der Frauenpolitik bezeichnet hatte. Der Wissenschaftsminister untersagte ihm unter Androhung disziplinarischer und strafrechtlicher Konsequenzen, Derartiges weiter zu publizieren. „Diskutieren wollte niemand, dagegen bekam ich anonyme Droh- und Schmähanrufe sowie soziale Distanzierungen und Ridikülisierungen“, sagt der Wissenschaftler anonym dem Handelsblatt.
„Stünde es um die akademische Freiheit, um die Freiheit des Denkens und Forschens, nicht besser, wenn es diese Katheder mit ihrer behaupteten Allzuständigkeit nicht gäbe“, fragt Alexander Kissler im Focus. „Dort werden Waffen geschmiedet im Kampf gegen das Männliche als Prinzip, Form und Person, mal auf grammatikalischen, mal auf diskurspolitischen Wegen.“ Der Linguist Peter Eisenberg erkennt, dass der Streit über Sinn und Unsinn von Bemühungen um einen Umbau des Deutschen zur geschlechter- oder gendergerechten Sprache auch die Mitte der Sprachwissenschaft erreicht habe, und empört sich über die Abschaffung des generischen Maskulinums der Duden-Redaktion. „Der Duden vertritt nicht die Sprache, wie sie ist, sondern er will die Sprache umbauen. In dieser Offenheit, in dieser Dreistigkeit hat es das bisher nicht gegeben“, sagte er dem NDR.
Der Duden bildet sich offenbar ein, er könne auf diese Weise den allgemeinen Sprachgebrauch manipulieren, um dann festzustellen, der Gebrauch habe sich verändert und er folge ihm: „Man kann das nur als skandalösen Fälschungsversuch bezeichnen“, so Eisenberg. Damit würde der Gegenstand der Sprachwissenschaft desavouiert, seine Bedeutung für die Disziplin als empirische Wissenschaft negiert, ja ihr buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. „Hier versucht ein winziges Häuflein pseudofeministischer Sprachmoralisten, den allgemeinen Sprachgebrauch zu beeinflussen, eine wissenschaftlich einseitige Sichtweise zu propagieren und damit in eine ideologisch genehme Richtung zu lenken“, empört sich auch die Stuttgarter gleichstellungspolitische AfD-Fraktionssprecherin Carola Wolle MdL. „De facto aber besitzt nicht der Duden die Deutungs- oder gar Definitionshoheit über die deutsche Sprache, sondern allein die Sprachgemeinschaft der rund 100 Millionen deutschen Muttersprachler weltweit.“
„Mitglieder mit Rückgrat“
Abwertungsindizien finden sich vor allem im Umgang mit akademischen Graden. Während Freiherr zu Guttenberg und Annette Schavan (Union) noch gehen mussten und überdies deren Doktortitel aberkannt wurden, darf Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) weiter Karriere machen und ihren zunächst behalten. Die Ankündigung der erneuten Prüfung ihrer Doktorarbeit durch den Präsidenten der Freien Universität FU Berlin, Günter M. Ziegler, kann man nur „akademische Schande“ nennen: er sagte allen Ernstes, es werde „ergebnisoffen“ geprüft. „Wieso muss diese Selbstverständlichkeit betont werden“, wundert sich Grimmer und fragt sich, was als nächstes folgt: „Ergebnisoffene Forschung? Promotionsverfahren, bei denen politische Kontakte keine Rolle spielen? Auch der Satz, dass die Mitglieder der neuen Prüfungskommission alle ‚Mitglieder mit Rückgrat sein‘ werden, lässt tief blicken: hatten die alten keins? Oder steht wegen der politischen Prominenz der Kandidatin zu befürchten, dass nicht genehme Ergebnisse karrierehindernd wirken könnten? Diese Wortwahl ist ebenso entlarvend wie empörend und eines deutschen Universitätspräsidenten unwürdig.“
Daneben verweist Grimmer darauf, dass die Giffey-Debatte schon viel zu lange und vor allem grundsätzlich falsch geführt wird. „Die erste Reaktion der FU auf Giffeys Plagiat, nämlich nur eine Rüge auszusprechen, also faktisch gar nichts zu tun, war bereits unrechtmäßig, weil es für die Rüge schlicht an einer Rechtsgrundlage fehlt und es die im Promotionsverfahren gar nicht gibt. Schon hier wäre nur die Aberkennung in Frage gekommen“. Es sei verlogen, auf den Doktortitel zu verzichten und ihn künftig nicht mehr zu führen mit der Begründung „Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel.“
Denn bislang stand dieser Titel für wissenschaftliche Gründlichkeit, akademische Reife, die Fähigkeit selbstständigen und akribischen Forschens und dafür, der allgemeinen Nivellierung unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Prompt schlug der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Steffen Huck in der Zeit vor, den Doktortitel zugunsten eines Peer-Review-Publikationsprozesses abzuschaffen, weil er „bloß die Macht von Betreuern, Bürokraten und Erbsenzählern“ sichere. Die auf Giffey & Co. gemünzte Begründung, dass der Welt „Skandale wie dieser Tage endlich erspart“ blieben, ist dabei ebenso kurzsichtig wie nivellierend. Wir haben schon das Geschlecht abgeschafft, jetzt auch den Doktortitel – wozu eine Goldmedaille, wenn dabei sein alles ist? „Diese Begründung wäre eher eine Kapitulation vor den Scharlatanen“, meint Grimmer.
