Der Unvollendete
27. März 2021 von Thomas Hartung
Manche Porträts sind so ikonographisch geworden, dass sie das Bild des porträtierten Künstlers bis in die Moderne hinein prägen. Sein kurz vor seinem frühen Tod am 28. März vor 140 Jahren von Ilja Repin gemaltes gehört dazu: Ein aufgedunsenes Gesicht mit wirren Haaren, zerzaustem Bart, unstetem Blick und roter Säufernase über einem viel zu massigen Körper, den ein schwerer grauer Mantel mit rotem Kragen umweht, der einen Blick auf das handbestickte Unterhemd gewährt. 20 Jahre zuvor war der Kadett noch ein umworbener Mädchenschwarm. Er ging ein in die Musikgeschichte als der Erneuerer der russischen Romantik: Modest Mussorgsky.
Der Gutsherrensohn wurde am 21. März 1839 in Karewo im Gouvernement Pskow etwa 290 km südwestlich von Sankt Petersburg nahe der Grenze zu Estland geboren und verbrachte eine sorgenfreie Jugend. Er lernte von seiner Mutter und einer deutschen Erzieherin sowie später weiteren Lehrern das Klavierspiel, beherrschte mit sieben Jahren bereits kurze Stücke von Franz Liszt und spielte mit neun Jahren vor einem zahlreichen Publikum in seinem Elternhaus sein erstes Konzert. 1852 trat er in die Kadettenschule in St. Petersburg ein, wo er sich besonders mit Geschichte und Philosophie beschäftigte, im Schulchor sang und sich mit russischer Kirchenmusik des frühen 19. Jahrhunderts beschäftigte. Seine erste, seinen Mitschülern gewidmete Komposition „Porte-enseigne Polka“, wurde auf Kosten seines Vaters gedruckt. In den Kasinos rühmte man ihn als glänzenden Tänzer und Pianisten, dandyhaft im Auftreten.
Höchst folgenreich für Mussorgsky war im Winter 1856/57 die Begegnung mit Milij Balakirev, der dank privater Unterstützung als Musiker leben konnte. Mussorgsky begann, bei dem drei Jahre älteren Freund Kompositionsunterricht zu nehmen, und wurde von ihm stark beeinflusst. Bald gehörte er zu dem sich um Balakirev formierenden, zunächst geheimen Kreis gleich gesinnter Komponisten, die das Ziel hatten, die russische Kunstmusik unter Einbeziehung der Volksmusik, der besonderen Charakteristik der Sprache, realistischer Sujets und nationaler Themen zu reformieren: Alexander Borodin, Cesar Cui und Nikolaji Rimsky-Korsakow, die sich fortan „Die Fünf“ oder auch „Das mächtige Häuflein“ nennen. Es waren allesamt Musikliebhaber, bewusste Dilettanten, die gegen den akademischen Professionalismus kämpften und aus dem Volkstum Russlands etwas Neues schaffen wollten. Die Bewegung zerbrach letztlich daran, dass das Bürgertum zunächst keinerlei Verständnis für sie aufbrachte.
1856 dem Preobraschenski-Garderegiment beigetreten, verließ es Mussorgsky nach einer Krise im Juli 1858 wieder, um sich der Musik zu widmen. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Februar 1861 änderten sich Mussorgskys Lebensverhältnisse von Grund auf, seine Einkünfte aus dem Gutsbesitz fielen weg. Nunmehr mittellos zog er 1863 in St. Petersburg in die WG der „Fünf“ und nahm im Dezember desselben Jahres eine untergeordnete Beamtenstellung an, parallel dazu arbeitete er als Konzertpianist. Mit kleineren Veränderungen verblieb Mussorgsky 17 Jahre lang im Staatsdienst und musste seine Zeit mit dem stupiden Abschreiben von Akten verbringen, so zuletzt in der Forstwirtschaftsabteilung des Ministeriums für Staatsbesitz.