Das Problem ist nicht der Doktortitel, sondern wie leicht bzw. mit wie wenig Aufwand er teilweise erworben werden kann – angesichts von „Promotionsagenturen“, Ghostwritern usw. muss man sich für seine Redlichkeit scheinbar schon rechtfertigen. Einer Recherche des ARD-ZDF-Content-Netzwerks Funk zufolge schreiben inzwischen ukrainische Ghostwriter gar schon Bachelorarbeiten für deutsche Studenten. Zwischen 900 und 2.700 Euro kostet eine 30-seitige Arbeit; der Autor sieht davon kaum 20 %. Wenn man also wissenschaftlich Unbrauchbares abschaffen will, müsste man zuerst den Bachelorgrad diskutieren, ist sich Grimmer sicher. „Denn er führt üblicherweise nicht zu Publikationen und lähmt das System mit massenhaften Modulprüfungen – oft genug für Studenten, die sich weder für Forschung interessieren noch irgendein Talent dafür haben.“
Hinzu kommt, dass die Peer-Review-Praxis in den letzten Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt ist. Einerseits gibt es auch bei den Peer-Reviewed Journals Zitier- und Gefälligkeitskartelle, ja den Editor und Forscher in Personalunion. Der niederländische Wissenschaftsverlag Elsevier hat 2019 in seinen Journalen in 433 Fällen wissenschaftliches Fehlverhalten von hunderten Peer-Reviewern gefunden. Andererseits haben jüngst Autoren zwei große Studien zu COVID-19 zurückgezogen, obwohl sie nach Peer Reviews in hochrangigen Journals veröffentlicht worden waren.
Zudem geht dank Preprint-Servern wie bioRxiv und medRxiv die Veröffentlichung eventuell bahnbrechender Studienergebnisse viel schneller. Mehr als 3300 Studien zu Corona sind bisher auf bioRxiv veröffentlicht worden; die meisten politischen Entscheidungen in Zusammenhang mit dem Umgang mit SARS-CoV-2 stützen sich in erster Linie darauf. Publikationsdruck wie gerade der einer Promotion führt da nur zu Fehlanreizen und könnte damit tatsächlich die Abhängigkeit junger Wissenschaftler von ihren Betreuern vergrößern statt im Gegenteil zur wissenschaftlichen Emanzipation der Promovenden beizutragen. Eine Dissertation ist mehr als nur eine Anhäufung von ein paar Aufsätzen, weil die geistige Architektur, die man dafür errichten muss, viel komplexer und größer ist.
„Brotgelehrter als Symbol von Enge“
Wer promoviert, weist auch nach, sich unbekannte Inhalte strukturiert anzueignen, zu kontextualisieren, damit sich und sein Denken auf ein höheres Niveau zu heben. Auf diesem Potential beruhte gerade in den Naturwissenschaften die Stärke unseres Landes. Man geht doch auch nicht aufs Gymnasium, um dann kein Abitur zu machen. Eine solche Selbstbeschneidung kann nicht im Sinne unseres nationalen Wohlergehens sein. Doch „Selbstbeschränkung und Meinungskonformismus“ konstatiert selbst der Hamburger Historiker Christoph Ploß, der für die CDU im Bundestag sitzt. In Teilen der Wissenschaft werde immer stärker infrage gestellt, andere Meinungen anzuhören und diese als Gedankenanstoß zu empfinden, weil „Kraft und Mut“ fehlten: „Dabei wären gerade in Zeiten schnelllebiger Meinungskonjunkturen und einer Flut von Fake News grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft wichtiger denn je“, schreibt er im Cicero.
Vor allem der Drittmittelzirkus würde zu einem selbstreferentiellen bürokratischen System führen, das das „Interesse, aus den eigenen akademischen Echokammern herauszutreten und mit einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren“, sinken ließe. Das beklagte in der Tagesstimme auch Ex-Lehrerverbandschef Josef Kraus: „Die Fragen der Universitätspolitik lauten nämlich heute: Wie gestalten wir Forschung und Wissenschaft so, dass wir einen praktischen Nutzen davon haben? Wie kommen wir an Drittmittel? Wie schaffen wir es, in den Rang der Exzellenz-Universität zu kommen? Wie kann Hochschule zu einem betriebswirtschaftlich-kundenorientierten Dienstleister werden?“ Für Ferdinand Knauss hat sich auf Tichys Einblick die Politisierung des Lehr- und Forschungsbetriebs im Dienste bestimmter ideologischer Botschaften aus den Sozial- und Kulturwissenschaften auch schon in die Naturwissenschaften ausgebreitet.
Solche Konzentration auf Quantitäten und Verwertbarkeit ist falsch; eine Reduktion von Bildung und Wissenschaft auf bloße Qualifikationen und Kompetenzen hinterlassen ein Vakuum. Nur der umfassende Gebildete aber ist frei und mündig, weil er sich gelegentlich zurücknehmen und reflektieren kann: „Wissenschaft schafft Wissen, nicht Maschinen oder Reichtum“, weiß Hofmann-Reinecke. Vor diesem Hintergrund – Gender-Studies einer- und Klimaforschung andererseits zum Trotz – muten das Selbst- und Fremdverständnis um unsere Geisteswissenschaften befremdlich an: Von den insgesamt 48.547 Professoren des Jahres 2019 stellten die Geisteswissenschaften nur 4.693. Zum Vergleich: 14.527 waren es in den Rechts-/ Wirtschafts-/ Sozialwissenschaften, 12.535 in den Ingenieurswissenschaften, 6.456 in Mathematik und Naturwissenschaften, 4.442 in der Medizin…
Gewiss garantieren die Natur- und Ingenieurswissenschaften Wertschöpfung, ohne die ein differenziertes Bildungswesen nicht finanzierbar ist. Aber es sind die Geisteswissenschaften, vor allem die Philosophie, die Theologie, die Geschichtswissenschaften, die Literatur- und Sprachwissenschaften, die Orientierungsverluste der nihilistischen Moderne mit ihrem „anything goes“ und „alternative“, in Kommunikationsblasen verbreitete Fakten ausgleichen beziehungsweise widerlegen helfen, ist sich Kraus sicher. Diese Ideologien bedeuten nämlich Beliebigkeit. Fehlende traditionelle Sinnbezüge mögen als „unmodern“ gelten, aber sie hinterlassen Orientierungslosigkeit. Geisteswissenschaften erbringen ihre besondere Leistung als historisch-erinnernde, als Werte- und Geltungswissenschaften. Sie tragen dazu bei, das eigene Menschsein zu verstehen, zu entfalten und zu gestalten.
Der Mensch ist eben nicht nur ein möglichst gut funktionierender „homo oeconomicus“, sondern ein historisches, sittliches, sprachlich-ästhetisches, sinnsuchend-religiöses Wesen und ein „zoon politikon“. Er bedarf des übernützlichen Sinns. Das heißt für Kraus: Eine Reduktion von Bildung und Wissenschaft auf bloße Qualifikationen und Kompetenzen hinterlassen ein Vakuum. Nur der umfassende Gebildete aber ist frei und mündig, weil er sich gelegentlich zurücknehmen und reflektieren kann. Friedrich Schiller hatte in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789 mit dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ die faustische Kernaussage getätigt: Der Brotgelehrte ist Symbol von Enge, der philosophische Kopf erforscht, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.“ Diese Einheit ist nicht mehr gewollt, Diversifizierung und Dekonstruktion sind die aktuellen Rezepte zur Medikamentation eines karzinogen verstandenen Wissenschaftsbetriebs, der überdies seit Monaten auf Präsenz verzichtet und Studenten allein lässt.
Das Fazit ist mehr als bitter. „In den letzten Jahren sind wir Zeugen eines vollendeten Schulterschlusses aus Politik, Wissenschaft und Medien geworden, der die zur gegenseitigen Kontrolle notwendige kritische Distanz zum Staat und seiner Regierung restlos nivellierte“, bilanziert Nicolai. Dazu habe sich ein widerstandslos anbiederndes Großunternehmertum gesellt, das „im Appeasement-Modus nicht ungeübt mit den Gretas und Luisas dieser Welt“ sei, was „zur Gleichschaltung der Antagonisten geführt“ habe.
Für den 2018 an der TU Berlin in den (Un-)Ruhestand verabschiedeten Medienphilosophen Norbert Bolz lassen sich immer mehr Wissenschaftler dazu überreden, ihre Prognosen als Gewissheiten anzubieten. In seinem Bändchen „Avantgarde der Angst“ fällt auch der Begriff der „Gefälligkeitsforschung“ sowie der Satz „Als Prophet wird der Wissenschaftler zum Demagogen und Journalisten.“ Solche „Propheten des Elends“ würden aber nicht als „beamtete Scharlatane“ psychoanalytisch behandelt, sondern politisch und medial geadelt. Wer weiß, wie dieser neuen Ständegesellschaft zu entkommen ist, dürfte gute Chancen auf die nächste Kanzlerschaft haben.