„vom Dämonischen bis zu himmlischer Verklärung“
Es ist naheliegend, dass der Widerspruch zwischen seinem Schaffensdrang und der stumpfsinnigen Tätigkeit, zu der er sich gezwungen sah, seinen Hang zum Alkoholismus fatal verstärkte. Die Alkoholkrankheit zeigte sich schon im Herbst 1865 äußerst bedenklich, als Mussorgsky einen akuten Anfall von Delirium tremens erlitt, ausgelöst durch den Tod seiner Mutter. Sein Bruder Filaret holte ihn unter Zwang aus der musikalischen Kommune heraus und ließ ihn bei sich auf dem Land wohnen, wo sich Mussorgsky insbesondere mit Orchesterwerken beschäftigte. 1867 gelang ihm mit der sinfonischen Dichtung „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ das erste völlig eigenständige Orchesterstück.
Mussorgski beschreibt darin den Tanz der Hexen in der Johannisnacht auf dem Lyssaja gora („kahlen Berg“), einem Ort der slawischen Mythologie, der ähnlich dem Blocksberg als Versammlungsort der Hexen gilt. Allerdings stieß das Werk auf massive Ablehnung durch die Komponisten-Kollegen: Balakirew vermerkte in der Partitur mehrfach „unsinnig“. Mussorgski verteidigte sein Werk in einem Brief an Rimski-Korsakow vom Juli 1867. Dennoch wagte er es in der Folgezeit nicht mehr, sich um eine Aufführung zu bemühen, und komponierte auch keine weiteren Orchesterwerke mehr.
Für Wilhelm Zentner ist Mussorgskij „eine ebenso elementare musikalische wie dramatische Begabung“. Seine persönliche Handschrift zeigt sich in Elementen, die im traditionellen Komponieren keinen Platz haben, darunter ungewöhnliche Akkordverbindungen, eine schroffe, gelegentlich modal-altertümlich, ja asiatisch anmutende Harmonik oder eine eigenwillige Instrumentation. Wegen solcher scheinbarer Fehler oder Ungeschicklichkeiten wurde Mussorgsky im Freundeskreis und darüber hinaus als Stümper oder Dilettant belächelt. Dabei sind es gerade diese besonderen Charakteristika, die seiner Musik ihre spezifische Eindringlichkeit und Kraft verleihen und mit denen er auf spätere Komponisten wie Debussy und Ravel gewirkt hat. Die Oper „Die Heirat“ (1868) blieb wie viele andere Stücke Fragment. Mit „Die Kinderstube“ (1868–72) begann er zugleich einen von mehreren Zyklen mit Klavierliedern.
Mussorgskys Hauptwerk ist die Oper „Boris Godunov“, die in erster Fassung in den Jahren 1868/69 entstand und 1872 noch einmal wesentlich erweitert und bearbeitet wurde. Von der Uraufführung 1874 an wurde sie mehrere Jahre lang regelmäßig am Marinskij Theater gespielt, dann aber aus dem Spielplan gedrängt, auch weil die Oper als politisch bedenklich eingestuft wurde. Vom Komponisten „musikalisches Volksdrama“ genannt, variiert sie Motive des gleichnamigen Dramas von Alexander Puschkin. Die historische Person Boris Godunow war russischer Zar von 1598 bis 1605 und gilt in der monarchistischen Geschichtsperspektive als Usurpator, der allerdings von der damaligen Volksvertretung gewählt worden war. Sie kam erst nach mehrmaliger Ablehnung durch die Leitung des Mariinsky Theaters und dann in veränderter Form dort auf die Bühne – nötigte aber doch auch den Gegnern Hochachtung ab. Peter Tschaikowsky freilich beschied der Oper: „Sie ist eine gemeine, niederträchtige Parodie auf die Musik.“
Mussorgsky kombinierte in seiner Oper Realistisches mit Rituellem, Humoristisches mit Psychologischem und hat wie Richard Wagners „Tristan und Isolde“ „zukunftweisend und anregend auf die Entwicklung der Oper gewirkt“, befindet Zentner. Seine Tonsprache und ihre faszinierende Wirkung entzögen sich rein verstandesmäßiger Deutung: „Staunenswert ist die Spannweite dieser Musik, die von der naiven Kinderweise bis zu wildester Leidenschaft, vom derbsten Humor bis zu keuschester Verinnerlichung, vom Dämonischen bis zu himmlischer Verklärung reicht und für alles den natürlichsten, treffendsten Ausdruck findet.“ Durch die Verwendung von Kirchentonarten, den vermehrten Einsatz von Chromatik sowie die realistische Darstellung des Volkes und seiner Reaktionen fällt der Chor aus dem zeitgenössischen Rahmen damals in Russland beliebter ausländischer Opern (z. B. Giuseppe Verdis), aber auch der Romantik eines Tschaikowski.
„kein Platz für Gesetze“
1873 stirbt der Maler und Architekt Viktor Hartmann, ein guter Freund Mussorgskys. Zu seinem Andenken wird in St. Petersburg eine Ausstellung mit Hartmanns Werken organisiert: Da hängen die „Hütte der Hexe Baba-Yaga“, die finsteren „Katakomben von Paris“ oder auch das prächtige „große Tor von Kiew“. Er sieht die Bilder an, und in seinem Inneren verwandeln sie sich in Musik – in Tongemälde. Er geht nach Hause, setzt sich ans Klavier und komponiert eine musikalische Galerie, wo sie alle wieder hängen: Die „Bilder einer Ausstellung“. Daneben vollendet er mit „Ohne Sonne“ (1874) und „Lieder und Tänze des Todes“ (1874–77) nach Gedichten von Alexej Tolstoi zwei weitere Liederzyklen.
1878/79 raffte er sich trotz schwerster Alkoholprobleme zu einer dreimonatigen Konzertreise zusammen mit der Altistin Daria Leonowa in die Ukraine, die Krim und zu Städten an Don und Wolga auf. Am 13. Januar 1880 musste Mussorgsky den Staatsdienst wegen seiner Trunksucht verlassen, erhielt jedoch unter der Bedingung, dass er seine halbfertige Oper „Chowanschtschina“ zu Ende bringe, eine Pension von 100 Rubel zugebilligt. Doch sowohl die als auch die komische Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ (1876–78) nach einer Erzählung von Nikolai Gogol bleiben unvollendet.
In seinem letzten Lebensjahr lebte er teilweise bei Daria Leonowa auf ihrem Landgut, arbeitete als Begleiter und Theorielehrer in der von ihr gegründeten Musikschule in St. Petersburg. Ende Februar 1881 wurde er in das Nikolajewski-Krankenhaus eingeliefert und starb nach einer scheinbaren Erholung Mitte März, während der Repin sein berühmtes Bildnis malte, am 28. desselben Monats nach einem Schlaganfall. Ihm zu Ehren tragen seit 1961 die Mussorgsky Peaks seinen Namen, zwei Berge auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis. Auch eine russische Münze zeigt sein Porträt. Seine Kompositionen haben ihren Siegeszug durch die Konzertsäle und Opernhäuser der Welt in der Regel nicht in der Gestalt angetreten, die Mussorgsky ihnen gegeben hat, sondern in Bearbeitungen, die tief in ihre Substanz eingreifen. Viele wurden durch seinen Freund Rimski-Korsakow bearbeitet und „korrigiert“, so „Chowanschtschina“.
Die „Bilder einer Ausstellung“ sind von mehreren anderen Komponisten orchestriert worden; die bekannteste Version stammt von Maurice Ravel. Aber auch in der elektronischen (Isao Tomita) und Rockmusik (Emerson, Lake & Palmer, Stern Meißen) sowie in mehreren Filmen wurden der Zyklus sowie Themen anderer Kompositionen gern adaptiert, so in Disneys Zeichentrickfilm „Fantasia“ oder Monty Pythons „Jabberwocky“. Zu allem Überfluss wurde Mussorgskys Schaffen in den Debatten um den Sozialistischen Realismus, zu dessen direktem Wegbereiter der Komponist erklärt wurde, hemmungslos instrumentalisiert. Er selbst formulierte das Credo seines Schaffens so: „Wo es sich um Menschen, um Leben handelt, da ist kein Platz für vorgefasste Paragrafen und Gesetze.“